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Zusammenfassung

„Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ treten dem Leser zunächst als eine flutende Folge von Wahrnehmungen, Eindrücken, Empfindungen und Reflexionen, von Erlebnissen und Erinnerungen, Bildern, Berichten, Zustandsbeschreibungen entgegen, die die Räume der Wirklichkeit wie die der Einbildung, Gegenwart und Vergangenheit, persönliche wie Weltgeschichte durchqueren, so daß er in Gefahr gerät, alle Orientierung zu verlieren. Um sich in der Folge der 71 Aufzeichnungen1 zurechtzufinden, ist der Leser zunächst geneigt, die ‚äußere Geschichte‘ des aufzeichnenden Ich, eben des Malte Laurids Brigge, zu rekonstruieren. Das läßt sich für die ersten zweiundzwanzig Aufzeichnungen, die einen gewissen entwicklungslogischen Zusammenhang in Zeit und Raum aufweisen, mit einigen Abstrichen durchführen, während den dann folgenden Aufzeichnungen ein solcher Zusammenhang abgeht, denn auch die Gruppe der Kindheitserinnerungen folgt keineswegs chronologischen Gesichtspunkten. Obzwar nun allein der Kopf der ersten Aufzeichnung den vollständigen Charakter einer Tagebucheintragung trägt, indem er Ort und Zeit der Niederschrift angibt, „rue Toullier, 11. September“, und nur einmal noch eine Ortsangabe, „Bibliotèque Nationale“, am Kopfende der 16. Aufzeichnung folgt, sich anscheinend also der Zeitbezug der Aufzeichnungen zunächst und der räumliche Bezug alsdann zunehmend zu verlieren scheint, läßt sich doch soviel an ‚äußerer Geschichte‘ erkennen, daß ein aus verarmtem dänischen Adel stammender junger, gerade achtundzwanzigjähriger Mann, der alles an Erbschaft verloren hat und fast völlig mittellos den Beruf eines Schriftstellers ausübt, an einem bestimmten Ort, in Paris, im dritten Stock eines in der rue Toullier gelegenen Hauses, zu einer bestimmten Zeit, an einem 11.

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Anmerkungen

  1. Die den auf ein Fluidum abzielenden Intentionen des ‚Malte-Romans‘ sicherlich in gewisser Weise widersprechende Durchnumerierung der Aufzeichnungen, wie sie etwa auch Armand Nivelle (Sens et structure des „Cahiers de Malte Laurids Brigge“, in: Revue d’Esthétique 7, 1959, S.5–32), Anthony Stephens (Rilkes Malte Laurid“ Brigge. Strukturanalyse des erzählerischen Bewußtseins, Bern und Frankfurt a.M. 1974) oder August Stahl (Rilke Kommentar. Zu den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, zur erzählerischen Prosa, zu den essayistischen Schriften und zum dramatischen Werk, unter Mitarbeit von Rainer Marx, München 1979) vorgenommen haben, erlaubt der wissenschaftlichen Absicht systematischer Untersuchung wie auch dem Leser einer anderen Textausgabe als der hier zugrundegelegten eine bessere Orientierung. Deshalb folgt dem Inhaltsverzeichnis vorn auf S.7 eine Numerierungstabelle der Aufzeichnungen mit den jeweiligen Satzanfängen. In unserem Text folgt den Zitaten aus den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ in Klammern zunächst die Aufzeichnungs- und Absatznummer (z.B. 22.4 = 22. Aufzeichnung, 4. Absatz) und dann, durch einen Querstrich abgetrennt, die Seitenzahl in der maßgeblichen Ausgabe: Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, herausgegeben vom Rilke Archiv in Zusammenarbeit mit Ruth Sieber-Rilke und besorgt von Ernst Zinn, Bd. I-VI, Frankfurt 1955–1966. „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ finden sich in Band VI, S. 707–946. Für die Lektüre auf italienisch verweisen wir auf die mit vielen erklärenden Anmerkungen versehene, ausgezeichnete Übersetzung von Furio Jesi (R.M.R, I quaderni di Malte Laurids Brigge, Milano (Garzanti) 1974), dem die Rilke-Rezeption in Italien u.a. auch eine wichtige Einführung in das Leben und das Gesamtwerk Rilkes verdankt: Furio Jesi, Rainer Maria Rilke, Firenze (La Nuova Italia) 1979; zum ‚Malte‘ dort S. 67–81. — Im Zusammenhang der Rilke-Rezeption in Italien sei aber vor allem auch auf die Publikationen von Alberto Destro verwiesen, der in seinem Band Invito alla Lettura di Rilke, Milano (Mursia) 1979, eine umfassende Präsentation des Dichters und seines Werkes bietet, in das auch sein grundlegender Beitrag zum ‚Malte‘ von 1973 eingegangen ist (A.D., Rainer Maria Rilke e ‚I quaderni di Malte Laurids Brigge‘, in: II romanzo tedesco del Novecento, hrsg. von G. Baioni, G. Bevilacqua, C. Cases, C. Magris, Torino (Einaudi) 1973, S. 81–89. Destro unterstreicht, daß das erzählende Ich im traditionellen Sinne völlig aufgelöst und zum Ort experimenteller Weltkonstitution im Erzählen wird, demgegenüber daher die überkommenen Instrumente der Analyse nicht standhalten, sondern das eine strukturelle Untersuchung der Formen verlangt. — Luisa Bonesio hat in einem interessanten Beitrag versucht, einige zentrale Merkmale der spezifischen Metaphorisierung der Weltsicht und Arbeit des Künstlers im ‚Malte‘, den Bezug auf bildende Künste, Raumfiguren in symbolischer Funktion und die Romanstruktur im Verhältnis ‚Rahmen‘-‚Bild‘ im Begriff des ‚Raums‘ zusammenzufassen: L.B., Visione e metamorfosi dello spazio romanzesco nel „Malte“ di Rilke, in: Materiali Filosofici 9, 1983, S.155–184.

