Zusammenfassung
Wer die inflationäre und häufig gedankenlose Verwendung des Emanzipationsbegriffs in westlichen Industriegesellschaften irritiert zur Kenntnis nimmt (1), stellt gleichzeitig mit Erstaunen fest, daß dieser Terminus in der Theoriediskussion sozialistischer Staaten eine Rarität zu sein scheint. Selbst einschlägige Fachwörterbücher ignorieren dort das Stichwort Emanzipation, das der westlichen Linken vielfach als ein Signum für progressive gesellschaftliche Orientierung gilt. Der durch diesen merkwürdigen Sachverhalt aufkommende Verdacht, es könne sich bei dem Grundpostulat aufklärerischer Demokratietheorie um ein bloßes Element bürgerlichen Bewußtseins handeln, das als Maßstab zur Beurteilung sozialistischer Gesellschaftssysteme wenig tauglich ist, läßt sich leicht entkräften; denn kein Geringerer als Karl Marx hat die Verwirklichung der menschlichen Emanzipation als Kriterium sozialistischer Entwicklung verstanden und sich daher folgerichtig um eine prägnante Fassung dieses Prinzips bemüht, deren Vergegenwärtigung als Ausgangspunkt für unsere Leitfrage nach dem emanzipatorischen Charakter sozialistischer Gesellschaftsentwicklung dienen soll.
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Anmerkungen
Vgl. dazu Wolf-Dieter Narr, Ist Emanzipation strukturell möglich? Bemerkungen zur kostenlosen Inflation eines Werts. In: Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Emanzipation, Hamburg 1973, S. 193 ff.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 1955, S. 207 (§ 257).
Da das Prinzip der Gleichheit strukturell mit dem Prinzip der Freiheit verknüpft ist, kann es nicht in einem vulgären Verständnis mit Gleichförmigkeit verwechselt werden; denn Freiheit schließt ja freie Selbstentfaltung, d.h. die Verwirklichung von Individualität unter den Bedingungen der durch die Gleichheit ermöglichten gesellschaftlichen Solidarität ein. Das Gleichheit nicht formal verstanden werden darf, sondern in ihrer substantiellen Bindung an Freiheit und Solidarität gesehen werden muß, macht Marx deutlich, wenn er Proudhons Formel von der Gleichheit der Salaire als unzulänglich abweist. Denn diese „verwandelt nur das Verhältnis des jetzigen Arbeiters zu seiner Arbeit in das Verhältnis aller Menschen zur Arbeit. Die Gesellschaft wird dann als abstrakter Kapitalist gefaßt.“ (MEW Erg.—Bd. 1, S. 521 )
Indern Marx die strukturelle Bedingtheit gesamtgesellschaftlicher Konsens-bildung aufweist, gelingt es ihm, die von Rousseau konstatierte Differenz zwischen der volonté de tous und der volonté générale theoretisch zu überwinden. Der empirisch zu ermittelnde, sich konkret manifestierende Wille der Mitglieder der Gesellschaft (volonté de tous) konvergiert nach Marx unter der Voraussetzung struktureller Gleichheit notwendig mit jenem gesamtgesellschaftlichen Willen, der die vernünftigen Interessen der Mitglieder der Gesellschaft (volonte g enerale) ausdrückt.
Es ist das Verdienst Herbert Marcuses, diesen Aspekt der Marxschen Emanzipathionstheorie besonders deutlich herausgearbeitet zu haben. Vgl. unten, S..
Vgl. zu diesem Komplex die ausführliche Studie von Thomas Meyer, Der Zwiespalt in der Marxschen Emanzipationstheorie. Studie zur Rolle des proletarischen Subjekts, Kronberg/Ts. 1973.
Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 593.
Zum Gesamtzusammenhang vgl. jetzt auch die Studie von Milan Prucha, Der Humanismus als Theorie der Emanzipation, in: Milan Prucha/Rüdiger Thomas, Marx und die Folgen. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Marxschen Denkens, Mainz 1974.
W. I. Lenin, Werke. (In 40 Bänden und 2 Registerbänden.) Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1955–1964. Bd. 1, S. 303.
Vgl. die Ausführungen von Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“, MEW 3, S. 37.
Vgl. dazu Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Reinbek 1969.
Rosa Luxemburg, Politische Schriften Ill, Frankfurt a.M./Wien 1968, S. 101 u. S. 105.
Leo Trotzki, Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek 1970, S. 72.
Preobrazenskij, Novaja ekonomika. Moskva 1926. Zit. nach Hans Raupach: Geschichte der Sowjetwirtschaft I. Reinbek 1964, S. 200 f.
J.W. Stalin, Werke. (In 13 Bänden.) Hrsg. vom Marx-Engels-Lenin-Institut beim ZK der SED. Berlin 1950–1955, Bd. 8, S. 125.
Ich verwende hier eine begriffliche Unterscheidung, die zuerst Ernst Richert vorgeschlagen hat.
Vgl. vor allem seinen für den XII. Parteikongreß der KPR(B) vorgesehenen Beitrag „Wie wir die Arbeiter-und Bauerninspektion reorganisieren sollen“, in dem die Warnung von einer Bürokratisierung deutlich formuliert wird. Siehe Lenin, Werke 33, S. 470.
Michail Suslov, Die KPdSU-Partei des schöpferischen Marxismus. In: Der XXIV. Parteitag der KPdSU und die Entwicklung der marxistisch-leninistischen Theorie, Berlin 1972, S. 12.
