Zusammenfassung
„Die Werke der Literatur sind entstehungsgeschichtlich zu rekonstruieren und wirkungsgeschichtlich zu interpretieren im Lichte unseres gegenwärtigen Bewußtseins; aber dieses Bewußtsein, das die Literaturgeschichte ‚produziert‘, ist selbst auch ihr Produkt.“ (1)
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Anmerkungen
R. Weimann, Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichte, in: Weimarer Beiträge XVI, 1970, H. 5, S. 50.
Vgl. U. Weisstein, Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, Stuttgart (usw.) 1968, bes. Kap. 3 und 4. — Noch bei H. R. Jauß jüngsten fruchtbaren Überlegungen zur Wirkungsgeschichte spielt diese Linearität in die analytische Begriffsbildung: „Wirkung benennt man das vom Text bedingte, Rezeption das vom Adressaten bedingte Element der Konkretisation oder Traditionsbildung“ (Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptions-ästhetischen Methode, in: neue hefte für philosophie 4, 1973, S. 33). — Einige Anregungen, die in die Richtung des hier Ausgeführten gehen, bringt K. R. Mandelkow, Probleme der Wirkungsgeschichte, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik II, 1970, H. 1, S. 79 - 83.
Für die Schwierigkeiten der Gewinnung von empirischem Material im Bereich der Individualrezeption vgl. die 1968 großräumig durchgeführte Rezeptionsstudie zu Hermann Kants „Aula“ in der DDR (Wiss. Zeitschrift der Universität Halle-Wittenberg XVIII, 1969, Reihe G, H. 2). — Eine für diesen Aufsatz wichtige Reflexion über Arbeitsweise, Probleme und Zwänge des (auswahl)philologischen Textvermittlers gibt am Beispiel von Hölderlin-Auswahlen und -Ausgaben K. Briegleb, Der Editor als Autor. Fünf Thesen zur Auswahlphilologie, in: G. Martens, H. Zeller, Hrsg., Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, München 1971. Getreu dem Aufsatztitel steht vor allem eine Beschreibung der Implikationen — und ansatzweise eine Theorie — des Edierens zur Debatte.
Ich entnehme den Begriff G. Wienolds Buch: Semiotik der Literatur, Frankfurt 1972. („Textverarbeitung soll jegliche Aktivitäten von Teilnehmern eines Kommunikationssystems bezüglich eines in diesem System gegebenen Trägers von Kommunikation bezeichnen“, S. 146). Ich verweise zur Entlastung der Anmerkungen auf Abschnitt 3.2 dieses Buches.
Erst wenn die Rezeptionsforschung ihren Gegenstand so aktivisch faßt, erscheint eine Kooperation mit der an gleicher Fragestellung interessierten ideologiekritischen Soziologie fruchtbar. Beide fragten dann nämlich nach den Interessen, die bestimmte Kommunikationsprozesse in bestimmte gesellschaftliche Funktionen hineinlenken. Diese wiederum sind ja nicht in einem direkten Zugriff über faktische Gegebenheiten der Sozialgeschichte herzuleiten, sondern sind über die angedeuteten rezeptiven Aktivitäten der (Kultur-)Gesellschaft zu erkunden.
E. Lämmert nennt dies „Verwertungsprozesse“, durch die die Rezeptionsgeschichte zur Wirkungsgeschichte hin „verlängert“ werde (Rezeptions-und Wirkungsgeschichte der Literatur als Lehrgegenstand, in: J. Kolbe, Hrsg., Neue Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1973, S. 165). Diese Terminologie wie auch die der dialogischen Kommunikation ließen vermuten, hinter der temporalen Trennung stände die analytische von Jauß, der Textseite und Publikumsseite als verschiedene Faktoren in der literarischen Kommunikation benennt (s. Anm. 2). In Lämmerts beachtenswerten Oberlegungen zur Materialerhebung für wirkungsgeschichtliche Arbeiten (S. 167-169) und in Bemerkungen über das Studium von Interpretationsketten als Studium von Wissenschaftsgeschichte und Ideologiebildung (S. 172 f.) wird deutlich, daß er nicht einen Strang vor Augen hat, der vom Text bzw. Autor zum Leser führte; er meint durchaus Verarbeitungsstadien in ihren historisch bedingten Grenzen wie dieser Aufsatz.
