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Die familiale Ambivalenz: „Neue Emotionalität, Krisenhaftigkeit und Verdinglichung“

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Selbstkrise und Individuationsprozeß

Part of the book series: Beiträge zur psychologischen Forschung ((BPF,volume 17))

  • 88 Accesses

Zusammenfassung

Wie in den vorhergehenden Abschnitten schon angedeutet, geht es darum, familiale Sozialisation in der Spannung der Entfaltung „kommunikativer Rationalität“ und der in der „Dialektik der Aufklärung“ herausgearbeiteten Tendenzen zu konzipieren. Von daher scheint mir familiale Sozialisation und die darin stattfindende „Produktion“ von Subjektivität in sozialisatorischer Interaktion vor allem durch Ambivalenz gekennzeichnet zu sein: Durch die widerspruchsvolle Einheit antagonistischer Vergesellschaftungsprozesse, die bis in die familiale Binnenrealität hineinreichen und diese besondere Form privatisierter Intimität gerade erst erzeugen. In diesem Sinne aber ist Vergesellschaftung gerade nicht als verdinglichte Überformung aller Lebensbereiche zu denken, sondern als das immer deutlichere Auseinandertreten verschiedener gesellschaftlicher Lebensphären mit bereichspezifischen Eigenlogiken (vgl. etwa Ottmeyer 1974 und 1980). Die familiale Beziehungsrealität mit ihrer konflikthaften Ambivalenz wurzelt genau in der bereichsspezifischen Logik der emotionalisierten, privatisierten Intimität, in deren Spannungsverhältnis gegenüber Produktions- und öffentlicher Sphäre und vor allem auch im Eindringen dieser Logiken in die familiale Binnenrealität.

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Anmerkungen zu Kapitel 4

  1. Trotz aller Unterschiede, wie etwa in den Positionen von Ariès und de Mäuse, wird die Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind doch durchgängig als Kennzeichen traditionaler Gesellschaften dargestellt. Aus der Vielzahl der Arbeiten seien hier nur Ariès 1960, de Mäuse 1974, Shorter 1975 a und b, Flandrin 1976, Elschenbroich 1977, Gelis u. a. 1978, Johansen 1978, Hardach-Pinke/Hardach 1978, Badinter 1980 und Hardach-Pinke 1981 genannt.

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  2. Gerade die Weggabe des Kleinkindes an eine Amme, die damit einhergehende Inkaufnahme schlechter Versorgung und damit des kindlichen Todes, wie auch Beispiele von zahlreichen Kindesaussetzungen oder -tötungen und damit einhergehend die gleichgültige Einstellung gegenüber dem kindlichen Tod, ziehen sich trotz aller Unterschiede und verschiedenen Erklärungsansätze quer durch die Literatur zur Ausformung der traditionellen Eltern-Kind-Beziehung. So stellt etwa Ariès anhand einer Analyse von Grabbildern und zeitgenössischen Äußerungen fest: „Diese gleichgültige Haltung gegenüber einer allzu anfälligen Kindheit, die ständig von der Aussicht auf einen frühen Tod überschattet wird, kommt der Unempfindlichkeit der römischen oder der chinesischen Gesellschaft, die die Kinderaussetzung praktizierten, ziemlich nahe. Von daher vesteht man, welcher Abgrund unsere Auffassung von der Kindheit von derjenigen trennt, die vor der demographischen Revolution oder ihren Vorläufern geherrscht hat. Wir müssen uns über diese Unempfindlichkeit nicht wundern, sie ist unter den damals herrschenden demographischen Bedingungen nur zu natürlich gewesen.“ (Ariès 1960, S. 99) In eine ähnliche Richtung weisen auch die Analysen von Badinter (vgl. Badinter 1980, S. 63ff.). Gelis u. a. weisen ausdrücklich auf die große Erkrankungsgefahr bei Kleinkindern hin, die zum häufigen, frühen Tod des Kleinkindes führte und die vor allem gegenüber dem Säugling zu einer immunisierenden Schutzhaltung des Desinteresses führte. Wenn sie auch eher Hunt (vgl. Hunt 1970) zustimmen, der die elterliche Haltung weniger als Desinteresse, sondern eher als Resignation kennzeichnet, so weisen doch auch sie letztlich auf viele Anzeichen für Gleichgültigkeit gegenüber Kleinkindern hin (vgl. Gelis u. a., S. 195ff.). Und schließlich stellt auch Flandrin in einer eher vorsichtigen Interpretation fest: „Wie dem auch sei, klar ist, daß es für jene Eltern, die das Risiko auf sich nahmen und ihre Kinder zu einer Amme gaben, Wichtigeres gab, als das Leben ihrer Nachkommenschaft.“ (Flandrin 1976, S. 235).

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  3. Badinter betont hier vor allem die Orientierung der Frau auf die neu entstehende private Intimsphäre der Familie, die gegen die Öffentlichkeit abgeschirmt war und vor allem die Konzentrierung der Frau auf das Kind. Dabei vernachlässigt sie, daß der bürgerlichen Frau neben diesem wohl sehr zentralen Aspekt auch repräsentative Funktionen zukamen, wenn diese auch auf die Stellung des Mannes im öffentlichen Leben bezogen waren, indem sie als „Darstellerin des männlichen Status“ zu fungieren hatte (Klein 1980, S. 84). Auf diese Bedeutung der Frau für den männlichen Status und Konkurrenzkampf weist besonders auch Zinnecker hin (vgl. Zinnek-ker 1973, S. 96ff.). Klein faßt diesen Aspekt der „Hausarbeit“ unter der Perspektive des Funktionswandels der Frauenarbeit zusammen: „Es läßt sich hier eine Verschiebung von Arbeitsinhalten und -anforderungen erkennen: Die bürgerliche Frau führte zwar nur saubere und sehr individuelle Arbeiten mit eigener Hand aus, das bedeutete aber nicht, daß sie deshalb gar nichts tat. Sie war mit völlig neuen Erwartungen und Anforderungen (schön sein, repräsentieren, anweisen, gebildete und verständige Zuhörerin ihres Mannes sein, normgerechte Muße ausüben) konfrontiert. Diesen Anforderungen gerecht zu werden, war psychisch sehr aufwendig und bedeutete für die Frauen in anderer Weise als früheres Arbeiten ,tun’ (Funktionswandel).“ (Klein 1980, S. 87)

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  4. Diese Neukonstituierung der Geschlechtscharaktere in ideologischer Form, das deutliche Auseinandertreten von „Mann“ und „Frau“, findet für die deutschen Verhältnisse im ausgehenden 18. Jahrhundert in den philosophischen und moralisch-pädagogischen Diskursen der deutschen Klassik und Aufklärung statt (vgl. Hausen 1976, Theweleit 1977 Bd. 1, S. 444ff., Klein 1980 S. 77ff.). So hält etwa Hausen fest: „Deutlich wird in allen diesen Argumentationen die Frau durch Ehe und Familie und Familie wiederum durch die Frau definiert. Im Unterschied zu früher aber wird allein die Frau und nicht mehr der Mann durch die Familie definiert; und ebenfalls anders als früher stecken jetzt die Prinzipien bzw. Ergebnisse der Natur, Geschichte und Sittlichkeit zusammen den Rahmen ab, innerhalb dessen hohe Weiblichkeit sich auszubilden und bei Strafe der Unnatur den Übergang beider Charaktere ineinander zu vermeiden hat.“ (Hausen 1976, S. 167) Indem schließlich der Frau das Merkmalspaar Passivität-Emotionalität, dem Mann die konträren Eigenschaften von Aktivität-Rationalität zugewiesen werden, die auf komplementäre Ergänzung angelegt sind, „wird es mittels der an der ,natürlichen’ Weltordnung abgelesenen Definition der ,Geschlechtscharaktere’ möglich, die Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben als gleichsam natürlich zu deklarieren und damit deren Gegensätzlichkeit nicht nur für notwendig, sondern für ideal zu erachten.“ (Hausen 1976, S. 170) Diese Zuweisung wird durch die spezifische Anforderungsstruktur der „männlichen“ und der „weiblichen“ Arbeitsfelder bestätigt. Die „Hausarbeit“ sperrt sich gegen eine weitreichende Rationalisierung, Professiona-lisierung und zweckrationale Strukturierung, bleibt bis in die Gegenwart hinein ganzheitlich, vielseitig, wenig spezialisiert, auf emphatisch-mimetische Erfahrung angewiesen, bleibt bezie-hungsorientiert und ist durch ihre direkte Bezogenheit auf „Natur“ (in Form kindlicher Bedürfnisse) und ihre Unmittelbarkeit keinem abstrakt-industriellen oder bürokratischen Zeitrhythmus unterwerfbar (vgl. z.B. Ostner 1978, S. 145ff., Negt/Kluge 1981). Die „Berufsarbeit“ gerät im Prozeß zunehmender Kapitalisierung und Bürokratisierung immer deutlicher unter die Dominanz zweckrationaler, bürokratischer Prinzipien und Zeitrhythmen, in die es sich entweder einzufügen oder die es im Zusammenhang „männlichen“ Durchsetzungsvermögens und Konkurrenzorientierung zu beherrschen gilt. Diese Entmischung und Polarisierung reproduziert sich schließlich wieder in Form geschlechtsspezifischer Sozialisation im Kontext von Familie und weiteren Bildungseinrichtungen als Vorbereitung auf die je spezifische Arbeitsform und Geschlechtseigenschaften (vgl. Klein 1980, S. 84ff., Hausen 1976, S. 176ff., Zinnecker 1973).