Petr Demicev: Der entwickelte Sozialismus — eine Stufe auf dem Wege zum Kommunismus. In: Probleme des Friedens und des Sozialismus 1/1973, S. 16.
Grigorij Glezerman, Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung im Sozialismus. In: Probleme des Friedens und des Sozialismus 3/1972, S. 385.
Vgl. insbesondere Maos Schrift „Über die richtige Lösung von Widersprüchen im Volke“ (1957).
Predrag Vranicki, Geschichte des Marxismus. Zweiter Band, Frankfurt a.M. 1974, S. 629.
Leo Trotzki, Verratene Revolution, Zürich 1957, S. 231.
Das Programm des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, Beograd 1958, S. 43.
Eine konkrete Analyse der Funktionsweise der gesellschaftlichen Selbstverwaltung in Jugoslawien muß an dieser Stelle unterbleiben. Stattdessen sei vor allem auf Branko Horvat: Die Arbeiter-Selbstverwaltung. Das jugoslawische Wirtschaftsmodell. München 1973 hingewiesen.
Programm des Bundes der Kommunisten, a.a.O., S. 208.
Svetozar Stojanovic, Kritik und Zukunft des Sozialismus, München 1970, S. 178.
Vgl. Oskar Lange, Entwicklungstendenzen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft, Wien 1964, S. 27 f.
Mao Tse-tung, Der Platz der KPCh im nationalen Krieg. Zit. nach: Mao Tse-tung. Über die Revolution. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Tilemann Grimm, Frankfurt a.M. 1971, S. 310 f.
Mao Tse-tung, Ober die neue Demokratie. In: Ausgewählte Werke. Bd. 2, Peking 1969, S. 401.
Mao Tse-tung, Die chinesische Revolution und die KP Chinas. In: Ausgewählte Werke. Bd. 2, Peking 1969, S. 380.
Mao Tse-tung, Die gegenwärtige Lage und unsere Aufgaben. In: Ausgewählte Werke. Bd. 4, Peking 1969, S. 174.
Mao Tse-tung, Einige Fragen der Führungsmethoden. In: Ausgewählte Werke. Bd. 3, Peking 1969, S. 137 f.
Mao Tse-tung, Über die richtige Lösung von Widersprüchen im Volke, Berlin 1959, S. 5.
Enrica Colloti Pischel, Die chinesische Kulturrevolution, Frankfurt a.M. 1970, S. 14.
Mao Tse-tung, Woher kommt das richtige Bewußtsein der Menschen? In: Grimm, a.a.O., S. 322.
Leninismus oder Sozialimperialismus? In: Grimm, a.a.O., S. 400.
Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution, Neuwied 1972, S. 249 f.
Rudi Supek, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. In: Gajo Petrovic (Hrsg.), Revolutionäre Praxis. Jugoslawischer Marxismus der Gegenwart, Freiburg i.Br. 1969, S. 127.
Rudi Supek, Soziologie und Marxismus, Freiburg i.Br. 1970, S. 35.
Leszek Kolakowski, Ist der bürokratische Sozialismus reformierbar? In: Neues Forum Oktober/November 1971, S. 25.
Marek Fritzhand, Eticka misao mladovo Marksa, Beograd 1966 (poln.: Warszawa 1961 ), S. 19.
Adam Schaff, Marxismus und das menschliche Individuum, Wien-Frankfurt a.M.-Zürich 1965, S 236.
Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1970. S. 31.
Herbert Marcuse, Freiheit und Notwendigkeit. Bemerkungen zu einer Neubestimmung. In: Marx und die Revolution, Frankfurt a.M. 1970, S. 22 f.
Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt a.M. 1973, S. 76.
Claus Offe, Technik und Eindimensionalität. Eine Version der Technokratiethese? In: Antworten auf Herbert Marcuse. Hgg. von Jürgen Habermas, Frankurt a.M. 1968, S. 103.
Vgl. insbesondere Roger Garaudy, Die große Wende des Sozialismus, Wien-München-Zürich 1970, sowie ders., Die Alternative. Ein neues Modell jenseits von Kapitalismus und Kommunismus, Wien-München-Zürich 1973.
Habermas zeigt, daß Wissenschaft und Technik zur ersten Produktivkraft geworden sind, wodurch ein eigentümliches technokratisches Bewußtsein entsteht, nach dem die Entwicklung des Systems durch „die Logik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ bèstimmt scheint. „Wenn dieses technokratische Bewußtsein, das natürlich ein falsches Bewußtsein ist, die Evidenz einer alltäglichen Selbstverständlichkeit erlangt, dann kann der Hinweis auf Technik und Wissenschaft erklären und legitimieren, warum in modernen Gesellschaften ein demokratischer Willensbildungsprozeß über praktische Fragen seine Funktionen verlieren und durch plebiszitäre Entscheidungen über alternative Führungsgarnituren des Verwaltungspersonals ersetzt werden muß. In diesem Sinne übernehmen Technik und Wissenschaft heute eine doppelte Funktion: sie sind nicht nur Produktivkraft, sondern auch Ideologie.” (Jürgen Habermas, Bedingungen für eine Revolutionierung spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme. In: Marx und die Revolution, Frankfurt a.M. 1970, S. 31.
Garaudy, Die Alternative, a.a.O., S. 229.
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Thomas, R. (1975). Die kalkulierte Emanzipation. Zur Theorie und Praxis gesellschaftlicher Transformationsprozesse im Sozialismus. In: Hartfiel, G. (eds) Emanzipation — Ideologischer Fetisch oder reale Chance?. Kritik, vol 6. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-88713-9_4
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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