Zusammenfassung
Mit der Industrialisierung wurde die Kernfamilie — in einer durch das Bürgertum bestimmten Ausprägung — zur fast alleinigen Familienform in Europa, und erst ab den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts zeichnen sich immer stärkere Tendenzen zur Aufweichung der lange Zeit unangefochtenen Monopolstellung dieses Familientyps ab. Daß in den zwei Jahrzehnten nach dem Krieg in der Soziologie die Ansicht weitverbreitet war, das kernfamiliale System der Haushaltsgemeinschaft von Eltern und ihren biologischen Kindern sei ein gewissermaßen überhistorisches, universell verbreitetes Grundgebilde der Vergesellschaftung3, hängt vielleicht auch damit zusammen, daß gerade diese Zeit das „goldene Zeitalter“ der Kernfamilie war4. Natürlich bezog sich die damalige soziologische Lehrmeinung über die universelle Verbreitung des kernfamilialen Grundmusters nicht auf die Kernfamilie in der uns vertrauten Form (als strikt separierte Intimeinheit); aber es wurde häufig doch mehr oder weniger ausdrücklich unterstellt, der Kernfamilienzusammenhang sei die „Zentraleinheit“ (vgl. Murdock 1949, 2) der vielen kulturspezifisch differierenden Familienformen komplexerer Art, eine sich in irgendeiner Form in ihnen auch realiter heraushebende Grundstruktur. Es war zunächst eine vor allem von Ethnologen vorgetragene Kritik, die zu einer gewissen Modifikation dieser Auffassung zwang, und diese Kritik wurde dann ab den siebziger Jahren durch sozialgeschichtliche Untersuchungen über vorindustrielle Familienformen in Mittel- und Westeuropa ergänzt. Diese Untersuchungen machten nämlich nicht nur die Vielfalt traditioneller europäischer Familienformen sichtbar, sondern sie ließen auch als fraglich erscheinen, ob sich bei manchen dieser Formen die Kernfamiliengruppe überhaupt sinnvoll aus dem sozialen Gesamtzusammenhang der Hausgemeinschaft heraustrennen läßt. Zum Beispiel verweisen Mitterauer/Sieder (1980, 29ff.) auf österreichische Kirchenbücher aus dem 17. Jahrhundert, in denen Haushaltsangehörige als „Kinder“ bezeichnet werden, die unmöglich von ihren „Eltern“ abstammen können. Und zugleich wurden dort unterschiedslos Personen als „Knechte“ und „ Mägde“ aufgeführt, die „Kinder“ im Sinne des Abstammungszusammenhangs als auch nichtverwandte Angehörige der Hausgemeinschaft sind. Ein derartiger Hinweis macht bereits deutlich, daß im vorindustriellen Europa die „Kernfamilie“ manchmal nur mit einer gewissen Künstlichkeit aus der Gesamtheit der Hausgemeinschaft heraustrennbar ist; es gibt deshalb Autoren, die in solchen Fällen die Verwendung des Kernfamlienbegriffs für unhistorisch halten und möglichst vermeiden wollen. Es leuchtet aber sofort ein, daß ein solcher Vorschlag nicht minder problematisch wie der kritisierte unhistorische Gebrauch des Begriffs ist, denn schließlich fand die Vererbung des Besitzes in den vorindustriellen Familien nur innerhalb des kernfamilialen Verwandtschaftszusammenhangs statt, und gerade das Leben im bäuerlichen Haus hatte sein ideelles Zentrum im Erhalt des Hofes für eine noch gar nicht überschaubare zukünftige Geschlechterfolge (Imhof 1984). Es bleibt aber trotzdem festzuhalten, daß der Familienzusammenhang in der traditionellen Hausgemeinschaft nur wenig mit unserem Familienbild zu tun hatte. Einen ersten Einblick in die Unterschiede erhalten wir durch einige Hinweise auf die Wortgeschichte des Familienbegriffs.
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© 1997 Leske + Budrich, Opladen
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Pohlmann, F. (1997). Aspekte vorindustrieller Familienformen in Europa. In: Die europäische Industriegesellschaft. Uni-Taschenbücher, vol 1969. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-86694-3_9
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