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  2. Rainer Maria Rilke, Brief an Lou Andreas-Salomé vom 28. Dez. 1911, in: R.M.R., Gesammelte Briefe in sechs Bänden, hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1939, Bd.3, Briefe aus den Jahren 1907–1944, S.158.

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  3. Vgl. Rilkes Selbstinterpretation: „Es ist nur so, als fände man in einem Schubfach ungeordnete Papiere und fände vorderhand nicht mehr und müßte sich begnügen.“ In: R.M.R., Brief an die Gräfin Manon zu Solms-Laibach vom 11. April 1910, in: R.M.R., Gesammelte Briefe in sechs Bänden, hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1939, Bd.3, Briefe aus den Jahren 1907–1944, S.99.

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  4. „Es ist nicht möglich, von den wenigen hier herausgehobenen Seiten Prosa Rilkes zu sprechen, ohne das Ganze seines Werkes, in dem sie sich finden, ja, ohne das Gesamt seiner Schöpfung im Auge zu behalten. Derart ist hier alles bis in die sorgsame Gliederung der Sätze, in den Wortgebrauch und die innere Sprachbewegung hinein ein Ganzes und durchaus Eigenes; derart deuten sie zugleich über sich hinaus und auf Kernstellen von Rilkes Dichtertum und Existenz. [...] Die Interpretation dieser Seiten wird dadurch erschwert, daß sie beständig weite Kreise zu ziehen, sich einem Allgemeinen zuzuwenden verführt ist; damit das Bedeutsame des Besonderten hinreichend erschlossen werde.“ In: Fritz Martini, Rainer Maria Rilke. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: F.M., Das Wagnis der Sprache. Interpretation deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn, Stuttgart 1954, S. 133–175, obiges Zitat S. 137. — Hält Martini sich noch an einen konkreten Text als Ausgangs-und Orientierungsbasis, so ‚ziehen sich die Kreise‘ von Otto Friedrich Bollnow durch das Gesamtwerk und die Existenz des Dichters, wodurch zwar ein umfassender Zusammenhang angezeigt, das Bedeutungspotential des konkreten Textes jedoch vernachlässigt wird. Dem entspricht, daß Bollnow als Existenzphilosoph dazu neigt, die philosophische Tradition in die literarischen Textfragmente hineinzulesen. Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Rilke, Stuttgart 1951. Einen überblick über die ‚Malte-Forschungen‘ vom Ende der sechziger bis zur Mitte der siebziger Jahre gibt Anthony Stephens, Warten auf die „andere Auslegung“. Zu einigen Problemen der ‚Malte‘-Deutung, in: Text und Kontext 5, 1977, H.2, S.56–88.