Doch nenne ich H. Ide, Hrsg., Bestandsaufnahme Deutschunterricht, Stuttgart 1970.
Vgl. aber für den Teilbereich der Motivation A. Walter, Sozial bedingte Lesemotivation, in: Weimarer Beiträge XVI, 1970, H. 11.
Ich gebe Jauß hier polemisch verkürzt wieder (H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 1970, S. 199-203, vorher: Konstanzer Universitätsreden 1967). Auch für den Jauß-Schiller H. U. Gumbrecht besteht die Möglichkeit einer linearen Beziehung zwischen Lesen und Verhalten/Handeln — wenn auch vorsichtiger in Form von Konditionalsatz oder Frage (Soziologie und Rezeptionsästhetik. Ober Gegenstand und Chancen interdisziplinärer Zusammenarbeit, in: J. Kolbe, Hrsg., Neue Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1973, S. 65, 68 ).
Diese Schwierigkeit sieht auch H. Günther (Funktionsanalyse der Literatur, in: J. Kolbe, Hrsg., Neue Ansichten..., S. 177), doch packt er das Umsetzungsproblem von der „vom Werk intendierten gesellschaftlichen Funktion“ (ebd., Hervorhebung J. B.) her an — was heißt, daß es verlagert wird. Am Ende steht ein Appell zur gewiß notwendigen Kooperation mit anderen Sozialwissenschaften.
Ich beziehe mich auf die in mehrjähriger Arbeit zusammengetragene Anthologienbibliothek des Literarischen Kolloquiums Berlin und auf J. Bark/D. Pforte, Hrsg., Die deutschsprachige Anthologie, 2 Bde., Frankfurt 1969. 1970. Hier Band 1 mit Auswahlbibliographie und Registern.
Ich nenne von den Populäranthologien für den Hausgebrauch:M. Bern, Deutsche Lyrik seit Goethes Tod. Leipzig 1877, 16. Aufl. 1886, 18./1922. Blüthen und Perlen deutscher Dichtung. Für Frauen ausgewählt von Frauenhand. Hannover 1874, 29. Aufl. o. J. (Halle). P. Lohmann, Pantheon deutscher Dichter, Leipzig 1851, 11. Aufl. 1887. E. Polko, Dichtergrüße. Neuere deutsche Lyrik. Leipzig 1860, 11. Aufl. 1876, 328.-337. Tsd. 1922. G. Scherer, Deutscher Dichterwald. Stuttgart, Leipzig 1853, 13. Aufl. 1887. Die didaktischen Anthologien von Theodor Echtermeyer und O. L. B. Wolff hatten eine noch weit stärkere Verbreitung.
