Zusammenfassung
Seit sich die Soziologie ihre Selbständigkeit mittels des Nachweises der Allgegenwart sozialer Strukturen erkämpft hat, pflegen ihre Analysen an eben diesen institutionellen Tatsachen anzusetzen. Aus dem charakteristischen Zugang wird leicht eine déformation professionelle, wenn die Strukturen als die wesentliche Wirklichkeit gelten, auf deren Analyse die Soziologie beschränkt wird. In eine solche Verengung hat sich auch die Soziologie der Wissenschaft hineinmanövriert mit der Folge, daß sie sich nun schwer tut, Boden unter die Füße zu bekommen, und wesentliche Dimensionen der Problematik der Wissenschaft nicht mehr sehen kann. Will man die Disziplin aus dieser Lage befreien, so muß man notgedrungen von Dingen reden, die so fremd, dunkel und unbekannt geworden sind wie die Rückseite des Mondes.
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Anmerkungen
So verschiedentlich die programmatische Formel, auch von Robert K. Merton in der Einleitung benutzt, unter die Bernard Barber sein Buch Science and the Social Order, Glencoe, Ill., 1952, stellte, das den Beginn der Wissenschaftssoziologie als einer Sonderdisziplin markierte.
So B. Barber auf S. 5 seines angezogenen Werkes, und R.K. Merton, a.a.O., S. XI.
A.a.O., S. 262. Vgl. zum allgemeinen Gedanken auch S. 260: „If we have more social science, then we shall have the possibility of more social control.“.
Hierzu insbesondere die beiden Arbeiten von Benjamin Nelson, „The Early Modem Revolution in Science and Philosophy“, in: Boston Studies in the Philosophy of Science, vol. III, 1964 und ‚„Probabilists‘, ‚Anti-Probabilists‘, and the Quest for Certitude in the 16th and 17th Centuries“, in: Actes du Xe Congrès international d’histoire des sciences, Paris 1965.
Zu den vorstehenden Angaben vgl. man Alexandre Koyré, Newtonian Studies, Chicago 1968, S. 18. — Die Angabe über das Journal des Savants, damals vielleicht das einflußreichste wissenschaftliche Organ Europas, aus dem Buch von Paul Hazard, La crise de la conscience Européenne, Paris 1935 (dt. Die Krise des europäischen Geistes. 1618–1715, Hamburg 1939), S. 365, das ein breites und lebhaftes Panorama der Zeit liefert.
So etwa in dem vom Th. S. Kuhn verfaßten Artikel über Wissenschaftsgeschichte in der Encyclopaedia of Philosophy.
Dazu die genannte Arbeit von A. Koyré, S. 18f., und E.A. Burtt, The Metaphysical Foundations of Modem Science, jetzt in Doubleday Anchor Books, New York 1954, S. 30ff.
Zitat und Angaben bei A. Koyré, S. 18. Grundlegend für Newton jetzt die Arbeit von F.E. Manuel, The Religion of Isaac Newton, London 1974.
A. Koyré, op. cit., S. 18 und 10. Vgl. dazu auch A. Koyré, From the Closed World to the Infinite Universe, Baltimore 1957 (dt. Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt/M. 1969).
