Zusammenfassung
Der totale Krieg und der militärische Zusammenbruch des Deutschen Reiches hatten im Mai 1945 — anders als im Jahr 1918 — keine revolutionäre Situation herbeigeführt. Dennoch fand Mitte der vierziger Jahre in Deutschland eine sozialstrukturelle Umschichtung statt, wie sie die Deutschen seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr erlebt hatten: Im Laufe des Krieges waren allein in Deutschland 5,25 Millionen Menschen — Soldaten, Kriegsgefangene und Zivilisten — ums Leben gekommen. Rund 200 000 deutsche Staatsangehörige hatten die Nationalsozialisten aus rassischen oder politischen Gründen ermordet1. Im Restgebiet des ehemaligen Deutschen Reiches lebten laut der Volks- und Berufszählung vom 29. Oktober 1946 in allen vier Besatzungszonen und Groß-Berlin 65 150 932 (1939: 58 846 000) Menschen: 36 211 118 (1939: 30 069 086) Frauen und 28 939 814 (1939: 28 776 914) Männer, d. h. auf 100 Männer kamen rund 125 Frauen2. Die unfreiwillige Völkerwanderung von über 12 Millionen Deutschen nach Westen, die meist spontane Rückwanderung von ca. 9 Millionen ausländischen Zwangsarbeitern in ihre Heimatländer und die Internierung von 12 Millionen ehemaligen deutschen Soldaten in den Kriegsgefangenenlagern der Siegermächte hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die demographische Zusammensetzung und das vorherrschende Bewußtsein in der nachkriegsdeutschen „Zusammenbruchsgesellschaft“3.
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Literatur
Die Armeen des Zweiten Weltkrieges zählten rund 110 Mill. mobilisierte Soldaten; von ihnen sind 24 Mill. gefallen. Noch höher — 31 Mill. — waren die Verluste der Zivilbevölkerung. Insgesamt kostete der Zweite Weltkrieg (einschließlich der ermordeten 6 Mill. Juden) mehr als 55 Mill. Menschen das Leben. Davon entfielen allein auf die UdSSR etwa 20 Mill., auf Polen 4,5 Mill. und auf Deutschland 5,25 Mill. Menschen. Rechnet man nur die Verluste der Zivilbevölkerung und des Militärs im damaligen Deutschen Reich zusammen, fielen dem Krieg und der Vertreibung rund 8,4 Mill. Deutsche, Österreicher und Volksdeutsche zum Opfer. Vgl. Eberhard Aleff, Das Dritte Reich, Hannover 1976, S. 240;
Herbert Michaels, Die Endphase des Zweiten Weltkrieges und seine Folgen, in: Der Zweite Weltkrieg. Bilder, Daten, Dokumente, Gütersloh 1982, S. 498;
Wolfgang Bleyer/Karl Drechsler/Gerhard Förster/Gerhard Hass, Deutschland von 1939 bis 1945, Berlin (DDR) 1969, S. 415.
In diesen Zahlen ist das Saargebiet, das zur Zeit der Volkszählung noch zur französischen Besatzungszone gehörte, nicht enthalten. Nach den Angaben der damaligen französischen Militärregierung belief sich das vorläufige Ergebnis der Volkszählung von Oktober 1946 auf 852 598 Personen, von denen 305 426 männlich und 467 172 weiblich waren. Für das gesamte Zählungsgebiet (also einschließlich des Saargebiets) errechnet sich eine Gesamtbevölkerung von 66 003 530 Einwohnern: 36 678 290 Frauen und 29 325 240 Männer. In dieser Zahl sind die 693 443 ehemals verschleppten Zwangsarbeiter (Displaced Persons), die damals noch in D.P.-Lagern lebten, mit erfaßt. Vgl. Volks- und Berufszählung vom 29. Oktober 1946 in den vier Besatzungszonen und Groß-Berlin, hrsg. v. Ausschuß der Deutschen Statistiker für die Volks- und Berufszählung 1946, Berlin 1951, Textteil, S. 1 f.
Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung, Göttingen 1982. Kleßmann nennt sein Kapitel über die demographischen Verschiebungen und Zerstörungen der tradierten Sozialstrukturen „Die Zusammenbruchgesellschaft“.