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  5. Hier konnten die historischen Linien natürlich nur in sehr groben Linien skizziert werden. Die differenzierte Vielfalt traditionaler Lebensformen, die sich je nach unterschiedlichen Produktionsweisen und Lebensformen unterschieden (vgl. z. B. Rosenbaum 1978, dies. 1982), die vor allem auch nach regionalen und jeweils spezifischen kulturellen Kontexten und Traditionen zu differenzieren sind (vgl. hierzu z. B. die Beiträge von Mitterauer 1975, 1978 und 1979) und die sich vor allem auch auf jeweils spezifischen Wegen und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit (Ungleichzeitigkeit) im Kontext von Industrialisierung, Kapitalisierung und Bürokratisierung zum Typus der modernen Kleinfamilie entwickelten, kann hier nicht angemessen nachgezeichnet werden. Vor allem stellt auch die Annahme, daß der „Hof“ oder das „ganze Haus“ in der Einheit von Produktion und Lebensform die dominierende traditionale Lebensweise war, eine Fiktion dar (vgl. dazu Bollinger 1980, Brunner 1978, Rosenbaum 1978, S. 24ff., Mitterauer 1978). Der hier skizzierte Übergang vom „ganzen Haus“, von einer ganzheitlich-kollektiven Produktionsund Lebensform zur modernen Kleinfamilie, die sich um das Kind gruppiert, (vgl. auch Ziehe 1975, S. 45ff.) stellt eine idealtypische Verlaufslinie dar. Sie kann den vielen regionalen Besonderheiten, den schicht- und klassenspezifischen Entwicklungslinien, vor allem der Herausbildung der „proletarischen Familie“, die durch die gleichen rechtlichen, aber unterschiedlichen materiellen und sozialen Bedingungen gegenüber der bürgerlichen Familie gekennzeichnet ist, wie auch der Ungleichzeitigkeit des Nebeneinanders noch traditionaler und modernisierter Familienformen nicht gerecht werden.

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  6. Zur Bestimmung von „Hausarbeit“ als einer immer noch vor allem „weiblichen“ Arbeitsform vgl. Ostner 1978, Ostner/Pieper 1980, Beck-Gernsheim 1980, Negt/Kluge 1981.

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  7. Vgl. zur Tendenz von Pädagogisierung und Verwissenschaftlichung von Kindheit auch die Arbeiten von Gstettner 1981, Riedmüller 1981, Wambach 1981.

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  8. Eine weit differenziertere Position vertritt demgegenüber Hengst, der zwar die Herausbildung von Kindheitsghettos ebenfalls zivilisationskritisch einschätzt, andererseits aber auch den daraus resultierenden Schutzraum für Kinder betont. Diesen Schutzraum, das „Moratorium“ Kindheit, sieht er aber gerade durch eine zunehmende „Industrialisierung aller Lebensbereiche“ gefährdet, die die Räume Erwachsener und Kinder wieder aneinander angleicht: „Die Vorstellung von Kindheit als einer spezifischen Phase, die in speziellen sozialen Räumen durchlebt und mit dem Eintritt in andere soziale Räume aufgehoben wird, ist unhaltbar geworden. (...) Die Moratorien, in denen sich Kinder auf besondere Weise entwickeln und auf die Erfordernisse einer Erwachsenengesellschaft von unterschiedlicher Qualität vorbereiten, sind weitgehend Fiktionen. Es gibt also einerseits eine Kontinuität der Kindheit auf der Ebene der Ausgrenzung und Exterritoria-lisierung der Kinder aus der Lebenswelt der Erwachsenen. Andererseits wird diese Kontinuität aufgehoben, weil die Kinderghettos immer mehr durch die bestimmenden gesellschaftlichen Tendenzen bis ins Detail strukturiert werden und sich deshalb immer weniger von anderen gesellschaftlichen Bereichen unterscheiden.“ (Hengst 1981, S. 31f.)

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  9. Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem theoretischen Versuch einer Erklärung gesellschaftlicher Evolutionsprozesse, besonders der Vernachlässigung widersprüchlicher Entwicklungstendenzen und umfassenderer sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen die Besprechung von Rosenbaum 1980.

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  10. Gegenüber der Hervorhebung der Entstehung eines privaten Kleinfamilientypus, der zum gesellschaftlichen Normaltyp „der“ Familie wird, und gerade durch zunehmende Emotionalisie-rung gekennzeichnet ist, ist aber auf die Arièssche Linie hinzuweisen. So sieht denn auch Hengst gerade in der Verbindung der Arièsschen und de Mausseschen Sichtweise eine Position entstehen, die der Ambivalenz der Herausbildung von Familie und Kindheit Rechnung trägt: „Daß Kinder, wie beispielsweise Ariès zeigt, durch den Verlust der unmittelbaren, affektgesteuerten, sinnlichen Gemeinschaft mit den Erwachsenen in ihren Lern- und Ausdrucksmöglichkeiten beschnitten werden, ist ein zentraler Aspekt moderner Kindheit. Daß durch die Entdeckung und die aufmerksamere Wahrnehmung der Eigenpersönlichkeit der Kinder aber auch deren Leiden erkennbar werden und ihrem von den Erwachsenen unterschiedenen Lebesnrhythmus in einer Weise entsprochen wird, die schließlich zur Abschaffung der Kinderarbeit führt, darf darüber nicht vergessen werden.“ (Hengst 1981, S. 22)

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  11. Diese Auswechslung der Familiengrundlage, die Shorter hier als destabilisierende Charak-teristikum der postmodernen Familie bestimmt, scheint mir eher als Widerspruchsverhältnis zu fassen. Die psychische und emotionale Bedeutung des Kindes scheint weiterhin wesentlich zu sein, während die Ansprüche an erotisches Glück, an Nähe, Wärme und Verständnis hinzukommen.

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  12. Vgl. hierzu auch die Übersicht über die Ausbreitung „nichtehelicher Lebensgemeinschaften“ in verschiedenen europäischen Ländern bei Meyer/Schulze 1983 und die Überlegungen von Helle, ob sich Tendenzen zu einer „matrilinearen“ Entwicklung mit den Folgeerscheinungen einer Auflösung der patrilinearen Eheform in den westlichen Industriegesellschaften auffinden lassen (Helle 1981).

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  13. Vgl. zur Verdeutlichung von Widersprüchen in der Liberalisierung des Familien- und Sorgerechts und der „Gleichberechtigung“ der Frau die Anmerkungen in Schablow 1984, S. 89ff.

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  14. Gerade angesicht der Auflösungstendenzen einer familialen Lebensform, der kulturellen Relativierung von Ehe als tradierter Form des Zusammenlebens und steigender Scheidungszahlen sind die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zur Einstellung Jugendlicher gegenüber Ehe, Familie und Kinderwunsch eher überraschend. So kommt die Shell-Studie 1981 zum Ergebnis, daß lediglich 13 % der Jugendlichen eindeutig nicht heiraten wollen (vgl. Fuchs 1981, S. 204). Für über 90 % der Jugendlichen gehört Vater oder Mutter zu werden zu ihrem Lebensentwurf, während lediglich 7 % dies eindeutig zurückweisen. Damit aber ergeben sich gegenüber den Studien von 1954 und 1975 keine grundlegenden Unterschiede (vgl. ebd., S. 217). Die Sinus-Studie „Die verunsicherte Generation“ kommt zu dem Ergebnis, das lediglich 18 % der männlichen und 13 % der weiblichen Jugendlichen der Aussage „Vom Heiraten halte ich nicht viel“ voll zustimmen (vgl. Sinus-Institut 1983, S. 71). Allerbeck und Hoag kommen im Vergleich der Jugendlichen von 1962 und 1983 zu folgenden Ergebnissen: Auf die Frage „Wollen sie einmal heiraten“, antworten 1962 91,3 % der Mädchen mit „ja“, mit„weiß nicht“ 7,2 % und mit „nein“ lediglich 1,5 %. Die Jungen bejahten demgegenüber „nur“ mit 79,2 % die Absicht zu heiraten, 17,8 % waren sich unsicher und lediglich 3,1 % wollten nicht heiraten. 1983 bejahten 69,3 % der männlichen und 76,6 % der weiblichen Jugendlichen die Heirat, während lediglich 10 % beider Geschlechter die Ehe ablehnte (vgl. Allerbeck/Hoag 1985, S. 93). Wenn hier auch ein ca. 10- bis 15 %iger Rückgang der Heiratsabsichten festzustellen ist und die Ablehnung der Ehe deutlich angestiegen ist (insbesondere bei Mädchen um das 7fache), so scheint die Ehe immer noch der bei weitem dominierende Lebensentwurf zu sein. Ähnliche Tendenzen finden sich beim Kinderwunsch: 1962 wünschten sich 92,6 % der männlichen und 96,9 % der weiblichen Jugendlichen Kinder. 1983 ist der Kinderwunsch zurückgegangen: 77,7 % der Jungen und 85,8 % der Mädchen wünschen sich Kinder. Allerdings dürfte dieser relativ deutliche Rückgang durch die Hinzufügung der Antwortmöglichkeit „weiß nicht“ in der 1983 stattfindenden Befragung zum Teil zu erklären sein, denn offen ließen 14.8 % der männlichen und 7,5 % der weiblichen Jugendlichen für sich den Kinderwunsch. Trotz einer Relativierung scheint auch der Kinderwunsch immer noch für den allergrößten Teil der Jugendlichen — und insbesondere für die Mädchen — zu ihrem Lebensentwurf zu gehören. In der Mädchenstudie von Seidenspinner/Burger wird vor allem deutlich, daß die Mädchen für ihr zukünftiges Leben sowohl ihre beruflichen Wünsche realisieren wollen, wie auch heiraten und Kinder haben möchten. Dabei rangiert allerdings auf die Frage „Wie stellst Du Dir Dein zukünftiges Leben vor“ die Verwirklichung des Berufswunsches mit 64 % der Nennungen und die eigene finanzielle Absicherung mit 56 % vor dem erst auf Rangplatz 3 stehenden Wunsch zu heiraten und Kinder zu kriegen mit 50 % der Nennungen (vgl. Seidenspinner/Burger 1982, Tabellenteil S. 7). Die Autorinnen fassen zusammen: „Daß bei den meisten Mädchen der Beruf an erster Stelle steht, heißt nicht, daß sie die Familienperspektive aufgeben. Nur 6 % der Befragten wollen ausdrücklich keine Kinder, und 10 % wollen nicht heiraten. In den Lebensvorstellungen ist also Ehe und Mutterschaft klar mit eingeplant. Die 15–19jährigen Mädchen wollen beides: Beruf und Familie. Daß Beruf und Familie fürFrauen ohne Doppelbelastung vereinbar sein sollen, befürworten 83 %, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrem Alter und der Wohnregion, ob sie also in der Stadt oder auf dem Lande leben.“ (ebd., S. 13). Diese Ergebnisse verdeutlichen, daß sich der Stellenwert von Ehe, Familie und Kinderwunsch zwar leicht relativiert hat, daß er auch in Spannung zu anderen Ansprüchen steht, aber keineswegs für eine größere Anzahl Jugendlicher bedeutungslos geworden ist.