Ich bin dem nachgegangen in meiner Arbeit: Der Wuppertaler Dichterkreis. Untersuchungen zum poeta minor im 19. Jahrhundert, Bonn 1969. — Den unbeweglichen Kanon in Anthologien seit dem mittleren 19. Jahrhundert bilden Dichter, deren Rezeption abgeschlossen war und die daher die Physiognomie einer Anthologie kaum bestimmen: Goethe, Schiller, Arndt, Brentano, Eichendorff, Rückert, Platen, Uhland, Lenau; nicht so sicher Novalis und Heine. Weit geringer ist die Droste vertreten, auch Mörike und Hebbel. Etwas später stoßen zum Kanon folgende Autoren: Gei-bel, Freiligrath, Herwegh, aber eben auch Julius Sturm, Julius Hammer, Emil Rittershaus, Albert Träger, Adolf Stöber, Karl Stelter u. ä. Sie halten sich an bevorzugtem Platz bis in die frühen achtziger Jahre. — Wie stark die Kanonisierung von der ziemlich uniformen Poetikauffassung der Herausgeber abhängig war zeigt das Beispiel Heine. Er verstieß gegen die Auffassung, daß eine poetisch anschaulich gemachte Idee den Leser vors Ewige heben solle, und wurde konsequent aus den Sammlungen fortgelassen oder wenn dies, bei einer chronologisch angeordneten etwa, schlecht ging, hoffnungslos einseitig zur Rezeption gestellt. Vor allem seine als romantisch empfundenen Gedichte der ersten beiden Veröffentlichungen von 1822 und 1823 wurden Anthologiegedichte; der Häufigkeit nach zuerst „Leise zieht durch mein Gemüt“, dann „Du bist wie eine Blume“ und „Ein Fichtenbaum“ — „Perlen auf einem Misthaufen“, wie ein zeitgenössischer Anthologist und Kommentator, Heinrich Bone, bemerkte (Dichterperlen. Eine Auswahl des Guten und Schönen aus deutschen Dichtern seit Haller. Bd. 1, Bonn 1860, S. 431). Vgl. W. Höllerer, Die Poesie und das rechte Leben. Zu Anthologien für deutsche Frauen und für den Hausgebrauch, in: J. Bark, D. Pforte, Hrsg., Die deutschsprachige Anthologie. Bd. 2, Frankfurt 1969.
Vgl. D. Pforte, Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie, in: Bark/Pforte, Bd. 1, S. CXI ff., für das Folgende.
H. Riefstahl, Dichter und Publikum in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dargestellt an der Geschichte der Vorrede. Limburg 1934, S. 50.
Man vergleiche Echtermeyers „Auswahl deutscher Gedichte“ in den Bearbeitungen durch 6 verschiedene Herausgeber als Beispiel für eine didaktische, E. Polkos „Dichtergrüße. Neuere deutsche Lyrik“ in verschiedenen Bearbeitungen zwischen 1860 und 1922 als Beispiel für eine Populär-Anthologie.
Vgl. die gute Darstellung der von Katz und Lazarsfeld begonnenen Arbeiten bei D. McQuail, Towards a Sociology of Mass Communications, London 1969, ch. 2.
Dazu D. Pforte, Die deutschsprachige Anthologie…, in: Bark/Pforte, Bd. 1, Abschn. 10 (Textmontage).
Gerade dieser Aspekt macht die Notwendigkeit von empirischen Vorarbeiten und Materialaufbereitungen deutlich. Stark verallgemeinernd kann man sagen, daß wenigstens in der Emanzipationsphase des Bürgertums die literarische Produktion ein wichtiges, in Deutschland vielleicht das wich-tigste Mittel zur Kodifikation ethischer, politischer und allgemeinkultureller Normen war; in der Phase der Konsolidierung der gesellschaftlichen Ergebnisse von Restauration bzw. politischer Reichseinigung wurde diese Funktion von der textverarbeitenden Literatur übernommen: von bevorworteter Anthologie, Lesebuch, Philosophen-Kompendium, popularwissenschaftlichem Nachschlagewerk und natürlich der eigentlichen Fachliteratur, allem voran von Literaturgeschichten.
Ich verweise stellvertretend auf H. J. Frank, Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfangen bis 1945, München 1973, bes. S. 255 ff. (Einführung nationalsprachlicher Dichtung als Gegenstand des Deutschunterrichts) und S. 264-272 (Chrestomathische Lesebücher und ihre poetologische Funktion). Die Unterscheidung zwischen chrestomathischen und gesinnungsbildenden Lesebüchern trifft scharf und schon aus der Anlage seines Buchs ersichtlich H. Helmers, Geschichte des deutschen Lesebuches in Grundzügen. Stuttgart 1970, Kap. III und I V.
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Bark, J. (1976). Rezeption als Verarbeitung von Texten. In: Raitz, W., Schütz, E. (eds) Der alte Kanon neu. Lesen, vol 120. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-89366-6_8
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