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  5. Vgl. Armand Nivelle, Sens et structure des Cahiers de Malte Laurids Brigge, in: La Revue d’esthétique 7, 1959, S.5–33.

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  6. Vgl. Helmut Naumann, Malte-Studien. Ansätze zu einen neuen Verständnis Rilkes, Rheinfelden 1983.

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  7. Judith Ryan, ‚Hypothetisches Erzählen‘: Zur Funktion von Phantasie und Einbildung in Rilkes »Malte Laurids Brigge«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 15, 1971, S.341–374; auch in: Materialien zu Rainer Maria Rilke, «Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge»,hrsg. von Hartmut Engelhardt, Frankfurt 1974, S.244–280; und in: Rainer Maria Rilke, hrsg. v. Rüdiger Görner, Darmstadt 1987, S.245–284. - Judith Ryan arbeitet in ihrem grundlegenden Beitrag die bewußte Subjektivität der Perspektive des erzählerischen ‚Ich‘ heraus. Die von ihr erkannte Entwicklung Maltes vom ‚Sehenlernen‘ über das ‚Erinnern‘ bis zum ‚Erzählen‘ läßt sich sicherlich in den Roman einschreiben, doch geht es Malte dabei weder um ein Ideal von Objektivität, das von Ryan auf einem im Grunde am realistischen Erzählen orientierten Hintergrund unterstellt wird, noch ist der Versuch des Erzählens auf das letzte Drittel des ‚Romans‘ zu begrenzen. Vielmehr müßte der von Ryan vormehmlich verfolgte Themen- und Motivpfad des Erzählens unterschieden werden von der Erzählstruktur der Aufzeichnungen, in denen ‚reales‘ Erleben als schon immer in der Arbeit der Erinnerung und Einbildung durch den Abgrund des Vergessens transfiguriert und zur Form des Aufzeichnungsfragments zerschlagen erscheint und daher durchaus different von einem Erzählen, wie es in der Figur des Marquis von Belmare dargestellt ist (Aufz. 44), der ja seine Geschichten eben im Blut und nicht schon auf dem Papier und im Buch hat, wie Malte. Das ‚Gelingen‘ eines solchen Erzählens wäre dann allenfalls an der Aktualität und Intensität der durch das Konstellationsspiel der Fragmente hervorgerufenen Weiterarbeit dieser Subjektivität im Leser zu erfragen.

