Zusammenfassung
Vielfach diskutierte Ansätze im Zusammenhang mit virtual (MUD) communities sind dem Lebenssimulations-Konzept (das von sozialphilosophischen über sozialanthropologische bis hin zu psychologischen Interpretationen reicht) oder dem Eskapismus-Konzept (kommunikationswissenschaftlich dem uses and gratifications approach folgend) unterzuordnen, woraus spezifische Funktionen von MUDs abgeleitet werden:
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Lebenssimulation: Spiel- und Konversationswelten werden auch als Instrumente zur Selbstfindung und Identitätskonstruktion betrachtet, wonach sich MUDer gewissermaßen als „Mängelwesen“ empfinden und einen Ausgleich zu realweltlichen Defiziten suchen. Als begünstigende Faktoren der Identitätskonstruktion stehen in diesem Zusammenhang das Wegfallen realweltlicher Sanktionsmöglichkeiten, Anonymität, Entkörperlichung, Distanz, aber auch direktes Feedback im Kommunikationsprozeß und phantastische Elemente (Imagination) im Vordergrund (vgl. Bruckman 1992; Turkle 1984 und 1998; Curtis 1992; Ried 1994; Bromberg 1996; Becker 1997; Sandbothe 1997 u. a.). Das dadurch entstehende Experimentier- und Probehandeln (vgl. Rejzlik 1998: 53 ff.) kann soweit gehen, daß es auch bei der Bewältigung psychischer Problemlagen hilft. Diese therapeutische Funktion von MUDs und Chat-Environments wird allerdings kontroversiell diskutiert: Einerseits können zwar Erfahrungen in Hinblick auf realweltliche Lebenslagen durch role playing oder gender swapping (vgl. Bruckman 1993) gemacht und möglicherweise Hemmschwellen oder Ängste abgebaut werden (hinsichtlich Verlustbzw. Todeserfahrungen oder Geschlechterbeziehungen etc.), andererseits besteht jedoch kein direkter Zusammenhang mit dem real life, wodurch eine unmittelbare Übertragung dieser Erfahrungen relativ unwahrscheinlich erscheint. Des weiteren wird von verstärkter Handlungsermächtigung — empowerment — gesprochen (vgl. Turkle 1998; Bromberg 1996). Im Zusammenhang mit der identitätsstiftenden Funktion von MUDs und Chat-Environments ist darüber hinaus der Aufbau sozialer Beziehungen und Netzwerke (vgl. Gräf 1997) interessant: Empirischen Studien zufolge (vgl. Parks 1996 und 1997; Ryan 1995) scheint die Etablierung sozialer Beziehungen speziell in MOOs (social MUDs) ein wesentliches Motiv zu sein. MOOs wurden als weitere Orte der Kontaktaufnahme von Menschen bezeichnet, die realweltlichen Bezügen wesentlich weniger entrückt sind als angenommen.
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Eskapismus: Die Unterhaltungsfunktion von MUDs und Chat-Environments kann als häufiger Ausgangspunkt wissenschaftlicher Arbeiten gelten. Dabei werden insbesondere die Aspekte Ablenkung und Zeitvertreib, Flucht vor den „Alltäglichkeiten“ des Lebens, vor gesellschaftlichen Zwängen oder Isolation berücksichtigt. Begünstigende Variablen stellen die Anonymität, Orts- und Zeitunabhängigkeit der Nutzung sowie die Distanz der Kommunikationspartnerinnen dar (vgl. Buddemeier 1993; Herz 1996; Tasche 1997; Rejzlik 1998 u. a.); oftmals wird auch suchtähnliches Verhalten — MUD-addiction — vermutet (vgl. Curtis 1992; Sempsey 1995 und 1998, Turkle 1998 u. a.), zumal eine verstärkte Anregung der Phantasie und die Ablenkung von realweltlichen Problemlagen zu Alltagsflucht führen kann. Allerdings sind nur wenige dieser Untersuchungen empirisch gestützt.
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Götzenbrucker, G. (2001). Theoretische Implikationen und Forschungsansatz. In: Soziale Netzwerke und Internet-Spielewelten. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87337-8_4
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-87337-8_4
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-13655-4
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