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  15. Vgl. Monnier in Beck-Gernsheim 1984, S. 185.

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  16. „Späte Mutterschaft“ ist zwar vor allem als Trend besonders bei Frauen mit sehr qualifizierter Ausbildung und guten beruflichen Positionen zu finden — so wird der Zeitpunkt des ersten Kindes oftmals auf Mitte oder sogar Ende 30 verschoben —, aber nicht auf diese Frauengruppe beschränkt. Auch bei Frauen der Unterschicht, die sich traditionell früher in Mutterschaft und Ehe einbinden, gibt es gegenläufige Tendenzen, ein, wenn auch nicht so deutliches, Hinauszögern des ersten Kindes (vgl. Beck-Gernsheim 1984, S. 88ff.). Beck-Gernsheim versteht „späte Mutterschaft“ so als Tendenz auch in der Unterschicht: „Späte Mutterschaft kann dann heißen: geplantes Aufschieben des Kinderwunsches — und zwar über die für Frauen dieser Schicht bisher übliche Altersspanne hinaus. Hierher gehören Frauen mit guter bis sehr guter Ausbildung, die bis Anfang oder Mitte 30 warten; und ebenso Frauen in Fabrik oder Büro, die bis Mitte oder Ende 20 warten — auch das ist ein Unterschied von mehreren Jahren gegenüber der vorangehenden Generation.“ (Beck-Gernsheim 1984, S. 90)

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  17. Diese biographische Fehlentscheidung oder das Umschlagen des Unabhängigkeitsstrebens in frühe Ehe und Mutterschaft aber muß — insbesondere bei Frauen und Mädchen der Unterschicht — im Kontext ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen verstanden werden. So garantiert weibliche Lohnarbeit oftmals nur das Existenzminimum, werden Frauen immer noch deutlich schlechter bezahlt als Männer, treffen vor allem Mädchen auf einen zunehmend sich schließenden Arbeitsmarkt (vgl. auch Beck-Gernsheim 1983, S. 323f.). So ist letztlich der kritischen Zusammenfassung Ostners zuzustimmen: „Daß die Frau seit dem letzten Jahrhundert gleich dem Mann Lohnempfängerin wurde, reicht(e) allein nicht aus, um gleich dem Mann, von ihm und auch von anderen Frauen als Lohnarbeiterin anerkannt zu werden. Weiterhin erscheint sie zunächst als Familienmitglied, nicht individuell. In diesem Sinn kann von einer größeren Haushaltsgebundenheit der weiblichen Erwerbsarbeit gesprochen werden. Weniger frei und — trotz vielfältiger Schutz- und Kontrollbestimmungen — weniger geschützt als die männliche konstituiert(e) sich weibliche Arbeitskraft unterhalb oder außerhalb der Berufsform, jener geschützten, garantierten Beschäftigungsverhältnisse. Weibliche Erwerbsarbeit blieb selbst noch als Berufsarbeit in der Regel, sei es im Selbstverständnis der Frau, sei es, was diesem vorausgeht, durch den stummen Zwang der Verhältnisse oder durch direkte patriarchalische Verfügung, haushaltsgebunden, diskontinuierlich, meist unterstützend und ergänzend zur männlichen, häufig ohne Wahl hineingedrängt in schlechtere Arbeitsbedingungen — sozusagen die Rache für die vermeintlich alternative Versorgung durch Ehe und Familie. Diese Rache trifft die Junggesellin, die kontinuierlich Erwerbstätige, noch einmal in Gestalt statistischer Diskriminierung.“ (Ostner/Schmidt-Waldherr 1984, S. 229).

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  18. Ostner und Pieper versuchen, diese positionalen Unterschiede der Familienmitglieder unter dem Formaspekt der „Privatheit“ (vgl. Ostner/Pieper 1980, S. 132) im Zusammenhang von Unabhängigkeit/Eigenleben und Abhängigkeit/Kolonialisierung zu bestimmen. Der Preis für die relative Autonomie von Familie „für dieses Stückchen Freiheit und Eigenheit sind strukturelle und persönliche Abhängigkeiten, ökonomische, zeitliche, emotionale Verstrickungen, die einmal eingegangen, kaum noch auflösbar sind und sich je nachdem, ob es sich um Mann oder Frau, Erwerbstätigen oder Nicht-Erwerbstätigen, Eltern oder Kind in der Familie handelt, z. B. in Ausmaß und Auflösbarkeit unterscheiden.“ (ebd., S. 98) Für den Mann, als demjenigen, der zumeist noch die „Ernährerfunktion“ (vgl. Schablow 1984) innehat, bedeutet Familie einerseits die verschärfte Notwendigkeit zu Berufsarbeit. Daraus resultiert ein spezifisches Interesse und Bedürfnis des Mannes hinsichtlich seiner Familie: „Familie als einmal intendierter Raum freier Lebensgestaltung wird — gerade für die nicht-erwerbstätigen Familienmitglieder wesentlich eingeschränkt, durch das Interesse des dauerhaft Erwerbstätigen, seine Familie für seine Eigeninteressen nach Ruhe, Entspannung und Widergutmachung negativer Erwerbsarbeitserfahrungen, z. B. Erfahrung persönlicher Zurücksetzung, von Unfähigkeiten, Hektik, Sinnlosigkeit zu nutzen.“ (ebd., S. 99) Für die Frau bedeutet Familie oft die Freisetzung von beruflicher Arbeit und die tendenziell selbstbestimmte Möglichkeit eines eigenständigen Arbeitsbereiches „Familie“. Allerdings wird dieser Bereich durch Instrumentalisierung für den Konsummarkt, Expertenwissen und Pädagogisierung durchdrungen, „darüber hinaus ist die Freiheit der Frau in der Gestaltung des Familienlebens erkauft durch ihre ökonomische Abhängigkeit vom Mann, die leicht umschlagen kann in eine unmittelbar persönliche in Zwang zur dauernden Unterordnung und in Gewalt; erkauft auch durch eine größere Bindung ans Haus und — je länger diese häusliche ,Anbindung’ — durch immer geringere Chancen am Arbeitsmarkt, d. h. durch wachsende Abhängigkeit von den Versorgungsleistungen des Mannes. So kann das Kind zum Gegenstand der Erprobung eigener Fähigkeiten und der Wiedergutmachung erfahrener Unterdrückung und Minderwertigkeit werden, zum Objekt, das nur schwer freigegeben werden kann.“ (ebd., S. 99f.). Und hinsichtlich der kindlichen Position halten Ostner/Pieper fest: Kindliche Freiheit heißt zunächst formal, Freiheit vom Zwang den Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Was der Kindheit oft geneidet wird, jenes Prinzip ,Lust’, die noch fehlende oder geringe Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt, wie sie jenseits von Familie beginnt, bedeutet für das Kind oft, daß es betrogen wird um die Wirklichkeit, um die Möglichkeit, selbst Erfahrungen zu sammeln (...), da wo es total und unausweichlich den Interessen, Wünschen und Projektionen der Eltern, der elterlichen Gewalt und Sorge ausgeliefert ist; wo es sein eigenes Leben oft mühevoll und oft ein Leben lang den Eltern abringen muß.“ (ebd., S. 100)

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  19. Diese Interaktionsstörungen lassen sich anhand zweier Axiome der Watzlawickschen Kommunikationstheorie verdeutlichen. Wenn sich die zentralen Bedeutungsgehalte von Ehe und Familie immer deutlicher auf „immaterielle“ und psychische Aspekte verschieben, so impliziert dies einen Überhang „analoger Kommunikation“ im familialen Zusammenhang. D. h., Liebe, Zuneigung, Nähe, Geborgenheit usw. sind emotionale Qualitäten, die sich lediglich in analoger Interaktion vollziehen lassen. In „digitaler“, d.h. eindeutiger, sprachlicher Kommunikation kann über Liebe, Nähe und Geborgenheit gesprochen werden, aber darin allein können diese Beziehungsqualitäten nicht erzeugt werden. Nun zeichnet sich aber gerade analoge Kommunikation durch Uneindeutigkeit aus, d. h. ein und dieselbe analoge Kommunikation läßt unterschiedliche Digitalisierungen zu, kann sogar völlig gegensätzlich interpretiert werden (vgl. Watzlawick u. a. 1967, S. 96ff.). Damit aber ist in analoger Kommunikation eine prinzipielle interpretative Unsicherheit vorhanden, d. h. Beziehungen, vor allem auch die hoch emotionalisierten familialen Beziehungen kreisen oftmals um ständige gegenseitige Sicherheitsforderungen: liebst du mich wirklich, bist du wirklich glücklich usw. Diese gegenseitige Beweislast, vor dem Hintergrund eines Wunsches nach emotionaler Sicherheit, aber kann, vor allem wenn die familialen Interaktionspartner seismographisch auf, jeweils unterschiedlich bedeutete Liebesbeweise reagieren, zu einer permanenten Konfliktquelle werden. Eine weitere Quelle von Interaktionsstörungen liegt in der „Interpunktion von Ereignisfolgen“ (ebd., S. 57ff. und 92ff.). D. h., in einer Handlungsfolge erscheint dieselbe Handlung aus der Sicht zweier Interaktionspartner einmal als Ursache und einmal als Wirkung, wird damit im Sinne der jeweiligen subjektiven Wirklichkeit strukturiert. Indem schließlich das einzelne Familienmitglied mit seinem Anspruch auf Glück und Selbstverwirklichung im familialen Zusammenhang immer zentraler wird, wächst, vor allem auch vor dem Hintergrund positionaler Unterschiede und damit einhergehender unterschiedlicher Erfahrungen und Ansprüche, die Wahrscheinlichkeit von Interpunktionsstörungen.