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  8. Fülleborn wie Seifert neigen dazu, den Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart im Malte überzubewerten, auch der antithetischen Grundstruktur einen ‚objektiven‘ Charakter zuzuschreiben und so den grundlegenden Spannungsbogen der Subjektivität zu unterschlagen. Ulrich Fülleborn, Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Rilkes Prosabuch und der moderne Roman, in: Unterscheidung und Bewahrung. Festschrift für Hermann Kunisch zum 60 Geburtstag, Berlin 1961, S. 147–169; auch in: Materialien zu Rainer Maria Rilke, «Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge», hrsg. v.Hartmut Engelhardt, Frankfurt 1974, S.175–198; und U.Fülleborn, «Veränderung». Zu Rilkes ‚Malte‘ und Kafkas ‚Schloß‘, in: Etudes Germanique 30, 1975, S.438–454.- Fülleborn hat den ‚Malte-Roman‘ zu Recht im Rahmen der großen Erneuerungen des Romans um die Jahrhundertwende zwischen Joyce, Kafka, Proust, Musil, Broch situiert und die Besonderheit darin ausgemacht, daß diese Neugestaltung sich nicht so aus der bewußten Destruktion der traditionellen Romanform herschreibt, als vielmehr daraus, daß Rilke als Lyriker vornehmlich dieses Prosawerk schaffe. Demgemäß erkennt er im Netz der Leitmotive und Leitthemen, den Kreis- und Gruppenbildungen gleich Gedichtzyklen die tragende Struktur, der er dann freilich allzu rigid einen antithetischen Charakter sowie eine Entwicklungstendenz zuschreibt. Die von Fülleborn nur skizzierte Perspektive auf den ‚Malte-Roman‘ als eine Sammlung von Prosagedichten hält dann aber den später von ihm als Prosagedichttheoretiker entwickelten Kriterien kaum stand und ist wohl daher nicht weiterverfolgt worden. Es wäre aber zu fragen, ob gegenüber den sehr stark formalistischen Kriterien Fülleborns nicht doch ein ‚substanziellerer‘, ein historisch-gesellschaftlicher Begriff des Lyrischen im Rahmen etwa der modernen Subjektivitätstheorie gefunden werden könnte, der dann das, was in den Aufzeichnungen als lyrischer Genius ‚gefühlt‘ wird, theoretisch zu begründen wüßte. Ein solcher Begriff des lyrischen ‚Ich‘ fürs Prosagedicht ist meines Wissens noch Forschungsdesiderat. Walter Seifert, Das epische Werk Rainer Maria Rilkes, Bonn 1969. Auch Seiferts Studie zum Prosawerk Rilkes stellt wie die Fülleborns einen obligatorischen Bezugspunkt aller ‚Malte‘-Studien dar. Er stellt heraus, daß das Ich auf einen Nullpunkt reduziert und zugleich genötigt ist, aus sich selbst eine Totalität zu entwerfen, arbeitet dann aber für diese Totalität wie für die ihr umgekehrt entsprechende, das Subjekt vernichtende Realität mit einem Objektivitäts- und Absolutheitsbegriff, der ihm nicht nur untergründig zum zu erreichenden Entwicklungsziel Maltes wird, sondern auch gerade den Spannungsbogen der Subjektivität, der zwischen diesen beiden Dimensionen entworfen wird und aus dem die lyrische Kraft sich nährt, vollkommen unterschlägt. In diesem Sinne wird auch die Vergangenheit in ihrer Rolle als Gegenbildlichkeit überfordert. Totalität liegt allenfalls in der Dimension des Unfaßbaren oder des eben alizufernen Gottes, während den Bildern der Totalität, etwa des Amphitheaters zu Orange, immer der Charakter des Augenblicksentwurfes dieser Ganzheit, damit das Unzureichende und auf ein absolutes, den Grund in seiner Unfaßbarkeit, Verweisende anhaftet, die Emanationskraft der Subjektivität. Seifert betont daher auch zu stark einen Entwicklungscharakter der Aufzeichnungen auf eine Totalität hin, dergegenüber das Spiel der Konstellationen der Aufzeichnungen hervorzuheben ist.

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  9. Der historische Wechsel zu einer anderen, subjektivistischen Konzeption der Ganzheit, die nicht mehr auf einem überschauenden, allesumfassenden und verabsolutierenden Begriff beruht, ist etwa im Unterschied von Großmutter Brigge und Maltes Mutter angedeutet: Großmutter Brigge ist die eigentliche Herrin im Hause, die das ganze Hauswesen überblickt und alle wichtigen Entscheidungen fällt. Dieser überschauende, einteilende und beherrschende Blick ist der Mutter nicht mehr möglich: „Maman, glaube ich, wünschte es gar nicht anders. Sie war so wenig gemacht, ein großes Haus zu übersehen, ihr fehlte völlig die Einteilung der Dinge in nebensächliche und wichtige. Alles wovon man ihr sprach, schien ihr immer das Ganze zu sein, und sie vergaß darüber das andere, das doch auch noch da war.“ (36.1/819)