Die Figur Francis Bacons erfordert ein eigenes Wort, weil sich mit ihr immer wieder grundsätzliche Auffassungen über die Geschichte der Wissenschaft verbunden haben. Für die Aufklärung gehörte Bacon unproblematisch zum Pantheon der Heroen, welcher die Wissenschaft auf den Weg der Wahrheit, oder wie Kant es ausdrückte, die Physik auf die Heerstraße der Wissenschaft gewiesen hatte. Unter dem Einfluß des technischen Triumphes der Naturwissenschaft avancierte Bacon dann in den angelsächsischen Ländern zum eigentlichen Bahnbrecher der Wissenschaft, wofür sich Macauley in der Edinburgh Review von 1831 verwendete. Gegenüber dieser Überzeugung, welche die moderne Wissenschaft aus den pragmatischen Motiven Bacons ableiten wollte, hat die solidere Forschung doch bald erkannt, daß von der pragmatischen Methodenlehre und den technischen Visionen Bacons kein Weg zum entscheidenden Vorgang der Mathematisierung führen konnte. Von dieser Erkenntnis hat Max Weber bereits Gebrauch gemacht, worauf ich kürzlich in der Zeitschrift für Soziologie, Jg. 3, 1974, Max Weber and the Sociology of Science. A Case Reopened, hingewiesen habe. Koyré bemerkt in den Newtonian Studies ähnlich: „I do not see what the scientia activa has ever had to do with the development of the calculus, nor the rise of the bourgeoisie with that of the Copernican, or the Keplerian astronomy. And as for experience and experiment two things which we must not only distinguish but even oppose to each other — I am convinced that the rise and growth of experimental science is not the source but, on the contrary, the result of the new theoretical that is, the new metaphysical approach to nature that forms the content of the scientific revolution of the seventeenth century, a content which we have to understand before we can attempt an explanation (whatever this may be) of its historical occurence“ (S. 6). Grundsätzlich urteilen K. v. Fritz und P. Chaunu genauso.
Damit soll nicht bestritten sein, daß in der Zeit, wie Merton gezeigt hat, starke praktische Interessen bereit lagen und sich auch an die einmal entstandene Wissenschaft bald anheften konnten. Aber weder die sichtbaren Erfolge praktischer Erfindungen noch die raren Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse konnten ja zu der Gleichsetzung von Erkenntnis und Nutzen führen. Bacons Apologie der praktisch-nützlichen Wissenschaften war um den Preis der Theorie gewonnen worden, während die Nützlichkeitsüberlegungen des 17. Jahrhunderts im Banne der Überzeugung stehen, daß alle Erkenntnis auch nützlich sein müsse. Noch weniger aber konnten Bacons Vorstellungen zur Mathematisierung des Kosmos führen, die doch erst einmal so deutlich von der praktisch-sinnlichen Welt abführte.
Inwieweit man dennoch in Bacon den Ahnherrn einer technischen Gesinnung sehen darf, welche auf die Beherrschung der Natur durch menschliche Künste setzt, scheint mir auch dann noch zweifelhaft. Allerdings ist das eine verbreitete Auffassung, so Kurt v. Fritz, Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin 1971, vor allem S. 118, oder gar Friedrich Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt, München 1964, wo es in der 2. Auflage S. 46 kurzerhand heißt: „Dennoch hat Bacon die Weltgesinnung begründet, auf der das Zeitalter der Wissenschaft und des Fortschritts beruht.“.
RenéTaveneaux, Le catholicisme posttridentin, in der von Henri-Charles Puech herausgegebenen Histoire des religions, vol. II, S. 1089, Paris 1972. Ähnlich Pierre Chaunu, La Civilisation de l’Europe classique, Paris 1966, S. 399.
Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 21951, S. 581.
Daß die Wissenschaft den Ruhm Gottes durch die Erkenntnis seiner Werke verkünden würde, ist bekanntlich ein verbreiteter Topos in der frühen Naturwissenschaft. Robert K. Merton hat in seinem inzwischen als klassisch geltenden Werk, das der Entstehung der Wissenschaft im England des 17. Jahrhunderts nachging, dieser Formel eine erhebliche Bedeutung beigemessen. Dieser Gedanke nämlich soll nach Merton die neuen Studien der Natur, welche in einer wesentlich religiös geprägten Kultur keine eigene Legitimation besitzen konnten, sozial legitimiert haben. Allerdings meinte Merton, daß die Naturwissenschaft sich endlich auch ohne diese Hilfe durchgesetzt hätte, weil die Sachlogik in Verbindung mit den technischen Bedürfnissen ihre Entwicklung erzwungen hätten. Aber der frühe und schnelle Durchbruch ist nach seiner Meinung wesentlich auf diese vorübergehende Hilfe durch die Formel vom Ruhm Gottes zurückzuführen. Nun irrt Merton erst einmal schon in der nicht weiter diskutierten Auffassung, dieser Topos sei spezifisch protestantisch oder spezifisch englisch. Richtig ist allerdings die Geläufigkeit der Formel unter jenen Personen, die die neuen Studien damals in England betrieben oder unterstützten, also jener Kreise, aus denen bald die Royal Society hervorging. Merton war, wie er selbst in seinem Vorwort schreibt, durch die enge Verbindung dieser Männer mit der puritanischen Religion, also auch durch ihre Berufung der Glory of God, auf sein Problem gestoßen, wie der Durchbruch der modernen Naturwissenschaft in England zu erklären sei. Aber so richtig er daran tat, sich über dieses auffällige Phänomen zu verwundern, so wenig bedachtsam war es doch, ohne weitere Prüfung davon auszugehen, daß es sich hier um ein spezifisches Motiv aus dem Umkreis des Puritanismus handele.