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  20. Allerdings weisen Heinsohn/Knieper auch darauf hin, daß der psychisch-affektive Kinderwunsch nicht mit der Beziehungsrealität gegenüber dem Kind verwechselt werden darf: „Erst die Geburt konfrontiert den sozial hergestellen Kinderwunsch mit einer anderen sozialen Realität und kann ihn nachträglich sehr schnell zerstören. Das muß sich nicht nur in weniger Geburten äußern, als vorab von den Ehepartnern geplant wurden, sondern auch in der Vernachlässigung des Wunschkindes selbst, das plötzlich als Parasit und Störenfried erscheint. Frühere Berufswünsche der in den Haushalt gestrebten Frauen werden gerade nach der Geburt eines Kindes wieder lebendig, bestärkt durch die geplante Aufhebung der lebenslangen Unterhaltsgarantie durch den Mann. Häufig wird die Ausbildung schon im zuwendungsintensiven Alter des Kindes von neuem aufgenommen und der Vernachlässigung zugearbeitet. Deshalb ist ein Schluß vom Kindeswunsch auf den wirklichen und gelingenden Umgang mit den Kindern unzulässig.“ (Heinsohn/Knieper 1974, S. 175)

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  21. Diese zentrale Bedeutung des Kindes für die Familie zeichnet sich auch in einer Studie von Nave-Herz zur familialen Veränderung in der Bundesrepublik seit 1950 ab (vgl. Nave-Herz 1984). So vollzieht sich von 1950 bis 1980 ein wesentlicher Bedeutungswandel der Ehe: Während die Eheschließung 1950 stark mit materiellen Interessen gekoppelt war, die Ehe vor allem als „Solidaritätsverband“ dargestellt wurde, in dem gemeinsam etwas geschaffen und zugleich Geborgenheit hergestellt werden sollte, „vermutlich Reaktionsformen auf abgelaufene gesamtgesellschaftliche Prozesse, wie Krieg, Vertreibung“ (ebd., S. 55), wird die Ehe 1980 zentral über das Kind begründet (vgl. ebd., S. 55): „Die veränderten objektiven Bedingungen bewirkten weiterhin, daß in zunehmendem Maße eine bestehende partnerbezogene Lebensgemeinschaft in eine kindbezogene Ehe überführt wird. Denn diejenigen, die heute eine Ehe schließen, entscheiden sich hierfür aus einem überwiegend kind-, nicht überwiegend partnerbezogenem Wunsch. Die Möglichkeit, also unterschiedliche Lebens- und Daseinsformen zu wählen, hat die Ehe und Familie zur erklärten Institution der Sozialisation von Kindern werden lassen.“ (ebd., S. 60) Dabei finden sich bei Nave-Herz auch Hinweise darauf, daß sich ebenfalls im Vaterbild Wandlungen vollziehen, wenn auch aufgrund der Fragebogenerhebung (also mittels Selbsteinschätzung) von hier aus nicht stringent auf tatsächliches Verhalten geschlossen werden kann: „Ferner scheint Schwangerschaft und Geburt für beide Ehepartner heute zu einer bewußten, gemeinsam gewollt-erlebten Erfahrung geworden zu sein. Für diese These sprechen die objektiven Tatbestände. Denn alle ,werdenden’ Väter des Eheschließungsjahrganges 1980 — mit zwei Ausnahmen — begleiteten ihre Frau bereits während der Schwangerschaft zu den Vorsorgeuntersuchungen, fast alle nahmen an vorbereitenden Kursen teil. Die unmittelbare Erfahrung des Miterlebens einer Geburt ist aber qualitativ etwas anderes als die über das Gespräch vermittelte. Der Ehemann ist also nicht mehr nur Beobachter von Veränderungen und Empfänger von Nachrichten, sondern nimmt bewußt an ihnen teil, wird in den Veränderungsprozeß mit einbezogen. Ferner berichten gerade die Väter meist sehr gefühlvoll über das Erlebnis der Schwangerschaft und Geburt.“ (ebd., S. 56). Vor allem scheint ein Kind die bis dahin praktizierte Lebensweise der Eltern 1980 stärker zu verändern als noch 1950. „So gaben die Ehepaare von 1980 in noch stärkerem Maße an (= 79 %), seit der Geburt des ersten Kindes weniger gemeinsam ausgegangen zu sein als die Ehepaare von 1950 (= 49 %) und 1970 (= 67 %). Ferner betonten insgesamt 15 % der Befragten, daß sich ihr alter Freundes- und Bekanntenkreis nach der Geburt des ersten Kindes langsam aufgelöst hätte und auch hier wiederum mit steigender Tendenz: 1950 = 9 %, 1970 = 17 % und 1980 = 18 %.“ (ebd., S. 59). Zugleich erhöht sich auch die Anwesenheit im häuslichen Bereich: So gaben 1950 77,6 %, 1970 84 % und 1980 84,9 % aller Frauen an, nach der Geburt des ersten Kindes mehr Zeit zuhause zu verbringen. Eine ähnliche Steigerung findet sich auch auf Seiten der Männer: 1950 waren es 47,8 %, 1970 bereits 52,9 % und 1980 65,1 % der Männer, die wegen ihres Kindes häufiger zuhause blieben (ebd., S. 59). Allerdings zeigt sich trotz des Anstiegs auf Seiten der Männer doch immer noch ein deutlicher Unterschied gegenüber den Frauen und vor allem ist in dieser Prozentreihe nicht aufgeschlüsselt, wie gravierend die zusätzlich zuhause verbrachte Zeit ist. Denn in den Äußerungen könnten sich für Frauen und Männer sehr unterschiedliche zeitliche Beanspruchungen verbergen.

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  22. Allerdings dürfen die im Kontext der „Informalisierung“ stattfindenden Freiheitsgewinne und Selbstentfaltungsmöglichkeiten auch für Kinder nicht eindimensional als bloße Befreiung gewertet werden. Die Auflockerung der Kontrolle auf der Ebene der unmittelbaren Beziehungen ist zu einem durch ein Anwachsen anonymer, systemischer Zwänge begleitet. Zum anderen bedeutet die Auflockerung der Fremdkontrolle letztlich eine verstärkte Anforderung an die Selbstkontrolle. So stellt Wouters fest: „Bei kurzfristiger Perspektive mag diese Verlagerung der Machtgewichte und die daraus resultierende höhere Spannung den Weg zu einem offeneren Ausdruck der Leidenschaften und damit zu einem Abschütteln von Zwängen freizumachen scheinen. Bei langfristiger Perspektive zeigt sich ganz deutlich, daß die Anforderungen an Selbstzwänge gewachsen sind.“ (Wouters 1977, S. 288)

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  23. Neben der Untersuchung von Grüneisen/Hoff 1977 ist hier noch auf die Arbeiten von Weiß 1975, Bargel 1979 und Ehlers u. a. 1979, um nur einige zu nennen, hinzuweisen. Alle Untersuchungen kommen, mit gewissen Modifikationen, die hier vernachlässigt werden, zu einer Bestätigung der Liberalisierungsthese, die etwa Weiß von einem Anwachsen einer Orientierung an „kindzentrierter Selbständigkeit“ sprechen läßt (vgl. Weiß 1975). Allerdings soll auf einen wesentlichen Aspekt hingewiesen werden: Die Veränderung von Erziehungsprioritäten ist nicht gleichbedeutend mit einer Veränderung der Erziehungswirklichkeit selbst. So werden immer auch noch Gehorsam, Sauberkeit, Ordentlichkeit als relevante Orientierungen genannt, wenn sie auch mit Selbständigkeitsorientierungen die Positionen getauscht haben (vgl. Ehlers u. a. S. 95). Vor allem aber stoßen Grüneisen/Hoff, hier die optimistischen Thesen von Weiß 1975 relativierend, auf eine deutliche Diskrepanz zwischen allgemeinen Werthaltungen und Einstellungen, die in Konflikten der Erziehungspraxis selbst relevant werden: „Vergleicht man die Einstellungen (die allgemeine Wichtigkeit, die Werten situationsunabhängig für die Erziehung zugemessen wird) mit der Erziehungspraxis, mit den in Konflikten verhaltensrelevanten Erwartungen (Werten), so wird eine bemerkenswerte Diskrepanz sichtbar — vor allem dort, wo es um Konformitätsanforderungen geht: Diese stehen recht weit unten in der Rangreihe bei der allgemeinen Wichtigkeit, während sie im konkreten Erziehungsgeschehen vorherrschen. Darin sehen wir einen Beleg für die gesellschaftliche Funktion von Familienerziehung als Prozeß der Eingliederung der Kinder in Verhältnisse, die — ungeachtet allgemein propagierter Liberalisierung — nach wie vor wesentlich durch den Zwang zur Unterordnung unter Autoritäten gekennzeichnet ist, deren Macht letztlich in den gesellschaftlichen Strukturen materiell fundiert ist. Der so häufig konstatierte Wandel der Kindererziehung scheint also stärker einer der Erziehungsziele zu sein.“ (Grüneisen/Hoff 1977, S. 212)

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  24. Ob die erste oder die zweite Einschätzung zutrifft oder sich beide ergänzen, kann aufgrund von Einstellungsmessungen nicht beantwortet werden. Allerdings spricht vieles dafür (vgl. Anm. 23), daß eine Tendenz besteht, angesichts eines positiv sanktionierten Erziehungswertehimmels die eigenen Ansichten entsprechend anzupassen. Keineswegs darf deshalb von Selbsteinschätzungen her auf das reale Handeln geschlossen werden.

