Zusammenfassung
Eine Thematisierung1 des Stellenwertes, den Verfassungsfragen im weitesten Sinne für die epochenspezifische Interpretation der politischen Kultur einer Gesellschaft gewinnen können, gehört bislang noch nicht zu den einschlägig erörterten Problemkreisen dieses Forschungsansatzes.2 Die in positiven Normen faßbare Kodifikation von Grundrechten sowie konstitutiven Verfahrensregeln zum einen und der sich jeglicher Positivierung verschließende Charakter der politischen Kultur mit ihrer unter- und hintergründigen Wirkung auf kollektive Akteure zum anderen erscheinen auf den ersten Blick — zumal in kontinentaleuropäischen und speziell deutschen Geschichts- und Theoriehorizonten — als geradewegs inkommensurable Größen. Immerhin findet sich bei Karl Rohe — im Ergebnis seines durch die andersartigen englischen Traditionslinien komparatistisch geschärften Blickwinkels — der beiläufige Hinweis, daß sich die “grundlegenden politischen Vorstellungen eines Kollektivs zu operativen Normen, eingeschliffenen Gewohnheiten, Konventionen, ‘öffentlichen Tugenden’“ (mit letzterer Kategorie das gleichfalls “anglisierte” Konzept Ralf Dahrendorfs zitierend3), also “zu einer Art ungeschriebenen Verfassung auskristallisiert haben”, wenn neben dem “politischen Weltbild” in einer zweiten Dimension von “politischer Kultur als politischer Lebensweise” eines Gemeinwesens die Rede sein darf.4 Daß die moderne Demokratie, als universelles Verfassungsprojekt begriffen, nicht lediglich eine Staats-, sondern darüber hinaus eine Gesellschafts- und Lebensordnung zu entwerfen vermag, ist dabei auf einer politischnormativen Diskussionsebene auch zu einer Scheidelinie zwischen einem restriktiven altliberal-konservativen und dem erweiterten linksliberal-sozialdemokratischen Verständnis ihres historisch-konzeptiven Sinngehalts geworden.5
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Hinweise
H. Preuß: Die Entwicklung des deutschen Städtewesens. Erster und einziger Band: Entwicklungsgeschichte der deutschen Städteverfassung, Leipzig 1906, S.233.
Eine systematische Herleitung dieses theoretischen Ansatzes von Preuß findet sich im Einleitungskapitel zu D. Lehnert: Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen, Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888-1914 (voraussichtlich Baden-Baden 1993).
Zur Entwicklung seiner politischen Kommentare, die gegen Ende der Weimarer Republik in der kaum mißverstehbaren Aufforderung “Wählt links!” mündeten, vgl. B. Sösemann: Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik demokratischer Publizisten. Theodor Wolff, Ernst Feder, Julius Elbau und Leopold Schwarzschild, Berlin 1976; M. Bosch: Liberale Presse in der Krise. Die Innenpolitik der Jahre 1930 bis 1933 im Spiegel des “Berliner Tageblatts”, der “Frankfurter Zeitung“ und der “Vossischen Zeitung”, Frankfurt 1976.
Vgl. die Überblicksdarstellung von U. Kluge: Die deutsche Revolution 1918/19. Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch, Frankfurt 1985.
C. Schmitt: Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930, S.3 f.
H. Preuß: Der innere Zweifrontenkrieg. In: Ders: Um die Reichsverfassung von Weimar, Berlin 1924.
Zur Entfaltung dieser zentralen Kategorie im historisch-systematischen Kontext vgl. E. Fraenkel: Um die Verfassung. In: Die Gesellschaft, 9Jg. (1932), Bd.2/Heft 10, S.297–312.
Die systematische Gesamtkonzeption liegt in den wichtigsten Argumentationslinien rekonstruiert vor: D. Lehnert: Hugo Preuß als moderner Klassiker einer kritischen Theorie der “verfaßten” Politik. Vom Souveränitätsproblem zum demokratischen Pluralismus. In: Politische Vierteljahresschrift, 33Jg. (1992), Heft 1, S.33–54.
H. Preuß: Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, Berlin 1889: “Heute sind das Völkerrecht und das Recht der engeren politischen Verbände, d.h. das politische Selbstverwaltungsrecht die verbündeten Gegner und Überwinder der Souveränitätsidee” (S.118).
Demgemäß erörtert Preuß z.B. im einem Rezensionstext — zu im Übergangsbereich von privat-und öffentlich-rechtlichen Problemen liegenden Studien — die jeweils relevanten Gesichtspunkte “für den Publizisten wie den Civilisten” und thematisiert damit gleichbedeutend verstanden das “Grenzgebiet zwischen dem Individual-und Sozialrecht” in: Archiv für Öffentliches Recht, Bd. 13 (1898), S.154. Im Hinblick auf sein damals bereits artikuliertes Interesse an einem sozial-liberalen Bündnis mit der SPD ist diesbezüglich auch das Stichwort von Preuß aufschlußreich, man könne “geradezu das Endziel des Sozialismus juristisch dahin formulieren, daß er die Umwandlung des ganzen Privatrechts — allenfalls mit etlichen geringfügigen Reservaten bezüglich der Verbrauchsgüter — in öffentliches Recht anstrebt” (indem z.B. die “zivilrechtliche” Vertragsfreiheit zugunsten eines “sozialrechtlich” orientierten Arbeits-, Wohnungs-und Konsumentenschutzes beschränkt wird, um drei existentiell primäre Aktionsfelder illustrierend zu benennen); zum Zitat: H. Preuß: Ein Zukunftsstaatsrecht. In: Archiv für öffentliches Recht, Bd. 18 (1903), S.379.
K. Rohe: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik, Düsseldorf 1966, S.305.
T. Eschenburg: Die improvisierte Demokratie. Gesammelte Aufsätze zur Weimarer Republik, München 1963.
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Lehnert, D. (1993). Verfassungsdispositionen für die Politische Kultur der Weimarer Republik - Die Beiträge von Hugo Preuß im historisch-konzeptiven Vergleich. In: Lehnert, D., Megerle, K. (eds) Pluralismus als Verfassungs- und Gesellschaftsmodell. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87739-0_1
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