Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund einer gesteigerten Entfesselung kapitalistischer Produktivkräfte kam es bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges zu einem kontinuierlichen wirtschaftlichen Wachstumsprozeß, an dem die Arbeiterschaft bedingt durch gewerkschaftliche Forderungen und sozialdemokratischer Parteiarbeit in Form von Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen partizipierte. Durch die Integration der Arbeiterklasse in den sich weiterentwickelnden bürgerlichen Staat wurden die immanenten Widersprüche der kapitalistischen Reproduktion zunächst verdeckt. Der die Geschichte der Arbeiterbewegung durchziehende Konflikt zwischen Sozialrevolutionären Positionen einerseits und revisionistischer Strategie anderseits wurde angesichts der prosperierenden ökonomischen und sozialen Lage weitgehend zugunsten der letzteren entschieden, obwohl die Sozialdemokratie allerdings ihre auf Klassenkampf ausgerichtete Rhetorik, mithin ihr sozialistisch-revolutionäres Selbstverständnis, nie ganz aufgegeben hatte (hierzu etwa Abendroth 1985: 142 sowie Papcke 1979). Doch als Folge der Verbesserungen in den allgemeinen Lebensbedingungen und ihres Ausschlusses von der Regierungsverantwortung, die nahezu noch gänzlich in den Händen von Junkertum und Bourgeoisie lag, hatte sich für weite Teile der Arbeiterschaft die revisionistisch-reformerische Strategie der kleinen Schritte als das erfolgsversprechen-dere Konzept zur längerfristigen Erlangung politischer Einflußnahme angeboten.
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Literatur
Dieter Groh sprach in diesem Zusammenhang von “negativer Integration”, welche gekennzeichnet sei “durch zunehmende ökonomische Besserstellung und Tendenzen zur rechtlichen und faktischen Gleichberechtigung einerseits bei gleichzeitiger grundsätzlicher Verweigerung der Gleichberechtigung in Staat und Gesellschaft und Fortdauer der Ausbeutung und der Unterdrückungsmaßnahmen andererseits” (Groh 1973: 36).
Faßler resümierte: “Für die Sozialdemokratie stellt sich dieser Prozeß der zunehmenden organischen Zusammensetzung der Gesellschaft unter einem besonderen Gesichtspunkt: die angestrebten Formen zentraler Verwaltung sind kulturell und politisch “integriert”, oder richtiger: diese sind klassenauthentisch.” (Faßler 1979: 240).
Es hatte bekanntermaßen nicht an analytischen Versuchen gefehlt, diesen industriellen Transformationsprozeß integrativ anzugehen. Genannt seien nur: Rudolf Hilferdings “organisierter Kapitalismus” (Hilferding 1973) sowie Fritz Naphtalis “Wirtschaftsdemokratie” (Naphtali 1966).
In Bezug auf den einhergehenden Wandel im sozialdemokratischen Organisationsverständnis bemerkte Faßler einen “Zerfall des eigentumsgebundenen Praxisverständnisses des Konkurrenzkapitalismus”, der folgerichtig von der Zentralisation des Gesamtkapitals her gedacht wurde (Faßler 1979: 194f).
Wolfgang Abendroth unterschied nicht ganz unproblematisch zwischen einem “nationalistischen Unterbewußtsein” und einem “sozialistischen Bewußtsein” als zwei prinzipiell verschiedenen Bewußtseinsebenen in den kognitiven Strukturen der Arbeiterklassse; in dem Augusterlebnis hätte das Erstere dann letztlich den Sieg errungen (Abendroth 1985: 146).
Kocka sprach in diesem Zusammenhang von “Tendenzen zur Verselbständigung des Staates” (Kocka 1988: 1600- Zum gleichen Thema: Zunkel 1974; Schröter 1965.
Klönne betonte, daß der “Vaterländische Hilfsdienst” und die spätere Zentral-Arbeitsgemeinschaft mit den Kapitalverbänden aus der Zuversicht “einer einvernehmlichen Zusammenarbeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern im Interesse des nationalen Wirtschaftslebens” zustandegekommen sei (Klönne 1989: 133). Demgegenüber unterstrichen Pohl/Werther den repressiven Charakter des Hilfsdienstgesetzes (Pohl, Weither 1989: 158). Ebenso: Schröter 1965: lOf; Kuczynski 1967: IV 268.
Tatsächlich regte sich schon früh der innerparteiliche Widerstand gegen eine von oben verordnete Burgfriedenspolitik, wie Kruse detailliert nachgewiesen hatte (Kruse 1993: 157f).