Tatsächlich nämlich gehört die Formel der frühen und also wesentlich aus katholischen Ländern stammenden Literatur an. So heißt es bspw. in einem Brief von Descartes: „Au contraire, nous ne pouvons comprendre la grandeur de Dieu, encore que nous la connaissions“ (Lettres, tome II, S. 478), und das gleiche Argument zieht sich durch Galileis Schriften und Äußerungen hindurch. Diese Tatsache hätte Merton veranlassen können, seine Ausgangsfrage abzuändern, dahingehend, daß er die Entstehung der Wissenschaft vergleichend angegangen wäre: wieso dringt das Argument in protestantischen Ländern durch, aber nicht in katholischen? Die Antwort wäre einigermaßen klar gewesen: die neue Politik, welche die Kirche, und mit ihr weitgehend die katholischen Länder, mit dem Prozeß gegen Galilei überraschend einschlugen, wirkte sich als Druck gegen die Entfaltung der Wissenschaft aus, worüber das Notwendige ja in den einschlägigen Arbeiten zu lesen ist.
Diese Berücksichtigung des tatsächlichen Ursprungs und der Verbreitung, zeitlich und räumlich, der Formel vom Ruhm Gottes, hätte freilich Merton nicht zu einer wesentlichen Änderung seiner These über die Rolle dieser Formel nötigen müssen. Dazu hätte er die Bedeutung des Gedankens genauer unter die Lupe nehmen müssen. Denn er sieht darin — und hier liegt der eigentliche und schwerwiegende Irrtum — nur eine zusätzliche Bekräftigung und Bereicherung eines festen und unerschütterten religiösen Glaubens. Nun soll hier durchaus nicht bezweifelt werden, daß die englischen Puritaner, welche die neuen Studien betrieben und förderten, durchaus gläubige Protestanten waren. Mit einer solchen pauschalen Feststellung ist aber der Frage gar nicht beizukommen. Der Glaube kann nun einmal, nach Intensität, Gewißheit und Beunruhigung die allerverschiedensten Formen annehmen, und zwar auch bei Menschen, die sich als entschieden gläubig wissen. Die Glaubensgewißheit war nun in der frühen Neuzeit von einer Reihe von Unsicherheiten umstellt. Einmal waren offenbar die Daseinsumstände einer relativ entwickelten Kultur, welche über Traditionen der Philosophie und Wissenschaft verfügte, dazu ihren Angehörigen den Blick auf andere Lebensumstände sozial freigab, von der Art, daß sie zu einer vernünftigen Legitimation des Glaubens auffordern mußten, während etwa in der primitiven Gesellschaft die Menschen noch in der unmittelbaren Sicherheit ihres Glaubens ruhen. Zu diesem Versicherungsniveau gesellte sich als nähere Beunruhigung die Glaubensspaltung, welche mit der Reformation begonnen hatte. Die Vielheit der Religionen und Sekten wurde zu einer untergründigen Herausforderung aller Gläubigen, und gewiß am stärksten dort, wo in einer Nation verschiedene Konfessionen neben-oder nacheinander auftraten. Denn wenn die Wahrheit eine und nur eine war, wie konnten Christen in der Unwahrheit verharren? Dieser Stachel saß allen Gläubigen, Katholiken wie Protestanten, im Fleisch und ist in seiner Bedeutung für die Entstehung der modernen Welt noch gar nicht hinreichend geklärt worden. Der Zwang, sich durch Wissenschaft eine rationale Vergewisserung über die Ordnung der Welt zu verschaffen, hat dadurch ganz wesentliche Anstöße empfangen. Schließlich kam in protestantischen Ländern gestuft die durch die Prädestination geschaffene Frage der certitudo salutis hinzu, welche Max Weber in seiner Arbeit über die Protestantische Ethik leider nur — von Hinweisen in Anmerkungen abgesehen — für die Entstehung der modernen Wirtschaftsethik ausgeleuchtet hat. Vor dem Hintergrund dieser drei Schichten religiöser Verunsicherung sollte aber klar sein, daß der Topos Glory of God auch in England Tiefenschichten besaß, welche weit über das Preisen des Schöpfers durch glaubensgewisse Menschen hinaus lagen.