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  25. Die sich verändernden Erziehungsvorstellungen lassen sich einmal als Reflex auf sich verändernde Anforderungen im Übergang zu Konsum- oder Spätkapitalismus fassen. Mit diesem Übergang aber waren auch wesentliche Veränderungen der Sozialstruktur verbunden, vor allem die Ausweitung der „neuen Mittelklasse“, d. h. die naturwissenschaftlich-technische Intelligenz, sozialwissenschaftlich-pädagogische Experten, Kulturschaffende, die im Staatssektor beschäftigten Angestellten und Beamten usw. Mit der Ausdehnung und Bedeutungszunahme der „neuen Mittelklasse“, so Büchners These, aber geht vor allem im Verlauf der sechziger und siebziger Jahre eine Veränderung der Hegemonialstruktur und damit auch der Ausformung von Sozialcharakteren einher (vgl. Büchner 1983, S. 206ff.) Als gemeinsames Merkmal der neuen Mittelklasse aber ist die exklusive Verfügung über technische, wissenschaftliche und kulturelle Kompetenzen, kurz: über kulturelles Kapital (vgl. Bourdieu 1979) zu sehen. Die Orientierung an Selbständigkeit, Autonomie, Eigenverantwortung, an Durchsetzungsvermögen und Flexibilität entspricht genau den Verhaltensstandards dieser neuen Mittelklasse, die eine Perspektive entwickelte, „die die Bedeutung der sozialen Herkunft relativierte und stattdessen von der Belohnung sozialer Tüchtigkeit und von Chancengleichheit (insbesondere beim Erwerb von kulturellem Kapital) ausging. Dabei ging es aber nicht nur um eine Veränderung der Legitimationsformen und -verfahren für die Herrschaftsausübung (vgl. de Swaan 1982), sondern vor allem um die Infragestellung des festgefügten tradionellen Normengebäudes, des Prinzips der sozialen Vererbung und den damit verbundenen Formen der Bevormundung im ideologisch-kulturellen Bereich. Statt Konformitätszwang galt es Normenpluralität durchzusetzen“ (Büchner 1983, S. 209). Diese neuen normativen Orientierungen sieht Büchner im Gefolge der an die Studentenbewegung anschließenden Reformperiode sich in die gesellschaftlichen Institutionen einlagern und zu dominierenden öffentlich-politischen Diskursen avancieren: „Mit der geistigen Überhöhung der eigenen professionellen Gepflogenheiten zur (Alltags-)Norm konnte ein beträchtlicher kultureller Hegemonieanspruch transportiert werden.“ (ebd., S. 210) Die durch die äußeren Verhältnisse, z. B. die Bildungsreform, abgestützte Einlagerung dieser normativen Standards und Erziehungsorientierungen in die Unterschicht, könnte so als Realisierung und Wirksamwerden dieser neuen Hegemonialkultur interpretiert werden. Vgl. hierzu auch die Ergebnisse zur Verbreiterung und Ausbreitung der Werte der Studentenbewegung in andere Gruppierungen von Jugendlichen, insbesondere auch Arbeiterjugendliche (Zinnecker 1985a, S. 224ff.).

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  26. Vgl. zur Ausbreitung einer Orientierung am Miteinander-Diskutieren und Aushandeln („herrschaftsfreier Diskurs“) Zinnecker 1985a, S. 187ff., 271ff. und 277ff.

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  27. Allerdings weisen Wahl u. a. auch darauf hin, daß diese ideale Orientierung, die in die alltägliche Erziehungsrealität umgesetzt werden soll, auch oft scheitert. Gerade angesichts materieller Belastungen, starker beruflicher Beanspruchung des Mannes, fehlender äußerer und gesellschaftlicher Unterstützung kann die kindzentrierte Haltung nur unzulänglich realisiert werden, werden die Kinder auch zur Belastung (vgl. dazu auch Rosenow u. a. 1982, S. 250f.). Auf die besondere Relevanz materieller Bedingungen und Belastungsmomente des Familienalltags gerade für die Unterschicht weist auch Engelbert 1982 hin. Wenn auch zu kritisieren ist, daß Engelbert die Herstellung einer „kindgemäßen Umwelt“ in der Familie vor allem anhand der reinen quantitativen, zeitlichen Zuwendung gegenüber dem Kind zu erfassen versucht, eine problematische Ausklammerung der Beziehungsqualität, so stellt sie für diese „Zuwendungszeiten“ doch fest: „Auf den ersten Blick wird deutlich, daß die geringsten Zuwendungszeiten in den Familien der unteren Unterschicht zu finden sind, die unter eher belastenden Alltagsbedingungen leben (hohe Kinderzahl, Alleinzuständigkeit für die Familie, Erwerbstätigkeit der Mutter). Zuwendungszeiten sind in dieser Population (...) generell weniger ,alltäglich’. Unter Bedingungen, die zu ,Dauerstreßsituationen’ des Familienalltags werden können, reduzieren sich die uns interessierenden elterlichen kommunikativen Leistungen hier auf ein absolutes Minimum. Darüber hinaus lassen sich weitere interessante und auf Kontextbedingungen zurückführende Zusammenhänge feststellen. Ein Absinken der mütterlichen Zuwendung mit der Kinderzahl beginnt um so eher, je niedriger der soziale Status der Familie ist.“ (Engelbert 1982, S. 222)

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  28. Dies verweist zurück auf die Überlegungen Lacans und Freuds, auf das Verhältnis von „Ideal-Selbst“ und „Selbst-Ideal“ und auf das damit sich konstituierende Drama des Imaginären, der Kluft im Subjekt (vgl. dazu Kap. 2.5.).

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  29. Dies kann die Form einer direkten Anlehnung an gesellschaftlichen Erfolg annehmen, im Sinne einer Haltung: „Unseren Kindern soll es einmal besser gehen“ (vgl. Wahl u. a., S. 39ff.). Was einerseits als eine „kindzentrierte Haltung“ interpretierbar ist (in diesem Sinne interpretieren Wahl u. a. auch diese Einstellung), kann sich andererseits als „kindzentriert“ getarnte Einfallpforte für eine ungebremste Aufstiegs- und Statusorientierung von Eltern erweisen, die ihrem Kind diese Aufstiegsorientierung aufzwingen. Genauso kann sich das Ideal-Selbst-Projekt-Kind aber auch in Gestalt emanzipatorischer Ideale realisieren. Gerade in kritisch-emanzipato-rischen pädagogischen Programmen und Haltungen kann das Kind als „emanzipatorisches Projekt“ für die kritisch-emanzipativen Ideale der Erwachsenen funktionalisiert werden. Zu diesem kritisch-emanzipativen Mythos der Machbarkeit stellt Ziehe fest: „In seiner Machbarkeit ist es (das Kind, W. H.) nun Repräsentanz einer möglichen emanzipativen Zukunft! Das hat viele progressive Eltern, Erzieher und Lehrer zeitweilig dazu verfuhrt, die Kinder als Projektionsfläche für eigene Emanzipationssehnsüchte zu benutzen: Je mehr über Kinder diskutiert wurde, desto weniger wurden sie in ihrer Realität wahrgenommen.“ (Ziehe/Stubenrauch 1982, S. 78)

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  30. Auf diese Diskrepanz, die sich im Laufe der Verschärfung der gesellschaftlichen Krise von Arbeit und Vollbeschäftigung noch steigert, weisen auch Bilden/Diezinger 1984 und Seidenspinner/Burger 1982 hin.