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  10. Daher hat Rilke auch gemeint, es könnten immer noch neue Aufzeichnungen hinzukommen. Vgl. Rilkes Brief an die Gräfin Manon zu Solms-Laibach vom 11. April 1910, in: R.M.R., Gesammelte Briefe in sechs Bänden, hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1939, Bd.3, Briefe aus den Jahren 1907–1944, S.99. Die experimentelle Struktur der ‚Aufzeichungen‘ impliziert natürlich ein völlig anderes Zeitverhältnis, dessen auf eine virtuelle Gleichzeitigkeit aller Lebensmomente hinauslaufende Intention von Beda Allemann in den Begriff des „Weltzeitinnenraums“ gefaßt worden ist (Beda Allemann, Zeit und Figur beim späten Rilke, Pfullingen 1961, S. 24). Jutta Goheen hat diesen Bruch mit dem linearen Kontinuum des traditionellen Romans bis in den Gebrauch der Tempusformen hinein nachgewiesen. Es ergebe sich eine Struktur, in der das lineare Kontinuum eine „Komponente der Tiefe“ erhalte, „wodurch sich neben dem unaufhaltsamen Fortlauf beständige Dauer erschließt“ (J. Goheen, Tempusform und Zeitbegriff in R.M.Rilkes ‚Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘, in: Wirkendes Wort, 19, 1969, S. 254–267; zitiert nach dem Wiederabdruck in: Zeitgestaltung in der Erzählkunst,hrsg. von Alexander Ritter, Darmstadt, S. 278–299, hier S. 284). Unserer Ansicht nach ist jedoch nicht nur der Intention der Aufzeichnungen nach gar von einer völligen Auflösung des zeitlichen Kontinuums in eine Oberzeitlichkeit zu sprechen, sondern auch der Charakter dieser Dauer genauer zu bestimmen als etwas, das alle statische Ewigkeitsvorstellungen überwunden hat. Alle existentialistischen Absolutheitsansprüche werden ebenso relativiert, wird als die entscheidende Dynamik dieser intentionalen Oberzeitlichkeit die moderne Subjektivität erkannt. Anthony Stephens, der in seiner wichtigen Studie (Rilkes Malte Laurid Brigge. Strukturanalyse des erzählerischen Bewußtseins, Bern und Frankfurt a.M. 1974) dem ‚Malte-Roman‘ einerseits romantische Verhaftungen vorhält, daß „die Handlungslinie des Werkes den Verlauf eines nicht ganz gelungenen Versuchs darstellt, sich zur einem ‚neuen Leben voll neuer Bedeutungen‘ durchzukämpfen‘“, andererseits seine Aktualität vor allem in der „Erforschung einer fiktiven Persönlichkeit als Metaphernsystem sieht“ (S.16), hebt bereits hervor, daß ein mosaikartiges Bild der Persönlichkeit und ihrer Welt aufgebaut werden soll, „wobei die herkömmliche Funktion einer Romanhandlung von einem nie zu Ruhe kommenden Spiel der Möglichkeiten ersetzt wird“ (S.13). Wie Fülleborn (Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Rilkes Prosabuch und der moderne Roman, in: Unterscheidung und Bewahrung. Festschrift für Hermann Kunisch zum 60 Geburtstag, Berlin 1961, S. 147–169; auch in: Materialien zu Rainer Maria Rilke, «Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge», hrsg. v.Hartmut Engelhardt, Frankfurt 1974, S.175–198.) hebt auch Stephens hervor, daß der mit der Tradition brechende Stil in diesem Roman sich nicht aus dem Innern der Erzähltradition ergibt, sondern daß die Originalität des ‚Malte‘ gerade in Rilkes Lyrikerprovenienz begründet liege.

