Zusammenfassung
Jede Kultur und Gesellschaft lebt kraft der Weitergabe eines Erbes, so daß keine Generation von vorne anfangen kann oder muß. Ihr steht alles zur Verfügung, was die jeweils voraufgehende Generation an physischen Artefakten samt praktischen Kenntnissen und Fertigkeiten, an sozialen Einrichtungen nebst Normen und Werten, ferner an Kulturschöpfungen der Religion, Kunst, Literatur oder Wissenschaft besessen hat. Teils sorgen die Selbstverständlichkeiten der Daseinspraxis und der Eingewöhnung dafür, daß gewisse Bestände absichtslos weitergegeben und übernommen werden. Doch stets bedarf es dieser oder jener Formen der absichtsvollen Ausbildung und Erziehung, um den Erhalt und die Weitergabe der Bestände über die Zeit hinweg institutionell zu sichern. Das gilt besonders für jene normativen und ideellen Bestände, die weit über die Alltagspraxis hinausreichen oder sogar als repräsentative Kultur dem Sonderwissen der jeweiligen Kulturintelligenz anvertraut sind. Kraft solcher institutionellen Vorkehrungen besitzt jede Kultur ein Gedächtnis, das für die Überlieferung eines Erbes sorgt. Dabei geht es nicht nur darum, die Bestände als präsente Kenntnisse, Fertigkeiten und Überzeugungen zu reproduzieren. Vielmehr bedarf jede Kultur und Gesellschaft der Erinnerung, die Auskunft gibt über die Überlieferungsgeschichte der Bestände, ihre Ursprünge und Wandlungen, und folglich auch über die Geschichte. Da im Ablauf der Zeit alte Bestände umgedeutet werden, neue hinzukommen und überdies neue Lagen entstehen, läßt sich das Gedächtnis der Kultur nie festschreiben. Aus diesen oder jenen Gründen können alte Bestände abgelegt, verdrängt und vergessen, neue erworben oder aufgedrängt werden. Stets aber muß, wenn die Kultur nicht ihre Identität verlieren soll, in all diesen Wandlungen die Kontinuität des Erbes bedacht bleiben.
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© 1989 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
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Tenbruck, F.H. (1989). Gedächtnis der Wissenschaft — Gedächtnis der Kultur. In: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87531-0_16
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-87531-0_16
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-12005-8
Online ISBN: 978-3-322-87531-0
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