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  31. Auf diesen Aspekt weisen besonders Seidenspinner/Burger 1982 hin. So sehen sie die Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte vor allem in der immer stärkeren Beteiligung von Mädchen und Frauen an qualifizierten Schul- und Ausbildungabschlüssen begründet, die in vielen Bereichen (z. B. gymnasialer Qualifikation) zu einer Aufhebung des bildungsspezifischen Geschlechtsunterschieds geführt hat (vgl. Zahlenangaben bei Beck-Gernsheim 1983, S. 312; Rerrich 1983, S. 440ff.; Fuchs 1983; Seidenspinner/Burger 1982, Faulstich-Wieland u. a. 1984, Hurrel-mann/Rodax/Spitz 1986, OECD 1986). So sprechen Seidenspinner und Burger von einer „stillen Revolution“ hinsichtlich der Verbesserung des Bildungsniveaus von Mädchen und Frauen. Dabei weist besonders Beck-Gernsheim darauf hin, daß die Ausweitung schulischer Bildung für Mädchen und Frauen, auch wenn die schulischen Lernbedingungen grundlegend zu kritisieren sind, eine Aufsprengung lediglich familienorientierter Verhaltensweisen und Inhalte bedeutet, der Erwerb von Wissen und Kompetenzen ein reflexives Potential und „ein neues privates und politisches Selbstbewußtsein von Frauen entstehen“ läßt (Beck-Gernsheim 1983, S. 313) und faßt für die wachsende Bildungsbeteiligung von Mädchen und Frauen zusammen: „sie öffnet den Zugang zu Bildungsinhalten, die aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Lage ermöglichen und Selbständigkeit herausfordern“ (ebd., S. 313). Dies vor allem auch dadurch, daß Mädchen sich in einem immer deutlicher durch individuelle Leistungs- und Konkurrenzorientierung bestimmten Zusammenhang bewegen, der bei Mädchen und Frauen innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem Umschlagen „vom Schonraum abgehobener Mädchenbildung zum frühen Leistungsdruck des gegenwärtigen Bildungssystems“ geführt hat (ebd., S. 315). Rerrich schließlich räumt in einem zusammenfassenden Vergleich der biographischen Erfahrungen und Möglichkeiten junger Frauen um 1950 und 1980 der besseren Schul- und Berufsausbildung eine wesentliche Bedeutung ein: „Die junge Frau der 50er Jahre bekam keine oder nur eine geringqualifizierte Ausbildung. Sie wurde früh in die Erwerbstätigkeit einbezogen und arbeitete vor der Heirat in der Landwirtschaft, in der Fabrik, vielleicht auch im Büro. Ihre Tochter durfte länger zur Schule gehen und bekam eine bessere Ausbildung mit auf den Weg, vielleicht sogar eine qualifizierte. Nach der Eheschließung arbeitete sie weiter im Beruf, und zwar nicht wie ihre Mutter in der Landwirtschaft oder Fabrik, sondern wahrscheinlich als Angestellte: als Bürokraft, Verkäuferin, Friseuse, in den Gesundheitsberufen. Ihre Erwerbstätigkeit ist nicht unmittelbar an die Familie gebunden (wie im Falle der mithelfenden Familienangehörigen in den 50er Jahren), noch endet sie mit der Eheschließung. Damit macht sie — schon aufgrund ihres schulischen und beruflichen Werdegangs — vor der Geburt ihres ersten Kindes völlig andere biographische Erfahrungen als ihre Mutter sie gemacht hat. Fast unbemerkt bildete sich in dieser Zeit ein neuer biographischer Abschnitt im Leben junger Frauen heraus: die Phase der jungen, mehr oder minder selbständigen Erwachsenen, die nicht mehr in der Abhängigkeit vom Elternhaus steht und noch nicht durch die Geburt eines Kindes in neue Abhängigkeit geraten ist.“ (Rerrich 1983, S. 442). Diese idealtypische Konstrastierung, die nach Schicht-, milieuspezifischen und regionalen Bedingungen zu differenzieren ist, stellt sich für die „Zwischengeneration“ der Frauen, die ihre Jugend Ende der 50er bis Mitte der 60er Jahre erlebten, also die Mütter der gegenwärtigen Jugendgeneration, noch widersprüchlicher dar. Einmal ist deren Kindheit oftmals als Kriegs- oder Nachkriegskindheit zu charakterisieren, d. h. einerseits durch die Wirren, Schrecken und Unsicherheiten dieser historischen Zeitspane gekennzeichnet, andererseits aber auch durch „die relativ große Freiheit“ charakterisiert, die sich nicht einem grundlegenden Wandel der normativen Orientierungen, sondern dem Zusammenbruch organisierter Lebensformen verdankte und zu einer kurzfristigen Rückkehr „zu gleichsam vorindustriellen Lebensformen“ führte (vgl. Preuss-Lausitz u. a. 1983, S. 21 und Geulen/Schütze 1983). Wenn damit zumindest einerseits Erfahrungen von Freiraum und Verselbständigung durch das Fehlen pädagogischer Institutionen, rigider Kontrolle Erwachsener und tendenziellem Einbezug in Erwachsenen vorbehaltene Tätigkeiten für die Kinder möglich waren, so wurden diese Freiräume im Verlauf der ökonomischen, politischen und normativ-moralischen Restauration der 50er Jahre zurückgedrängt. Die Kindheits- und Jugend-sozialisation dieser Zwischengeneration war also (wobei hier wiederum idealtypisch argumentiert wird) durch einen Bruch zwischen Freiraum und Verselbständigung einerseits und rigider pädagogischer Kontrolle und moralischer Überwachung andererseits gekennzeichnet. Dieser „Kindheits-Bruch“, der insbesondere für Mädchen besonders spürbar gewesen sein dürfte, aber wird durch einen zweiten „Bruch“ ergänzt, der besonders die „jungen Erwachsenen“ der 60er Jahre erreichte: Es fand nicht nur eine Auflockerung und Auflösung der rigiden normativen und moralischen Standards der 50er Jahre statt, es eröffnete sich nicht nur zunehmend auch ein Arbeitsmarkt für Frauen, sondern zugleich erfolgten hier die Anfänge der Bildungsexpansion. Damit aber eröffneten sich hier Individualisierungsmöglichkeiten und Freiräume, die zum einen an den „Kindheits-Bruch“ anknüpfen konnten, aber auch im Sinne einer Erwachsenensozialisa-tion relevant wurden (vgl. auch die Ergebnisse von Fuchs/Zinnecker 1985a, S. 25f.), die aber gerade bei den Frauen der Zwischengeneration auf die nicht oder nur unzulänglich realisierten Voraussetzungen, gerade im Bildungs- und Ausbildungsbereich trafen. Gerade diese Zwischengeneration von Frauen — die Mütter der Jugendlichen vom Ende der 70er Jahre und Anfang der 80er Jahre — ist damit durch einen besonders deutlichen Bruch zwischen der Freisetzung von Individualisierungsansprüchen und dem Fehlen subjektiver Voraussetzungen vor allem in Form qualifizierter schulischer und beruflicher Ausbildung gekennzeichnet. Daß es gerade bei dieser Frauengeneration zu einer starken Übertragung ihrer nur unzureichend realisierbaren Individualisierungsansprüche auf ihre Kinder und eine besondere Beachtung und Wertschätzung von Bildungsqualifikationen als subjektive Voraussetzung zur Individualisierung kommt, muß eigentlich nicht verwundern.

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  32. Die These, daß gerade die immer längere Verweildauer von Jugendlichen in Bildungseinrichtungen, wie auch die immer größere Zahl von Jugendlichen, die immer länger in Bildungseinrichtungen verbleibt, wesentliche Voraussetzung für eine Individualisierung sind (vgl. etwa Zinnecker 1981, Fuchs 1983), findet allerdings auch deutlichen Widerspruch. Zwar wird weder die Verselbständigungs-Potentialität schulischer Bildung gegenüber frühem Einbezug in das Beschäftigungssystem grundlegend in Frage gestellt (vgl. Baethge u. a. 1983, S. 226f.), noch die Relevanz zeitlicher und quantitativer Ausdehnung der Schulzeit bezweifelt (vgl. ebd., S. 219, Hurreimann 1983a, S. 265ff.). Allerdings wird auf die Widersprüchlichkeit längerer schulischer Verweildauer hingewiesen, als längeres Verharren „in einem Typ rezeptiver Tätigkeit und praxisentzogener Lernprozesse“, die darüber hinaus noch deutlich hierarchische Strukturen aufweisen (vgl. Baethge u. a., S. 223f.). Vor allem aber wird darauf hingewiesen, daß die längere Verweildauer in schulisch organisierten Bildungseinrichtungen für verschiedene Schulformen und unterschiedliche Gruppierungen Jugendlicher sehr unterschiedlich zu bewerten sind (vgl. etwa Hurreimann u. a. 1984, Bilden/Diezinger 1984, Helsper 1985 und 1987). Vor allem die Ausdehnung der Schulzeit als präventive Maßnahme gegenüber der Erhöhung der Jugendarbeitslosigkeit scheint weniger als Möglichkeit zur Verselbständigung als vielmehr zur Herstellung von Illusionen oder Sinnlosigkeit beizutragen. So stellt Rabe-Kleberg, bezogen auf die dadurch besonders betroffenen Mädchen fest: „Ein anderer Weg, die Jugendzeit — wie sie zunächst noch meinen — sinnvoll zu füllen, d. h. nicht zu warten, sondern etwas zu werden, ist der, allgemeinschulische Ausbildungszeiten zu verlängern bzw. auf vollzeitschulische Maßnahmen wie Berufsgrundbildungsjahr oder berufs- und berufsfachschulische Ausbildungen auszuweichen (...). Vor allem die Vollzeitschulen stellen sich für die Mädchen als , Warte-Schulen’ heraus, da sie keine berufliche Qualifikation vermitteln, bzw. im Fall der hauswirtschaftlichen, erzieherischen und sozialpflegerischen Berufe keine, geringe oder nur Chancen für kurzfristige Berufstätigkeit eröffnen. So werden die Mädchen in einer historischen Zeit- und persönlichen Entwicklungsphase starker beruflicher Orientierung von einer , Warteschleife’ in die nächste geleitet (vgl. Berufsbildungsbericht NW 1983) und wenn nicht gar in Resignation (,no future’), so doch zumeist in eine Situation zwar bewundernswerten, aber illusionären Hoffens entlassen.“ (Rabe-Kleberg 1984, S. 302f.).