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  11. Wenn Ernst Fedor Hoffmann (E.F.H., Zum dichterischen Verfahren in Rilkes ‚Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘, in: Sprache im technischen Zeitalter, Stuttgart 1966, H. 17/18, S.27–38; auch in: Materialien zu Rainer Maria Rilke, «Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge», hrsg. von Hartmut Engelhardt, Frankfurt 1974, S.214–244) am Beispiel einzelner Episoden festgestellt hat, daß im ‚Malte‘ bewußt Glieder aus der Kausalkette der Realität herausgenommen seien, etwa der Zusammenhang des Wetterumschlags, wie er in einem Brief an Clara Rilke ausgeführt wird, aus dem ersten Satz der 12. Aufzeichnung, wo dem ‚kleinen Mond‘ die Ursache für das impressionistische Bild der im glänzenden Tageslicht liegenden Stadt zugeschrieben wird, so ist durchaus seiner These Recht zu geben, daß die ‚fehlenden‘ Glieder nicht rekonstruiert werden sollen. Die Wirklichkeitsoberfläche soll so unserer Ansicht nach in ihrer Brüchigkeit hervortreten, soll zu Fragmenten zerbrochen werden, die in ihrer Unbegreiflichkeit zunächst perzipiert werden müssen. Daher ist Stahl entschieden zu widersprechen, wo er die Kenntnis des Stoffes gleich der Mythenkenntnis unter der Zuschauerschaft der antiken Tragödie zum Verständnis für unabdingbar hält (vgl. August Stahl, Rilke Kommentar. Zu den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge,zur erzählerischen Prosa, zu den essayistischen Schriften und zum dramatischen Werk, München 1979, S. 156). Exemplarisch wäre Stahls Verweis auf den Brief an Clara Rilke zu nennen (Stahl, Rilke Kommentar. Zu den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, a.a.O.,, S.167f), wo die Kenntnis des ‚realistischen‘ Zusammenhangs eher von der metaphorisch-symbolischen Funktion im Rahmen des Motivnetzes entfernt, oder etwa der Faktennachtrag zur Geschichte Karls des Kühnen in der 55. Aufzeichnung, die laut Stahl (Rilke Kommentar. Zu den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge..., a.a.O., S.215ff) unverständlich bleibe, weil der nicht mit der historischen Stoffkenntnis vertraute Leser Freund und Feind verwechsle. Die Faktenkenntnis dient in diesem Fall eben dazu, noch deutlicher herauszustellen, daß dieser Zusammenhang im Malte eben unwichtig ist. Unsere Kritik soll der großartigen Leistung Stahls keineswegs Abbruch tun. Für biographische, werk- oder werkgeschichtliche Zusammenhänge etwa, wichtige und legitime Forschungsperspektiven, ist dieser Kommentar ein unabdingbares Hilfsmittel. Der Erfassung der inneren Logik des ‚Malte‘ hingegen dienen solche Zusammenhänge zur Anregung, die aber im immanenten Zusammenhang eingelöst werden muß, oder zur vertiefenden Konfrontation, welche ihrerseits die Erkenntnis der je immanenten Logik des zu Vergleichenden voraussetzt. Gegen Hoffmann hingegen wäre einzuwenden, daß gerade durch die ‚fehlenden Glieder‘ die Möglichkeit neuer, symbolisch-metaphorischer Zusammenhänge geschaffen werden soll. Am Beispiel vom ‚kleinen Mond‘ oder an Hoffmanns anderem Paradebeispiel vom Medizinstudenten (Aufz. 50–53) läßt sich eben diese Intention nachweisen (vgl. dazu unten unseren Kommentar zu diesen Aufzeichnungen).

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  12. Auf den Zusammenhang mit der Kunstkonzeption des jungen Nietzsche der ‚Geburt der Tragödie‘, die Rilke eingehend studiert hat, wie seine „Marginalien zu Nietzsche“ beweisen (R.M.R, Marginalien zu Friedrich Nietzsche, in: R.M.R., Sämtliche Werke, a.a.O., Bd.VI, S.1163–1175) werden wir im Kommentar zu den Aufzeichnungen 14 und 64 vor allem zu sprechen kommen.

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  13. Das Bild der Alchemie wird im ‚Malte-Roman‘ wiederholt verwandt (etwa in den Aufz. 26, 44, 52, 61, 71) und darf im ursprünglichen Sinn als „Läuterungslehre“ (Wörterbuch der Symbolik, hrsg. von Manfred Lurker, Stuttgart 1988, S.13) verstanden werden, die die Dimension der Kosmologie und die der handgreiflichen Realität der Metalle in eine Einheit faßt. Der auf die Wirklichkeit des Menschen angewandte Läuterungs- und Veredlungsprozeß arbeitet, gleich der wahren Alchemie, mit geistig-metaphorischen Handlungen, um das Blei des Leidens im auch physiologischen Vergehen in das Gold der Ewigkeit als der unausgesetzten Arbeit der in der Kunst verselbständigten Subjektivität zu wandeln. Vgl. dazu auch unseren kurzen, der Interpretation der Aufzeichnung 44 folgenden Exkurs über: Die Aufzeichnungen in der Perspektive eines alchemistischen ‚opus‘. Eben der Transfigurationscharakter klingt im glücklichen Titel des kurzen Essays von Ferruccio Masini über Rilke an: F.M., Alchimie del «possesso»,in: F.M., Gli Schiavi di Efesto. L’Avventura degli Scrittori Tedeschi del Novecento, Roma 1981, S. 162–165.

