Zusammenfassung
Schmerz ist keine zuständliche Gefühlsempfindung, sondern ein dynamischer Konflikt im leiblichen Befinden: Ein expansiver Drang wird übermächtig abgefangen. Dabei handelt es sich um eine Gestalt der allgemeinen Struktur des spürbaren Leibes: des Antagonismus von Engung und Weitung. Beide Tendenzen sind teils konkurrierend ineinander verstrickt, teils lösen sie sich partiell voneinander. Im ersten Fall ergibt sich bei Übergewicht der Engung etwa Beklommenheit, Angst oder Schmerz, bei Übergewicht der Weitung Wollust (nicht nur geschlechtliche. Angst, Schmerz, Wollust sind polare und konvertierbare Konstellationen der antagonischen Konkurrenz von Engung und Weitung. Von Angst und Wollust unterscheidet sich der Schmerz durch ein Defizit rhythmischer Konkurrenz, daher weniger dramatische Schwingungsfähigkeit und schwache Begabung zur Resonanz auf Atmosphäre, die Gefühle sind. Statt dessen vollbringt er Individuation, indem er das Dahinleben (Ergossenheit in Dauer und Weite) zerreißt, ohne dabei (wie der Schreck) Engung von Weitung abzuspalten; im Schmerz bleiben beide Tendenzen zusammen, aber die Weitung wird unterdrückt. Das ist seine Grausamkeit, die er mit der bitteren Enttäuschung teilt. Man kann der Hemmung und Engung im Schmerz nicht bloß leidend folgen wie in Hunger und Beklommenheit, sondern muß sich widerstrebend auseinandersetzen. Schmerz sammelt und pointiert das sonst in vage Ergossenheit ausgleitende Leben; diese zugleich vereinzelnde und isolierende Leistung seiner Grausamkeit kann mehr oder weniger (aber vielleicht nicht adäquat) von anderen leiblichen Regungen übernommen werden. Sie gehört zum nicht bloß pflanzenhaften Dasein und ist für Konturierung und Festigung personaler Individualität unentbehrlich.
Summary
Pain is no static Sensation, but a conflict of two antagonistic tendencies in the dimension of the felt bodily states or conditions (‘leibliches Befinden’), one of widening and one of narrowing: an expansive impulse is forcibly detained by a restraining one. The author sketches his category-analysis of ‘leibliches Befinden’ with special attention to the relations of sensible narrowing and widening, the interaction of which may be simultanious (intensive) or successive (rhythmical). Examples of more rhythmical interactions are anguish and lust (in its higher degrees), whereas the interaction of the both tendencies in pain is only intensive. Therefore pain is not so adaptable to atmospheres of feeling as anguish, because of defect in oscillating resonance, and not so similar in grasping power to sentiments as lust. On the other side, pain entangles persons in the conflict of widening and narrowing more than any other bodily Sensation, because the repressed tendency of escaping in pain itself accompanies and represses at the same time the tendency of the person to escape pain. This is the special cruelty of pain, a very marked type of the permanent cruelty of ‘leibliches Befinden’. Such cruelty is necessary for stopping the vegetative gliding life of e.g. dozing or otherwise relaxed people by the shock of presence, the primitive presence, as the author says; there is no adult and considerate personality without the concentration stirred up by such shocks of primitive presence.
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Anmerkungen
Schmitz H., System der Philosophie I (Bonn 1964, 2. Aufl. 1981)
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© 1989 Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig
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Schmitz, H. (1989). Der Zwang zur Grausamkeit Der Schmerz als Konflikt und seine anthropologische Bedeutung. In: Greifeld, K., Kohnen, N., Schröder, E. (eds) Schmerz — interdisziplinäre Perspektiven. Vieweg+Teubner Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-322-88781-8_18
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