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  33. Hinweise hierzu finden sich bei Hurreimann 1983a, S. 279f., wenn er darauf hinweist, daß sich die „Optimierungsstrategie“ zur Sicherung der bestmöglichen schulischen Qualifikation zur Sicherung des Sozialstatus auch auf seiten der Eltern findet. Und Geulen/Schütze kommen im Vergleich der Nachkriegs- und der Konsumkinder (die um 1960 geborenen) zur folgenden Einschätzung: „Es fällt auf, daß die persönliche Relevanz der Schule, der notwendigen Arbeiten usw. für unsere Befragten nicht aus der Schule selbst hervorgeht, sondern von den Eltern definiert wird. Wir haben mehrmals nach Erfahrungen von Belastung und ,Schulstreß’ gefragt und erhielten überraschenderweise ausnahmslos Antworten, die sich auf das Verhalten der Eltern, insbesondere im häuslichen Kontext der Hausaufgaben bezogen. Schule und Lehrer treten also weniger als fordernde und disziplinierende Instanzen in Erscheinung, vielmehr fungieren die Eltern als verlängerter Arm der Schule. Ein generationsspezifischer Effekt dürfte das insofern sein, als wir uns hier ja in der Phase der Bildungswerbung und Bildungsreformideologie befinden, die zumindest die ehrgeizigen Eltern entsprechend aktivierte.“ (Geulen/Schütze 1983, S. 50). Und in einer aktuellen Untersuchung stellt Furtner-Kallmünzer fest, daß Schule und Familie voneinander abgesonderte, getrennte Lebensbereiche sind, die aber gerade hinsichtlich der Leistungsanforderungen eine problematische Verbindung eingehen: „Dabei wird in den Bereichen, in denen Lehrer und Eltern miteinander sprechen, im Leistungs- und Verhaltensbereich der Schüler, das Interesse der Schüler im Hinblick auf die Unterstützung durch die Eltern gegen die Schule (ein Interesse, das auf den Problemen der Schüler selbst mit der Schule beruht) oft nicht befriedigt. D. h., die Schüler erfahren zum Teil, daß sich Lehrer und Eltern gemeinsam gegen sie stellen. — Im Hinblick auf Leistung und Selektion ist der Bezug der Eltern zur Schule aus der Sicht der Schüler zwar vorhanden, jedoch in vielen Fällen für die Schüler nur negativ, d. h. als eine ,Verdopplung’ der schulischen Probleme im familiären Bereich erlebbar. Viele Eltern verstehen die leistungsbezogenen Probleme und Erfahrungen ihrer Kinder nicht, gewähren keine psychosoziale Unterstützung im Hinblick auf den Leistungsbereich, sondern belasten die Schüler zusätzlich, und stellen ihre soziale Beziehung zu den Schülern in Abhängigkeit vom Leistungsbereich in Frage.“ (Furtner-Kallmünzer 1983, S. 83f.) Sehr deutlich werden diese Tendenzen und besonders das Anwachsen der schulischen Leistungen als familialer Konfliktstoff in zwei Jugenduntersuchungen der letzten Jahre. So geben in der Studie „Mädchen 82“ immerhin 38 % aller befragten Mädchen an, daß sie mit ihren Eltern wegen ihrer Einstellung zur Schule/Ausbildung Probleme haben (vgl. Seidenspinner/Burger 1982, Tabellenteil, S. 49). In der Studie „Jugendliche und Erwachsene 85“ zeigt sich die Bedeutung schulischer Leistungen als Konfliktstoff in der Familie noch deutlicher. Während in der Mädchenstudie die innerfamilialen Auseinandersetzungen um die Schule auf dem 778. Rangplatz der Konfliktstoffe rangieren, liegen die Auseinandersetzungen um die schulischen Leistungen in der Shell-Studie 85 auf Rangplatz 3, nur noch übertroffen von Auseinandersetzungen über „mangelnde Hilfsbereitschaft“ zuhause und „Unordentlichkeit“ (vgl. Zinnecker 1985a, S. 116). Dabei geben Jungen mit 80 % gegenüber Mädchen mit 69 % deutlich häufiger an, wegen schulischer Leistungen Auseinandersetzungen mit ihren Eltern zu haben (ebd., S. 118). Deutlich ist auch der Anstieg der berichteten familialen Auseinandersetzungen um die Schule seit den 50er Jahren. So steigen die Angaben von 60 % in den 50er auf 74 % in den 80er Jahren, wobei die Angaben sehr häufig und häufig wegen schulischer Leistungen Konflikte mit den Eltern zu haben, besonders deutlich steigen (wenn auch einschränkend auf eine generelle Tendenz der Erhöhung sehr häufiger oder häufiger Konflikte hinzuweisen ist): von 14 % in den 50er auf 31 % in den 80er Jahren.

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  34. Auf diese Zusammenhänge weist auch schon Richter hin (vgl. Richter 1963, S. 170ff.). Unter der Dominanz narzißtischer Projektionen soll das Kind besondere Fähigkeiten erlangen, zu etwas Besonderem und Außergewöhnlichem werden und damit auch den Eltern zu gesellschaftlicher Anerkennung verhelfen. So weist Richter schon auf Bildungskarrieren, Prestigestreben in Form von „Abitur“ und „Studium“ hin, die glänzende gesellschaftliche Karrieren eröffnen sollen. In ähnlicher Weise können sich die idealen Erwartungen auf „künstlerisch-darstellerische“ Fähigkeiten richten (vgl. ebd., S. 172ff.). Und: „Im Extremfall soll das Kind auf möglichst allen Leistungsgebieten und im gesellschaftlichen Benehmen ein preiswürdiges Musterkind sein. Überall soll es Perfektion erreichen“ (ebd., S. 173).

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  35. Dies bedeutet nicht, daß sich diese strukturelle Widersprüchlichkeit in unverminderter Form notwendig auch in die interaktionellen Mikroprozesse der sozialisatorischen Interaktion hinein verlängert. Vielmehr ist dies so zu verstehen, daß die sozialisatorischen Interaktionsprozesse vor dem Hintergrund dieser strukturellen Antinomie anfälliger für inkonsistente „Praxisfiguren“ innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung werden.

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  36. Vgl. dazu Habermas 1973a, S. 96ff. Dort bringt Habermas die fortschreitende Erosion kultureller Traditionen damit in Zusammenhang, daß diese vom politisch-administrativen System zur Legitimationsbeschaffung funktionalisiert werden. Gerade damit aber büßen sie ihre sinnverbürgende Kraft ein, denn ihre legitimatorische Potentialität behalten Traditionen nur, „solange sie nicht aus kontinuitätssichernden und identitätsverbürgenden Deutungssystemen herausgebrochen werden“ (ebd., S. 100). Damit aber werden die Reproduktionsbedingungen kultureller Überlieferungen verletzt, die entweder auf unbefragte Tradierung oder kritisch-diskursive Aneigung angewiesen sind. Indem aber im Zusammenhang der Legitimationsbeschaffung sich die Grenze des politischen Systems gegenüber dem kulturellen verschiebt, „geraten kulturelle Selbstverständlichkeiten, die bis dahin Randbedingungen des politischen Systems waren, in den Planungsbereich der Administration. So werden Überlieferungen thematisiert, die der öffentlichen Programmatik und erst recht praktischen Diskursen entzogen waren“ (ebd., S. 101). Dabei weist Habermas besonders auf die Schul- und Curriculumdiskussion, wie auch auf die „Proble-matisierung der Erziehungsroutinen“ (ebd., S. 101) hin. Damit erreichen die Versuche der Legitimationsbeschaffung eher das Gegenteil: „Auf allen Ebenen hat die administrative Planung nicht intendierte Beunruhigungs- und Veröffentlichungseffekte, die das Rechtfertigungspotential der aus ihrer Naturwüchsigkeit aufgescheuchten Traditionen schwächen. Wenn deren Fraglosigkeit erst einmal zerstört ist, kann die Stabilisierung von Geltungsansprüchen nur noch über Diskurse gelingen.“ (ebd., S. 102) Dadurch kommt es schließlich zu einer Verknappung der Ressource „Sinn“, was auf Seiten der Subjekte sich als Destruktion der Motivationsbasis niederschlägt (vgl. ebd., S. 109ff.). In Anlehnung an Negt/Kluge und Haug weist Ziehe darauf hin, daß das mit der Zersetzung sinnverbürgender traditioneller Weltbilder entstehende Sinn-Vakuum mit der Warenwelt und Warenästhetik entnommenen Ersatzweltbildern ausgefüllt werden kann, die als Sinn-Surrogate erscheinen (vgl. zusammenfassend Ziehe 1979, S. 72ff.).

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  37. Diesen „Gang zum Experten“ analysieren Ostner/Pieper anhand einschlägiger familientherapeutischer oder -beratender Literatur und Berichte. Sie stoßen auf eine typische „Berater-Klientel-Familie“ mit einer bestimmten Familienstruktur und Kommunikationsweise (vgl. Ostner/Pieper 1980). Dabei heben sie hervor, daß die Familien sich als „geschlossenes System“ darstellen, so daß die Mobilisierung äußerer Ressourcen und Beziehungen erschwert ist; die interne Familienstruktur ist starr und zwanghaft geregelt, läßt wenig Spielraum für flexiblen Umgang miteinander; die Herstellung einer „gemeinsamen Sache“ mißlingt und an deren Stelle treten „Symptome“ von Familienmitgliedern oder es entsteht eine „Pseudogegenseitigkeit“. Insgesamt halten Ostner/Pieper fest: „Je weniger flexibel die Familie ihr Zusammenleben organisiert (vgl. starre bzw. chaotische Familienstruktur und Kommunikationsweise), je weniger können sie sich in für sie befriedigender Weise aufeinander beziehen (vgl. Pseudogegenseitigkeit), je unfähiger werden sie, Anforderungen gemeinsam zu meistern (vgl. geringe Problemlösungskapazität und -kompe-tenz) und je eher sind sie überlastet (vgl. restringierte Belastbarkeitskapazität). Die pathologischen Symptome, die die Familie schließlich entwickelt, sind Anzeichen dafür, daß sich das Familienleben wie in einem Zirkel ,totläuft’“ (ebd., S. 159). Als zentrales Beziehungsproblem erscheint — ähnlich wie schon hinsichtlich der Grenzziehung zwischen Familie und gesellschaftlichem ,Draußen’ — die Grenzziehung zwischen den Familienangehörigen, „Grenzen zwischen ,Ich’ und ,Du’ zu setzen und zu ertragen“ (ebd., S. 160). So werden immer wieder narzißtische Instrumentalisierungen berichtet, in denen ein Familienangehöriger (oftmals Kinder) als Verlängerung und Erweiterung des Selbst anderer gebraucht wird: „Angst vor, ebenso wie Bedürfnis nach Nähe und nach Distanz zu anderen Menschen — dieses ,Abgrenzungsproblem’ zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte familientherapeutische Literatur“ (ebd., S. 161). Dies aber verweist zurück auf die Auswirkungen des Individualisierungsprozesses in den familialen Zusammenhang hinein, auf die damit gesetzte Ambivalenz von Individualität und affektiver Solidarität innerhalb der Familie und der Anforderung ständiger reflexiver Balance. Diese typische „Berater-Klientel-Familie“ und deren Kommunikationsverzerrung beziehen Ostner/Pieper wiederum auf die strukturellen Problematiken der „leeren Form Privatheit“: „Diesen Familien gelingt es offenbar nicht oder nur über den Umweg von Krankheit, eine solche gemeinsame Sache’ zu finden: Ihre familiale Binnenstruktur, sei sie nun ,starr’ oder ,chaotisch’, gestattet es ihnen nicht, sich immer wieder neu und neuen Situationen angemessen auf eine inhaltliche ,Auffüllung’ der leeren Form Privatheit zu einigen. Vielmehr wehren diese sich ,homöostatisch regulierenden Familien’ Anforderungen und Belastungen ab, wie sie mit immer neuen Verständigungsprozessen über die gemeinsame Sache (zwangsläufig) verbunden sind. Und sie verlieren so zunehmend die Fähigkeit, miteinander etwas (Gemeinsames) auszuhandeln’. Voraussetzung hierzu wäre, daß die einzelnen Familienmitglieder jeweils unterschiedliche Gefühle und Erfahrungen der anderen Familienmitglieder als zumindest gültig für diese akzeptieren können. Das aber beinhaltet, jeweils abgrenzen zu können zwischen Ich und Du, zwischen unterschiedlichen Interessen und Situationen. Gerade die prinzipielle Offenheit der privaten Lebensform Familie stellt also große Anforderungen an die Familienmitglieder, wenn es darum geht, bei der Suche und Definition der ,gemeinsamen Sache’ die eigenen Bedürfnisse nach Nähe und Distanz zu anderen Familienmitgliedern jeweils zu kennen, zu äußern, die der anderen zu erkennen, anzuerkennen und situationsadäquat zu ,synchronisieren’. Das meinen wir, wenn wir von familialer Arbeit als Beziehungs-Arbeit sprechen.“ (ebd., S. 164f.).