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  14. Anna Lucia Giavotto-Künkler sieht im ‚Malte‘ eine kopernikanische Wende Rilkes, weil es sich um den Rückzug des künstlerischen Schaffens von aller Weltinterpretation handle, die sich objektivierender Methoden und äußerer Blickwinkel bediene. Vgl. A.L.G.-K., Considerazioni preliminari dal Malte Laurids Brigge, in: A.L.G.-K., „Non essere sonno di nessuno sotto tante palpebre“. Rilke o la responsabilità del compito conoscitivo, Genova 1979, S.9–22.

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  15. Die Nähe der Gemeinschaftskonzeption Maltes zu der Nietzsches wird in der Aufzeichnung 64 über das antike Theater besonders deutlich. Vgl. dazu unten unseren Kommentar zu den Aufzeichnungen 39 und 64. - Die veränderte Gesellschaft erfordert natürlich andere, ihr entsprechende literarische Ausdrucksformen. Das Bild der Großstadt bei Rilke ist von Michael Pleister untersucht worden: M.P., Das Bild der Großstadt in den Dichtungen Robert Walsers, Rainer Maria Rilkes, Stefan Georges und Hugo von Hofmannsthals, Hamburg 1982, S. 100–156. Pleister ist jedoch durchaus nicht zuzustimmen, wenn er Rilke die Ablehnung der ‚zivilisatorischen Errungenschaften der Großstadt‘ und den Wunsch zur Rückkehr zu einer traditionellen Agrarkultur zuschreibt. Die Kritik an der Moderne schließt zumindest im ‚Malte-Roman‘ durchaus ein, daß die Entwicklung zur Großstadt für irreversibel gehalten wird, bejaht und eine ihr entsprechende literarische Ausdrucksform gefunden werden muß. Susanne Lendanff hingegen erfaßt die spezifische Form des ‘Malte Laurids Brigge’ im Kontext von Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘ und Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ als Großstadtroman. S.L., Bildungsroman versus Großstadtroman,in Sprache im technischen Zeitalter 77/80, 1981, S.85–114.

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  16. Dieter Schiller, (Rainer Maria Rilke: „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Der Einsame und seine Welt, in: Rilke-Studien. Zu Werk und Wirkungsgeschichte, Berlin und Weimar 1976) hat darauf hingewiesen, daß die Dichtung bei Rilke religiöse Funktion erhält, aber unserer Meinung nach falsch als „Sehnsucht nach einer ‚heilen Welt‘“ interpretiert (S.143), insofern Malte keineswegs vor der Negativität der Gesellschaft wie des individuellen Leidens flüchtet, sondern das Hindurchgehen durch sie als Voraussetzung der Seligkeit begreift, derart, daß ein fortdauerndes Spannungsfeld konstituiert wird. Am ‚Malte‘ selbst ist die Privatisierung und die spezifische neue Funktion der Religiosität ablesbar, die sich als Entwurf aus der Negativität konstituiert und unlösbar an sie gebunden bleibt. Vgl. insbesondere die Aufzeichnungen 34, 40, 47, 59, 65, 71. Die Negativität der Gesellschaft und das individuelle Leiden spiegeln sich dann ja auch noch im Schmerz und der „eisigen Herrlichkeit“ der ‚großen Liebenden‘.

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  17. Horst Wittmann bezieht den ‚Malte‘ auf die Orpheus-Sonette Rilkes und stellt dann Maltes Sehen in den ersten Aufzeichnungen in Gegensatz zur Erfassung der Welt durch die Liebe (Aufz.22); das Sehen sei noch subjektiv, während die Liebe darüber hinaus sei. Horst Wittmann, Rilkes ‚Malte‘: Auf der Suche nach der Wahrheit jenseits der Subjektivität, in: Monatshefte 77, 1985, S.11–25. Das entspricht nun durchaus der immanenten Logik bis zu einem gewissen Grade, trägt aber in der philosophisch-systematischen Sicht gerade nicht dem Spannungsbogen der Subjektivität im ‚Malte‘ Rechnung. Statt vom Verlust der Subjektivität wäre von dem des Subjekts zu sprechen, während sich die Subjektivität ohne Subjekt, sozusagen nach dem Tod des Subjekts, ganz auf die Erforschung der Welt verwendet. Diese Erforschung bleibt aber an den extremen Pol der Subjektivität gebunden. Vgl. dazu unsere Ausführungen unten in der Einleitung sowie unsere Interpretation der Aufzeichnungen 1–5, 18, 22 und 45–48. Die Subjektivität Maltes ist auch deutlich in den Beiträgen Judith Ryans herausgestellt worden: J.R., Hypothetisches Erzählen, a.a.O.; J.R., Horti Conclusi: Metaphern des Mittelalters bei Rilke,in: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutschen Literatur, hrsg. von James F. Poag und Gerhild Scholz-Williams, Königstein/Ts. 1983, S.157–187; J.R., Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), in: Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen, hrsg. von Paul Michael Lützeler, Königstein/Ts. 1983, S.63–77.

