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Krieg und Gewalt im Theater Heiner Müllers

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Peter Weiss Jahrbuch 7

Zusammenfassung

Wer war Heiner Müller?1 Der letzte Mohikaner eines untergegangenen vermeintlich realen Sozialismus, der blutrünstige Endspiele einer marxistischen Revolution lustvoll inszenierte? Der letzte Erbe Brechts, der die Tradition der Lehrstücke nach dem Wegfall des geschichtsphilosophi-schen Optimismus mit zynischer Freude in einem menschenverachtenden Eiszeitlaboratorium weiterführte? Oder war er ein Nachfolger der Untergangspropheten der zwanziger Jahre, ein postmarxistischer Oswald Spengler, der die kapitalistischen Sieger mit stalinistischen Apokalypsen provozierte? Oder der Repräsentant einer DDR-Variante des ästhetischen Militarismus, ein ostdeutscher Ernst Jünger, der den Kampf als inneres Erlebnis in schockierenden Darstellungen der kommunistisch inspirierten Vernichtungsorgien suchte und fand? Ein Experte für Dämonen unterm roten Stern, der mit unheimlicher Lust das Ende jeder Aufklärung in Szene setzte? Oder doch ein Marxist auf dem Theater, der angesichts des Ver-lusts aller revolutionären Gewißheiten die illusionslose Schilderung der heillosen Wirklichkeit mit einer verzweifelten Suche nach den verlorenen Resten der aufklärerischen Utopie verband?

Erweiterte Fassung meiner Antrittsvorlesung vom 3.12.1997 vor der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

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Anmerkungen

  1. Zur Forschungsdiskussion um Heiner Müller vgl. Genia Schulz: Heiner Müller. Stuttgart 1980; Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie. Paderborn u.a. 1989; Frank-Michael Raddatz: Dämonen unterm Roten Stern. Zu Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers. Stuttgart 1991; Theo Buck und Jean-Marie Valentin (Hrsg.): Heiner Müller — Rückblicke, Perspektiven. Vorträge des Pariser Kolloquiums 1993. Frankfurt/Main u.a. 1995;

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  2. Gerhard Fischer (Hrsg.): Heiner Müller. ConTEXTS and HISTORY. A Collection of Essays from the Sydney German Studies Symposium 1994. Tübingen 1995;

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  3. Klaus Theweleit: Heiner Müller: Traumtext. Basel, Frankfurt/Main 1996;

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  4. Wolf Kittler: Laws of War and Revolution: Violence in Heiner Müller’s Work. In: Bernd Hüppauf (Hrsg.): War, Violence and the Modern Condition. Berlin, New York 1997.

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  5. Heiner Müller: “Jenseits der Nation”. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz. Berlin 1991, S. 37.

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  6. Genia Schulz faßt den Inhalt des Stücks so zusammen: “In den frühen 20er Jahren der Sowjetunion steht ein Henker vor dem Tribunal, der im Auftrag der Partei ‘Feinde der Revolution’ getötet hat, zu denen B, sein Vorgänger im Amt, gehört, der liquidiert werden muß, weil er einen Bauern, den er als ‘Feind’ erschießen sollte, laufen ließ, weil er im ‘Feind’ den Klassenbruder erkannte, das verängstigte und unterdrückte Volk. Auch A beschleichen während seiner ‘Arbeit’ Zweifel, doch die Partei entläßt ihn nicht aus seinem Auftrag, weil jeder Revolutionär seine Pflicht an dem Ort zu erfüllen hat, an den ihn die Revolution gestellt hat. A spürt an sich Veränderungen: Er wird zunehmend zur gefühllosen Maschine. Aber auch die erneute Bitte um Entlassung erfüllt ihm die Partei nicht. Mehr noch: Sie verweigert ihm sogar letzte Gewißheit über den Sinn seiner Arbeit. .. A tötet weiter, und an einem bestimmten Punkt verwandelt er sich aus einem mechanisch in einen orgia-stisch tötenden Henker. Dieser Verlust des Bewußtseins wird von der Partei mit seiner Erschießung geahndet, zu der er — jetzt als ‘Feind der Revolution’ betrachtet — sein Einverständnis geben soll. Es bleibt offen, ob Mauser in seinem Schlußsatz ‘Tod den Feinden der Revolution’ — sich selbst einbezieht, oder das Einverständnis zu seiner Liquidation verweigert.” (Schulz: Heiner Müller, S. 108f.)

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  7. Heiner Müller: Mauser. In: H.M.: Revolutionsstücke. Hrsg. v. Uwe Wittstock. Stuttgart 1988. S. 15–30, hier S. 23.

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  8. Ebd., S. 15 u.ö.

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  9. “Das Stück führt vor, wie der Revolutionär durch die Ausübung von Gewalt, die er aus Einsicht bejaht, von der Archaik infiziert wird, die jeder Gewalt innewohnt. Gerade durch die Identifizierung mit der Rationalität des historischen Auftrags [...] schlägt Rationalität in Archaik um, denn die Stimme der subjektiven Vernunft muß verstummen.” (Schulz: Heiner Müller, S. 110.)

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  10. Müller: Mauser, S. 24f.

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  11. Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Lehrstück. In: B. B.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Frankfurt/M. 1967. Band 2. S. 631–664, hier S. 651f.

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  12. Ebd., S. 661.