Ute Schmidt/Tilman Fichter, Der erzwungene Kapitalismus, Berlin 1972, S. 96.
Ute Schmidt/Tilman Fichter, Kontinuität oder Bruch?, in: Grauzonen/Farbwelten, Kunst und Zeitbilder 1945–1955, Berlin 1983, S. 14.
Daneben gab es in der amerikanischen Zone noch zwei Handelshochschulen in Mannheim und Nürnberg, vier Kunsthochschulen in Karlsruhe, München, Nürnberg und Stuttgart, vier Musikhochschulen in Frankfurt, Karlsruhe, München und Stuttgart, eine Landwirtschaftshochschule in Hohenheim und eine Hochschule für Bodenkultur und Veterinärmedizin in Gießen, ferner zehn theologische Hochschulen (Bamberg, Dillingen, Eichstätt, Freising, Passau, Regensburg, Frankfurt a. M., Fulda, Neuendettelsau und im amerikanischen Sektor von Berlin). Wichtig zu nennen ist auch noch die vom DGB wiedergegründete „Akademie der Arbeit“ in Frankfurt a. M. In der britischen Zone gab es noch die Bergakademie in Clausthal, die Medizinische Akademie in Düsseldorf und die Tierärztliche Hochschule in Hannover. Daneben existierten eine Kunsthochschule in Düsseldorf, zwei Musikhochschulen in Kiel und Köln sowie drei theologische Hochschulen (in Paderborn, Bethel und Wuppertal), ferner 21 pädagogische Hochschulen, eine Sporthochschule in Köln, eine Gartenbauhochschule in Köln, eine Gartenbauhochschule in Hannover, eine Akademie für Städtebau und Landesplanung in Düsseldorf, die gewerkschaftsnahe Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg und die Sozialakademie in Dortmund. In der französischen Zone existierten noch zwei Musikhochschulen in Freiburg und Trossingen, eine Höhere Verwaltungsakademie in Speyer, ein Medizinisches Hochschulinstitut in Homburg/Saar, eine Dolmetscherschule in Germersheim und eine Bauhochschule in Trier. In der sowjetischen Besatzungszone sind noch die Bergakademie in Freiberg und das Hochschulinstitut für Wirtschaftskunde im sowjetischen Sektor von Berlin zu nennen. Außerdem existierten fünf Musikhochschulen in Berlin, Leipzig, Rostock, Halle und Weimar. Daneben bestanden eine Pädagogische Hochschule in Berlin, eine Hochschule für Angewandte Technik in Köthen und eine SED-Hochschule in Berlin. Vgl. Deutschland-Jahrbuch 1949, hrsg. v. Klaus Mehnert/Heinrich Schulte, Essen 1949, S. 364 f.
Vgl. die informative Reihe „Von der Universität“ in den ersten drei Jahrgängen des Studium Generale, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1948, 1949 und 1950, die ich für diese Arbeit ausgewertet habe.
Vgl. James F. Tent, Mission on the Rhine: Reeducation and Denazification in American-Occupied Germany, Chicago/London 1982, S. 57–69,
James F. Tent, Mission on the Rhine: Reeducation and Denazification in American-Occupied Germany, Chicago/London 1982, S. 74–109. Tent weist insbesondere darauf hin, daß die Wiedereröffnung der Universitäten in der amerikanischen Besatzungszone viel schneller erfolgte als das von den US-Behörden erwartet und geplant war
James F. Tent, Mission on the Rhine: Reeducation and Denazification in American-Occupied Germany, Chicago/London 1982, (ebd., S. 57 ff.).
— Vgl. auch Geoffrey J. Giles, Students and National Socialism in Germany, Princeton University Press, Princeton, N.J. 1985.
Vgl. Studium Generale, 3. Jg., H. 2 u. 3, 4. Jg., H. 7; Keesing’s Archiv der Gegenwart, 15. Jg. 1945, S. 513. Vgl. auch Anm. 27.