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  18. Zur dieser Forschungsperspektive allgemein vgl. Gert Mattenklott, Der Übersinnliche Leib. Beiträge zu einer Metaphysik des Körpers, Hamburg 1982; Die Wiederkehr des Körpers, hrsg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Frankfurt a.M. 1982; Das Schwinden der Sinne, herg. von Dietmar Kemper und Christoph Wulf, Frankfurt a.M.1984; aber auch die Ergebnisse der ‚Kritischen Psychologie‘, v.a. Klaus Holzkamp, Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung, Frankfurt a.M. 1973; Klaus Holzkamp, Grundlegung der Psychologie, Frankfurt a.M./ New York 1983; Hamburger Ringvorlesung Kritische Psychologie. Wissenschaftkritik, Kategorien,Anwendungsgebiete, hrsg. von Norbert Kruse u. Manfred Ramme, Hamburg 1988; Karl Heinz Braun, Genese der Subjektivität, Köln 1982; Das Subjekt des Diskurses, hrsg. von Manfred Geier und Harold Woetzel, Berlin 1983 (Argument Sonderband AS 98); Volker Schurig, Die Entstehung des Bewußtseins, Frankfurt/New York 1976.

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  19. Das Verhältnis dieser nun in den Buchleib eingegangenen Subjektivität zu den Lesern möchte dabei sozusagen als eine Umkehrung des Bildes von ‚Allen in Einem‘ erscheinen, das pyramidenförmig im Einzelnen eine Art Kollektivgedächtnis aller menschlichen Vergangenheit erkennt, in dem alle vergangene Geschichte aufgehoben ist (vgl. 14.4/727). Nicht nur zieht sich die Gemeinde der Leser bei der Lektüre einfühlend in die im Buch verobjektivierte Subjektivität zusammen, ebenso geht in ihren Köpfen als Lesern die Arbeit dieser Subjektivität, die endlose Arbeit der Kombination der Fragmente, weiter. Auf diese Weise möchte dann doch noch irgendwie in der Lesergemeinde der in der Mystik verlorengegangene soziale ‚Grund‘, aus dem die neuen Bedeutungen steigen, hinterrücks wiedergewonnen sein. - Von einem völlig anderen Gesichtspunkt aus, daß Malte durch „den Abschluß des Romans, die Geschichte des verlorenen Sohnes, [...] gewissermaßen verdrängt wird“ gelangt auch Käte Hamburger zur Schlußfogerung, „daß es in den «Aufzeichungen des Malte Laurids Brigge» auf Malte selber nicht hinaus will, sondern - sollte der Titel das nicht schon indizieren - auf die Aufzeichnungen“. Vgl. K.H., Rilke. Eine Einführung, Stuttgart 1976, S.84f.

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  20. William Small, Rilke Kommentar zu den «Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge»,Chapel Hill 1983.

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  21. August Stahl, Rilke Kommentar. Zu den «Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge», zur erzählerischen Prosa, zu den essayistischen Schriften und zum dramatischen Werk, München 1979.

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  22. Vgl. dazu Gert Mattenklott, „Die Zeit der andern Auslegung“ der ‚Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘, In: Methodische Praxis der Literaturwissenschaft, hrs. von D.Kimpel u. B.Pinkerneil, Kronberg/Ts. 1975, S.117–157.

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Kruse, B.A. (1994). Einleitung. In: Auf dem Extremen Pol der Subjektivität. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87381-1_1

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