Zusammenfassung
Entscheidend in der hier vorgeschlagenen Sicht ist die historische Spezifizität des modernen Normalismus. Normalität ist demnach nicht einfach gleich Routine, Alltag bzw. Veralltäglichung (Max Weber), Habitualisierung, Automatisierung (Viktor Šklovskij213), Institutionalisierung oder Kristallisierung (Arnold Gehlen) ganz allgemein und in einem überhistorischen Sinne. Unter Verwendung des Toynbeeschen Schemas von challenge und response ist Normalismus historisch-spezifische und gänzlich neue response auf einen historisch-spezifischen challenge: auf die ‘exponentielle’ Dynamik des spezifisch modernen ‘Wachstums’ bzw. ‘Fortschritts’. Das deutlichste Symptom dieser unlöslichen Kopplung der Normalität an die moderne Progreßdynamik ist die Symbiose aller normalistischen Dispositive mit der Kurvenlandschaft. Normalität ist demnach wesentlich Resultat von Normalisierung, und Normalisierung meint also einen historisch-spezifischen Typ routinemäßiger, dabei aber selbst dynamischer „Regulierung“/„Stabilisierung” des konstitutiven ‘produktiven Chaos’ der Moderne. Der dynamische Historizismus, dessen „Zeitbeschleunigung” (Koselleck) bzw. Motorisierung aus der unilinearen teleologischen Orientierung aller Reproduktionszyklen auf growth entspringt, braucht ständige Normalisierungen schon allein deshalb, um die sektoriellen Dynamiken „auf Linie“ zu bringen bzw. zu halten. Die „Anschließbarkeit” (Luhmann) der sozialen Gegenständlichkeiten innerhalb der sozialen „Teilsysteme“ setzt homogenisierte Felder voraus — und Normalfelder erfüllen das Desiderat der Homogenität am effektivsten. Innerhalb einzelner Normalfelder beschreiben die Prozesse (positive oder negative) Wachstumskurven, deren Steigungswinkel schwankt. Als erster hat Thomas Malthus 1798 mit europäischem Echo aus der Prognose von Wachstumskurven und der daraus folgenden Denormalisierungsangst einen Imperativ globaler Normalisierung hergeleitet: Da die Bevölkerung einer geometrischen Wachstumskurve folge (symbolisch äquivalent mit exponentiell), die Nahrungsmittelproduktion aber lediglich einer „arithmetischen”, müsse diese Schere durch drastische Normalisierungsmaßnahmen (birth control per sexueller Repression) reduziert werden. In diesem Kombinat aus Wachstumskurven und Normalisierungsstrategie ist die Symbiose von Moderne und Normalismus exemplarisch hergestellt. Wie zu zeigen war, folgen Theorien wie die von Comte, Galton und Durkheim und strategische Dispositive wie die keynesianischen, ökologischen, streßtherapeutischen usw. sämtlich diesem Modell. Insbesondere folgt der Denormalisierungsalarm Limits to growth des Club of Rome vollständig der Struktur des malthusianischen Kombinats aus Kurvenschere und Dispositiv zur Herabbiegung der Exponentialkurve.
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© 1997 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
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Link, J. (1997). Umrisse einer struktural-funktionalen Theorie des Normalismus. In: Versuch über den Normalismus. Historische Diskursanalyse der Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87532-7_7
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-87532-7_7
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-12880-1
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