Zusammenfassung
Wer ernsthaft liest, weiß, daß einundderselbe Text — gerade auch ein literarischer — sich auf viele und zugleich auf sehr verschiedene Weisen lesen läßt. Man kann z.B. auf historische Referenz lesen und in der entsprechenden Lektüre ein Zeitdokument erstellen. Ein derart behandelter Text ist dann ein Beleg für eine bestimmte soziale Konstellation oder Zeugnis eines biographischen Werdegangs. Gleichfalls als legitim gilt eine Lektüre, die sich mit dem Text unter therapeutischen Vorzeichen beschäftigt, ihn zur Poesie- und Bibliotherapie gebraucht und so zum Katalysator werden läßt für psychische Heilungsprozesse, etwa beim Abbau von Schreibblockaden. Man kann einen Text auch, und das ist im folgenden das Thema, unter dem Aspekt einer besonderen pädagogischen Wirkung sehen und ihn auf eine Weise bearbeiten, die auf (s)ein pädagogisches Potential setzt und es in einer wiederum vom Verwendungskontext her konzipierten Lektüre auch möglichst wirkungsvoll freizusetzen versucht. Hier ist es die in pädagogischen oder bildungsphilosophischen Begriffen ausgelobte Wirkung des Texts auf den als bildungsfähige Person gedachten Leser, die eine eigene Arbeit am Text motiviert. Organisiert wird das typischerweise unter dem Titel einer „Literarischen Bildung“ und unter dieser respektvoll anerkannten Bezeichnung steht sie für eine der auffälligsten Eigentümlichkeiten unserer Buch- bzw. Medienkultur.1 Sehr vieles von dem, was das pädagogische Interesse an Textumgangsweisen legitimiert, wird quer durch die Gesellschaft anerkannt und entsprechend ohne Schichtenoder Geschlechterprivilegien praktiziert oder zumindest als allgemein wünschenswert ausgegeben.2 Die Literarische Bildung ist demnach weder reserviert für eine hochspezialisierte Begabung noch setzt sie eine artistische Lesefähigkeit voraus. Sie soll vielmehr allen, so eine elementare Lesefähigkeit vorhanden ist, möglich sein, und folglich hat man diese Art des Lesens in einem eigens dafür reservierten Schulfach, dem literaturgestützten Deutschunterricht, nicht nur dauerhaft, sondern auch an zentraler Stelle im allgemeinen Fächerkanon der Schule installiert.3 Zugleich ist sie, und das unterstreicht den Wert, den man dieser Textumgangsweise zuerkennt, keineswegs auf die Schulzeit begrenzt. So ist das Studium der Germanistik nicht nur eines der Massenfächer an der Universität, sondern zugleich auch eines der Literatur und nicht der Sprache oder Linguistik — und in dieser Ausrichtung wird das Fach auch dann massenhaft gewählt, wenn aus ihm nur geringe Berufs- und Einkommenschancen erwachsen. Stets scheint es ein dem Leser selbst zukommender Ertrag zu sein, den man von einer solchen Lektüre für sich erwartet, oder, sozialpädagogisch und gesellschaftspolitisch gewendet, den man bei all denen erhofft, die an diesem Programm teilnehmen.
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Literatur
Derrida, Jacques (1992): Préjugés. Vor dem Gesetz. Wien.
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Kafka, Franz (1970): Sämtliche Erzählungen. Hrsg. v. Paul Raabe. Frankfurt/a.M.
— Ders. (1983): Der Verschollene. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt/a.M.
— Ders. (1990): Der Proceß. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt/a.M.
— Ders. (1992): Nachgelassene Schriften und Fragmente. Band II, Kritische Ausgabe, hrsg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt/a.M.
Kant, Immanuel (1968): Kritik der Urteilskraft. Werke, Band 8, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt.
Kremer, Detlef (1992): Franz Kafka, „Der Proceß“. In: Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.): Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas „Der Proceß“. Würzburg. S. 185-199.
Nietzsche, Friedrich (1888): Nachgelassene Fragmente. KSA Bd.13.
Novalis (1978): Werke, Tagebücher und Briefe. Band II, hrsg. v. Hans-Joachim Mähl, München.
Pasley, Malcolm (1990): Die Handschrift redet. In: Marbacher Magazin 52 (1990).
Pornschlegel, Clemens (1994): Der literarische Souverän. Freiburg (Rombach).
Schiller, Friedrich (1962): Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Nationalausgabe Band 22, hrsg. v. Benno von Wiese. Weimar.
Seel, Martin (1993): Vor dem Sein kommt das Erscheinen. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Medien. In: Merkur (10/1993). S.770–783.
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© 1998 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden
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Kremer, D., Wegmann, N. (1998). Ästhetik der Schrift. Kafkas Schrift lesen „ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen“?. In: Rupp, G. (eds) Ästhetik im Prozeß. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87287-6_3
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