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  38. Daß die Familie immer wieder mit Balanceproblemen konfrontiert wird, bei der Geburt des ersten Kindes, bei einschneidenden Veränderungen der Eltern selbst (z. B. Berufstätigkeit, neue Interessen und Ansprüche usw.), aber auch bei der Geburt jedes weiteren Kindes, verdeutlichen die Beiträge von Kreppner/Paulsen/Schütze 1982 und Schütze 1982, indem sie die Balance- und Integrationsprobleme bei der Geburt des zweiten Kindes beschreiben.

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  39. Für eine Differenzierung dieser Einflußprozesse nach spezifischen Variablen (Alter, Schicht, Geschlecht usw.) vgl. Zinnecker 1985a, S. 266ff.

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  40. So referiert Schulz, daß die starke Betonung des Selbst in Form von „Individualismus“ sich in einer amerikanischen Studie besonders bei jüngeren Eltern zeigte: In der gegenüber älteren Jahrgängen geringeren Bereitschaft für die Kinder Opfer zu bringen und demgegenüber der Hervorhebung von „Selbst-Erfüllung“ (vgl. Schulz 1983, S. 416). Und grundsätzlich weist Schulz daraufhin, daß Familie und Ehe als Lebensform unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen dazu tendiert, spezifische Ambivalenzen für die Individuen zu erzeugen: „eine Entscheidung für die Zweierbeziehung bedeutet ganz analog zur Mitgliedschaft in einer Kleingruppe a) mehr Geborgenheit einerseits, mehr Einengung andererseits, b) mehr Gefühle nach innen, weniger Gefühle nach außen, c) mehr Kommunikation nach innen, Tendenz zur Isolation nach außen, d) mehr Realisierung gemeinsamer Ziele, geringere Möglichkeit, individuelle Zielsetzungen zu realisieren“ (ebd., S. 410).

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  41. Und selbst dies ist nicht eindeutig festlegbar, denn die als „Ausstoßungsmodus“ beschriebene Eltern-Kind-Interaktion erinnert auch an die skizzierten historisch früheren Formen von Gleichgültigkeit und Desinteresse gegenüber dem kleinen Kind. Um diese spezifische Form „systematisch gebrochener Praxis“ in kausalen Zusammenhang mit Prinzipien der Warenabstraktion zu bringen, muß entweder (empirisch) verdeutlicht werden, daß unter dem Druck verdinglichter Arbeitsverhältnisse und Tauschbeziehungen die Erwachsenenpsyche entstrukturiert und durch Tauschbeziehungen formiert wird, oder daß die bisherige Sozialisation der Eltern durch das Eindringen von Tauschabstraktionen in deren Individuationsprozesse zu einer bereits „deformierten“ Psyche führte. Vor allem aber muß die mit dem „Ausstoßungsmodus“ gefaßte Eltern-Kind-Interaktion davon unterschieden werden, was Ostner als das Herstellen einer Möglichkeit zur „Warenform“ im Kontext privater-familialer Erziehungsarbeit beschreibt, indem sie darauf hinweist, daß auch „die Mutter ein Bild von ihrem Kind (hat), das in Ansätzen einer Warenform gleichkommt (der richtige Junge, der leistungsfähig werden muß)“ (Ostner 1978, S. 178). Gerade aber diese Leistungsfähigkeit, wie auch die Verinnerlichung der Normen abstrakter Arbeit, kann nicht aufgrund von Gleichgültigkeit hergestellt werden, sondern bedarf einer ständigen „erzieherischen Aufmerksamkeit“. Gleichgültigkeit im Sinne des Ausstoßungsmodus würde genau die Grundlage der „Warenform“ im kindlichen Subjekt nicht herstellen.

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  42. Damit soll keineswegs ignoriert werden, daß auch in der Gegenwart offene Formen von Kindesmißhandlung und -Vernachlässigung noch erschreckend hoch sind, vor allem wenn die hoch veranschlagte Dunkelziffer mitberücksichtigt wird (vgl. etwa Zenz 1979, Honig 1982).

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  43. Auf diesen Aspekt weist besonders auch Ziehe in seiner Kritik antipädagogischer Positionen hin: „Insbesondere die Elterngeneration, die im Ausgang der Studentenbewegung antiautoritäre Erziehungspositionen propagiert und praktiziert hat, stand objektiv in der Regel unter einem enormen Arbeits- und Zeitdruck im eigenen Alltag. Das hatte hinsichtlich der Kinder nicht selten einen Effekt, den man durchaus als ,Vernachlässigung’ sehen kann, und rief bei den Eltern Schuldgefühle hervor. Es entwickelte sich eine umfassende Stimmung, etwas wiedergutmachen zu müssen. Dieser immense Schulddruck scheint uns wichtig zu sein, un den tiefgreifenden Moralismus zu verstehen, der dann in der masochistisch-depressiven Forderung gipfelte, die Generationspositionen buchstäblich aufzugeben. Die Angst davor, den Kindern auch einmal nein zusagen, ist ja psychodynamisch zu verstehen, wenn das zwar ungewollte, aber real gelebte ,Nein’ der Eltern so schmerzhaft geworden ist. Je stärker die reale Ambivalenz im Verhältnis zu den Kindern gespürt wurde, um so weniger durfte sie im Programm des aufzugebenden Generationsunterschieds noch auftauchen. Die eigene Ambivalenz wird gleichermaßen erlitten wie zugedeckt.“ (Ziehe/Stubenrauch 1982, S. 79)

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  44. In diesem Zusammenhang gehört auch die Bedeutung der „neuen Medien“, also Fernsehen, Video, Telespiele usw., die benutzt werden können, um Kinder „stillzustellen“. Die Diskussion um die möglichen Folgen der neuen Medien für die kindliche Individuation vernachlässigt allerdings oftmals, daß die Wirkungsweise der medialen Erfahrungsrealität immer nur im Rahmen der Eltern-Kind-Interaktion angemessen interpretiert werden kann. Wenn Kinder zur eigenen Entlastung und Freiraumsicherung möglichst lange und unreflektiert den Massenmedien ausgesetzt werden, dann läßt sich Rolffs These, daß „Massenkultur zur zentralen Sozialisations-instanz“ wird (vgl. Rolff 1983) halten. Allerdings auch nur dann, denn wenn Eltern andererseits immer wieder auch „Vermittlungsarbeit“ leisten, dann tritt neben die mediale Erfahrungsrealität auch die anders strukturierte der Eltern-Kind-Interaktion und der darin stattfindenden Aneignung. So ist Rolffs Schluß, daß mit der Ausdehnung medialer Erfahrung, als Erfahrung „aus zweiter Hand“, die auf Kosten „unmittelbarer Erfahrung“ geht (vgl. auch Bauer/Hengst 1980, Negt/Kluge 1972) und die als Ablösung einer Wortkultur durch eine Bildkultur zu charakterisieren ist, ein neuer kindlicher Sozialcharakter entsteht, kurzschlüssig. Wenn Rolff die Konturen dieses „neuen Sozialcharakters“ bestimmt „als Verlust von Eigentätigkeit und Durchsetzung von Konsumismus einer Bildkultur“ (Rolff 1983, S. 160), so schließt er hier von der Struktur medialer Erfahrung direkt auf die psychische Struktur von Kindern. Damit aber entgeht ihm, daß sich die mediale Struktur nur unter bestimmten Bedingungen eines Insgesamt kindlicher Sozialisations-bedingungen in dieser Form psychisch niederschlägt. Indem er einfach von der komplexen Vermittlung medialer Erfahrung in psychische Realität absieht, gelangt er zum Postulat eines neuen kindlichen Sozialcharakters, der lediglich als Verdoppelung äußerer gesellschaftlicher Entwicklungen begriffen wird. Gerade die Problematik der Umsetzung in die Psyche bleibt so ausgeklammert.

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  45. Allerdings widersprechen einige Untersuchungen diesem „Inselcharakter“ der Familie. So stellen Grabe und Lüscher fest, „daß man generell sicherlich nicht von einer Isolation von Familien in Hinblick auf soziale Beziehungen sprechen kann.“ (Gräbe/Lüscher 1984, S. 119). Allerdings ist zu bezweifeln, ob die letztlich doch sehr formale Auswertung der Interviews eine hinreichende Basis zur Einschätzung der Isolationsproblematik bietet. Auch Nave-Herz relativiert die These von der Isolation der Kleinfamilie (Nave-Herz 1985). Allerdings verdeutlicht sie, daß bei der Geburt eines Kindes eine stärkere Orientierung auf das familiale Interieur erfolgt und die Außenkontakte abnehmen.

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Helsper, W. (1989). Die familiale Ambivalenz: „Neue Emotionalität, Krisenhaftigkeit und Verdinglichung“. In: Selbstkrise und Individuationsprozeß. Beiträge zur psychologischen Forschung, vol 17. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-88889-1_4

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