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  13. Im Zentrum von Brechts Konzeption steht damit die Kritik an einer idealistisch-bürgerlichen Hypostasierung des Individuums: “Der konsequente Verzicht auf die alte selbstbestimmte Individualität ist also im Sinngefüge dieser Dichtung von vornherein für alle Taten, die der Veränderung der Verhältnisse dienen, impliziert; jeder Anspruch auf sie unterwirft sich den Bedingungen der Verhältnisse, die gerade verändert werden sollen, unterstützt sie also und kündigt so alles ‘Einverständnis’ auf. Wollte man dem Jungen Genossen in irgendeiner Weise die alte Individualität zugestehen, so verstieße man gegen die immanenten Gesetze dieser Dichtung: der Tod des Jungen Genossen ist auch nicht eine wie immer geartete ‘reale Tat’, sondern er ist bereits in der Auslöschungsszene beschlossen. Der Tod ist die Konsequenz der ‘Wirklichkeit’ (von der das Stück spricht) auf die Bereitschaft des Jungen Genossen, mit ihm ‘einverstanden’ zu sein; er ist Vollzug dessen, was er an sich selbst bereits vollzogen hat: deshalb ist er auch mit ihm ‘einverstanden’.” (Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart 1980, S. 100.)

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  14. “Das Lehrstück von der Maßnahme macht am Extremfall bewußt: Autonomie ist Einbildung, Selbstbestimmung ist Illusion, Gefühle können, auch wenn sie richtig sind, zu falschen Handlungen führen, Wissen und Sein des Menschen sind intersubjektiv vermittelt; sie müssen sich einverstanden erklären, wenn sie ändern wollen. Insofern versucht das Stück, und zwar indem es dem Jungen Genossen die personale Existenz verweigert, den tragischen Fall des Jungen Genossen, ihn lehrend, zu vermeiden. Das Einverständnis, welches das Stück vorführt, gilt für es selbst: mit dem Fall des Jungen Genossen einverstanden zu sein, heißt, ihn zu verhindern.” (ebd., S. 101)

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  15. Brecht: Gesammelte Werke. Band 9, S. 725.

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  16. Heiner Müller: Verabschiedung des Lehrstücks (1977). In: Heiner Müller Material. Texte und Kommentare. Hrsg. v. Frank Hörnigk. Leipzig 1990, S. 40.

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  17. Müller: Mauser, S. 27.

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  18. Frank-Michael Raddatz macht aus dieser problematischen Konzeption mit identifikatorischer Emphase eine revolutionär-existentialistische Doktrin: “Durch die, politisch motivierte, Bejahung des (eigenen) Todes bestimmt sich das revolutionäre Kollektiv als Todesgemeinschaft, die nicht fixiert auf das individuelle ‘Überlebenmüssen’ sich als Kollektiv zur Souveränität erhebt. Diese Negation des ‘Selbsterhaltungstriebes’ im Innern des revolutionären Kollektivs setzt es in absoluten Gegensatz zum faschistischen Kollektiv, dessen Todesbeziehung sich vornehmlich gegen die Schwächsten richtete [...] und somit zu einer Apotheose der egoistischen und damit antisozialen Selbsterhaltung führt.” (Raddatz: Dämonen unterm Roten Stern, S. 146.) Gegenüber dieser Tendenz, die Notkonstruktion Müllers zu einer Art Heilslehre vom Sterbenlernen umzudeuten, bleibt der Einwand im Recht, den Genia Schulz bereits 1980 formulierte: “Fraglich bleibt am Ende, ob es in der ‘winzigen Spanne’ des Nichts — ‘Zwischen Finger und Abzug der Augenblick’ -überhaupt auszuhalten ist, ob die Revolution den Menschen nicht prinzipiell überfordert und daher im Prozeß ihrer Verwirklichung sich selbst zerstören muß. Der Apparat vermag mit dem Paradox zu leben, Gras auszureißen, damit es grün bleibt. Aber hält das Subjekt es aus, sich die Toten ‘beschwerlich’ bleiben zu lassen, seine Last nicht als ‘Beute’ [...] zu sehen?” (Schulz: Heiner Müller, S. 115f.)

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  19. Müller: Mauser, S. 28.

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  20. Ebd.

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  21. Antonin Artaud: Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest). In: A.A.: Das Theater und sein Double. Das Théâtre de Séraphin. Deutsch von Gerd Henniger. Frankfurt/Main 1979. S. 95–107, hier S. 98.

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  22. Heiner Müller: Artaud, die Sprache der Qual (1977). In: Heiner Müller Material, S. 20.

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  23. Vgl. Richard Herzinger. Masken der Lebensrevolution. Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. München 1992. Vgl. auch die Variierung der These in zahllosen journalistischen Veröffentlichungen.

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  24. Heiner Müller: Germania Tod in Berlin. In: H.M.: Germania Tod in Berlin. Der Auftrag. Mit Materialien. Ausgewählt und eingeleitet von Roland Clauß. Stuttgart 1991. S. 3–48, hier S. 17.

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  25. Heiner Müller: Germania 3 Gespenster am Toten Mann. Mit einem lexikalischen Anhang, zusammengestellt v. Stephan Suschke. Köln 1996, S. 80.

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  26. Ebd.

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  27. Heiner Müller: Die Hamletmaschine. In: H. M.: Revolutionsstücke. S. 38–46, hier S. 46.

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  28. Vgl. André Breton: Second manifeste du surréalisme (1930). In: A. B.: Œuvres complètes. Edition établie par Marguerite Bonnet. Paris 1988 (Bibliothèque de la Pléiade). S. 775–833, hier S. 782f.

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Michael Hofmann Martin Rector Jochen Vogt

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Hofmann, M. (1998). Krieg und Gewalt im Theater Heiner Müllers. In: Hofmann, M., Rector, M., Vogt, J. (eds) Peter Weiss Jahrbuch 7. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-89585-1_8

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