Vgl. dazu A. Koyré, From the Closed World to the Infinite Universe, S. 276, wo diese Antwort Laplaces treffend so kommentiert wird: „But it was not Laplace’s System, it was the world described in it that no longer needed the hypothesis God.“.
Siehe dazu die aufschlußreiche Arbeit von Heinrich Schipperges, Die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte im 19. Jahrhundert, Schriftenreihe der Bezirksärztekammer Nordwürttembergs Nr. 12, 1968, besonders S. 17f.
Vgl. Schipperges, a.a.O., S. 19.
Ibid., S. 90. Entsprechende Hinweise für Frankreich jetzt in dem Buch des Positivismus-Spezialisten D.G. Charlton, Secular Religions in France 1815–1870, London 1963.
Fast jede Biographie kann diese Aussage belegen. Hier sei auf Paul Ehrlich hingewiesen, dessen Leben sich folgendermaßen vollzog: „Ein Dasein, das anderen als trocken, nüchtern, als ein ewiger harter ‚Dienst ‘erscheinen mochte, war für ihn das einzig mögliche. Es zu erfüllen war ihm innere Notwendigkeit. Und weil er gern tat, was zu tun ihm aufgegeben war, daraus wuchs wiederum seine Kraft... Jeder, der erlebte, wie er, in schon vorgerückten Jahren, den ganzen Tag in seinem primitiven Labor stand; manchmal wenn ihm der Tisch nicht ausreichte, höchst unbequem auf dem Boden hokkend, in einer Luft von Zigarrenqualm zum Schneiden dick; über das Mikroskop gebeugt, chemische Reaktionen prüfend, Versuchstiere beobachtend... Immer wieder, Monate, Jahre, praktisch sein ganzes Leben lang, ohne daß man ihm Ermüdung angemerkt hätte — der wußte, daß hier ein Mann am Werk war, der sich normalen Maßstäben entzog.“ Heinrich Satter, Paul Ehrlich, Begründer der Chemotherapie, Frankfurt/M. 1962, S. 25.
„On the Advisableness of Improving Natural Knowledge“, in: Methods and Results, Collected Essays, I, London 1894.
„Administrative Nihilism“, ebenfalls im 1. Band der Collected Essays.
So in der Vorrede zu: Evolution and Ethics and other Essays, New York 1897.
Ibid.
„Science and Culture“, in: Science and Education, Collected Essays, III, London 1895.
Ernest Nagel in der Vorrede zu Karl Pearson, The Grammar of Science, New York 1957, S. VI.
Charles Coulston Gillispie, „The Encyclopédie and the Jacobin Philosophy of Science: A Study in Ideas and Consequences“, in: Critical Problems in the History of Science, hrsg. von Marshall Clagett, Madison, Wisconsin 1969.
Herbert Butterfield, The Origins of Modern Science, New York 1958.
Ludwig Büchner, Am Sterbelager des Jahrhunderts, Gießen 1898, S. 371.
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Tenbruck, F.H. (1989). Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß. In: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87531-0_8
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