Dieses schwierige, letztlich denn auch ungeklärte Verhältnis der Sozialdemokratie zu den eigenen etatistischen Vereinnahmungstendenzen hatte Manfred Faßler eindrucksvoll dargelegt (Faßler 1977).
Keineswegs aber war diese integrative Perspektive ein akzeptiertes Allgemeingut in der Sozialdemokratie (Kruse 1993: 158).
Georg Lukács sprach vom “religiösen Atheismus” Webers. “Die entzaubernde Gottlosigkeit und Gottverlassenheit des Lebens erscheint als die historische Physiognomie der Gegenwart, die man zwar als geschichtlichen Tatbestand akzeptieren muß, die aber eine tiefe Trauer, eine tiefe Sehnsucht nach den alten, noch nicht “entzauberten” Zeiten erwecken muß.” (Lukács 1984: III 68).
Über Michels Elitetheorie informieren Jaeggi 1960: 34f; Ebbighausen 1969; Röhrich 1972.
Kurt Lenk sprach in diesem Zusammenhang treffend von “Epochentragik”, und er urteilte darüber: “Das Verständnis der bedrohlich erscheinenden gesellschaftlichen Prozesse wäre diesen Denkern nur von einer Position her möglich gewesen, die jenseits des bürgerlichen Lebensgefühls hätte liegen müssen. Statt dessen wurde die Ratio selber für das verantwortlich erklärt, was sie erkannte.” (Lenk 1989: 130).
Die funktionale Bedeutung des Elitenbegriffs analysierte treffend Urs Jaeggi (Jaeggi 1960).
Kurt Lenk betonte, daß die “Proletarisierung der Intelligenz” den konservativen Zivilisationskritikern als Symptom des kulturellen Verfalls im ausgehenden Liberalismus erscheinen mußte (Lenk 1989: 127).
Deleuze stellte in Abrede, daß Nietzsche in der Dialektik von bürgerlicher Naturaneignung befangen blieb; er wollte ihn statt dessen fälschlicherweise als historischen Überwinder der Dialektik präsentieren (Deleuze 1991).
Hierüber urteilte Habermas: “Mit Nietzsche verzichtet die Kritik der Moderne zum ersten Mal auf die Einbehaltung ihres emanzipatorischen Gehaltes. Die subjektzentrierte Vernunft wird mit dem schlechthin Anderen der Vernunft konfrontiert.” (Habermas 1993: 117). Unberücksichtigt bleibt bei Habermas allerdings, daß Nietzsches archaische Mythologie die Banden einer radikalen Subjektphilosophie nur deswegen nicht zu sprengen vermochte, weil sich in ihr die soziale Zweckhaftigkeit in einem entgesellschaftlichen Vorstellungsraum zu maskieren trachtete. So mußte sich denn auch Nietzsches Philosophie als eine antisoziale ausnehmen, die das gesellschaftliche Verhältnis lediglich unter den Kategorien von Masse/Elite abhandelte.
Demgegenüber verzerrte Taurecks Nietzsche-Interpretation dessen politische Ambitionen, wenn er darin den “Versuch einer Kastenordnung unter den Bedingungen fortgeschrittener Demokratisierung” sah (Taureck 1989: 170). Denn es ist unbestreitbar, daß Nietzsches Machttheorie das Medium der Philosophie wählte, um politische Herrschaft gleichsam übergeschichtlich und apolitisch zu erweisen.
Unübertroffen hierzu: Adorno 1964.
In seiner differenzierten Studie über die Philosophie Martin Heideggers beschrieb Ebeling eine mit Heideggers Philosophie verschwisterte Ideologie; tatsächlich aber sind und waren beide Aspekte seines Werkes identisch und nicht voneinander zu trennen (Ebeling 1991).
Gleichermaßen urteilte Ernst Bloch über die Philosophie Heideggers: “Es bleiben Befinden und Stimmung hier ungetrennt; so hindert die Flachheit in diesem ungeschieden animalischen Gewoge jede Ahnung vom Dunkel des wirklich unmittelbaren Existiere, das auch in der Stimmung sein Sein… noch keineswegs als Da vor sich selber bringt” (Bloch 1990:118).
Treffend hatte Georg Lukács die Heideggersche Subjektphilosophie charakterisiert, als er hierbei von einer “Ideologie des Katzenjammers des Individualismus der imperialistischen Periode” sprach (Lukács 1983: II 165). Zu Heideggers Philosophie etwa Gerlach 1982.
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Meyer, T. (1997). Die konservative Illusion der klassenlosen Gesellschaft im Spätwilhelminismus. In: Stand und Klasse. Studien zur Sozialwissenschaft, vol 184. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-86882-4_12
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-13031-6
Online ISBN: 978-3-322-86882-4
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