Zusammenfassung
Der gegenwärtige Diskurs über die Zukunft des Sozialstaats ist — sowohl was die Analyse, als auch was die Schlussfolgerungen anbelangt — überwiegend ein Modernisierungsdiskurs, der Reformen mit einem Mehr an ökonomischen Gestaltungsmöglichkeiten gleichsetzt. Sozialpolitik gilt dabei zunehmend als Problemverursacher einer wachstumsgefährdenden „Überregulierung“: das soziale Sicherungssystem „überfordert“ die finanziellen Möglichkeiten des Staates, „Anreize“ zur Aufnahme niedrig entlohnter Tätigkeiten werden systematisch vernachlässigt und neue Sozialstaatsphilosophen sehen das Verhältnis von „Effizienz und Gerechtigkeit“ nachhaltig gestört, weil es zu normativ unbefriedigenden Resultaten geführt habe. Erstaunlich an dem als neuem Leitbild der Sozial- und Gesellschaftspolitik aufscheinenden Modell eines Sozialstaats, der dem Individuum die Hauptverantwortung für die Bewältigung defizitärer Lebenslagen zuweist, ist weniger der gebetsmühlenartig vorgetragene Hinweis auf die „Folgen der Globalisierung“ (so als sei diese ein der Politik unumstößlich vorausgesetzter Tatbestand) als vielmehr die quasireligiös fundamentierte Entschiedenheit, mit der Gestaltungs- und Strukturprinzipien des bundesrepublikanischen Sozialstaats als überholt deklariert und die Heilsversprechen eines einseitig ökonomisierten Umbaukurses propagiert werden. Den Vertretern einer Sozialpolitik, die in der Orientierung auf flexible Arbeitsmärkte und residuale Grundversorgung die alternativlose Zukunft des Sozialstaats sehen (und die inzwischen auch jene erreicht hat, die einstmals mit der Forderung nach mehr Sozialstaatlichkeit ihre wissenschaftliche und administrative Karriere begründet haben) scheint es gleichgültig, welche gesellschaftlichen Folgen mit den nun schon seit einigen Jahren als „Modernisierung“ verfolgbaren Umbaustrategien ausgelöst werden. Die Einseitigkeit und Parteilichkeit mit der jeder Hinweis darauf, das (Lohn)Arbeit ein Mittel der Lebensgestaltung ist und der Beitrag des Sozialstaats zur Erhaltung von Lebensqualität auch eine normative Dimension beinhaltet, als reformfeindlich denunziert wird, ist ein Kennzeichen der gegenwärtigen bundesdeutschen Sozialstaatsdebatte, die einen gesellschaftlichen Veränderungsbedarf erkannt haben will, der auf die schlichte Formel verkürzt wird: Den Leuten geht es angesichts der sozialstaatlichen Überversorgung zu gut.
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Dahme, HJ., Wohlfahrt, N. (2003). Aktivierungspolitik und der Umbau des Sozialstaates. In: Dahme, HJ., Otto, HU., Trube, A., Wohlfahrt, N. (eds) Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87369-9_5
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