Zwischen 1794 und 1818 wurden ca. 20 deutsche bzw. deutsch-österreichische Universitäten aufgelöst oder als Restbestand anderen Universitäten angegliedert. Der Grund dafür war einerseits die Säkularisierung und andererseits die zurückgehende Anzahl der Studenten. So wurde z. B. 1794 die Hochschule in Stuttgart aufgelöst. 1795 folgte die Katholische Universität in Trier, 1797 wurden die Universitäten in Mainz und Bonn und kurze Zeit später auch die Kölner Universität aufgelöst bzw. verlagert. Vgl. Hans-Werner Prahl, Sozialgeschichte des Hochschulwesens, München 1979, S. JL99 f.
Materialien zur Entwicklung der Hochschulen 1950–1976, hrsg. v. W. Albert/Ch. Oehler, Hannover 1969, S. 94 ff.
Studium Generale, 1. Jg., H. 6, Okt. 1948, Bericht der Universität Bonn, S. 383 f.
Lothar Krappmann, Die Studentenschaft in der Auseinandersetzung um die Universität im Dritten Reich, in: Universitätstage 1966. Nationalsozialismus und die deutsche Universität, Berlin 1966, S. 156 ff. Krappmann bezieht sich in dieser Passage seiner Rede auf einen Artikel in der Göttinger Universitäts-Zeitung (GUZ), 2. Jg. 1946/47, H. 15, S. 7 ff.: „Auf den Hund gekommen“, von I. Aschoff.
Report über die Studentendemonstrationen in Würzburg und München: OMGB, Shipment 13, Box 100 1/15, 1–6, Standort ZI 6 der FUB. — Der Münchener Bericht wurde vom „970th Counter Intelligence Corps Detachment“ unter der Federführung von Ellington D. Golden zusammengestellt. Für den Würzburger und Erlanger Report zeichnet eine Unterabteilung derselben Einheit. Interessant für die damalige Situation ist, daß zu Beginn der Untersuchung langatmige Investigationen über den Einfluß der KPD auf die Studentenschaft in Bayern ausgebreitet werden. Die kurzen Verlaufsberichte über die zwei Demonstrationen weisen dagegen übereinstimmend darauf hin, daß von einer KPD-Agitation vor, während und nach der Demonstration so gut wie nichts zu bemerken war. — Vgl. auch Anm. 27. Vgl. auch Tent, Mission, S. 74 ff.: Als Hintergrund für die Untersuchung über die Studentenschaft in Bayern gibt Tent an: Im Januar 1946 habe Martin Niemöller auf Einladung der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) vor der Studentenschaft der Erlanger Universität zum Thema „Kollektivschuld“ gesprochen. In der Nacht darauf bemalten Unbekannte im Stadtzentrum Hauswände mit dem Slogan „Martin Niemöller: Werkzeug der Alliierten“. Weitere Beispiele für das damalige politische Klima an den Hochschulen: Für die schlechte Stimmung in Marburg macht Tent die Einquartierung von rund 14000 Angehörigen der US-Armee in die kleine Universitätsstadt verantwortlich. Ursprünglich lebten in dieser konservativen Kleinstadt nur 28 000 Menschen. Durch die Einquartierung der amerikanischen Truppen in Marburg sei nicht nur die Wohnsituation aufs äußerste angespannt gewesen, es häuften sich auch die Zusammenstöße zwischen amerikanischen Besatzungssoldaten und Studenten. Tent berichtet von einem kriegsblinden Theologiestudenten namens Wilhelm Brünger, den betrunkene amerikanische Soldaten zusammengeschlagen hätten. Brünger habe sich daraufhin an den Rektor der Universität Marburg, Prof. Julius Ebbinghaus, gewandt, der den Fall sofort an die amerikanische Militärregierung weiterberichtet habe. In dieser angespannten Situation habe dann eine vom Marburger AStA einberufene Versammlung gegen die Entnazifizierungsmaßnahmen der amerikanischen Militärregierung Irritationen bei der Militärregierung ausgelöst. Ähnliche Vorkommnisse berichtet Tent auch für den Raum München und für Erlangen. Wie die Göttinger Universitäts-Zeitung berichtete, beging der bekannte Münchener Physiker, Prof. Otto Hönigschmidt, zusammen mit seiner Frau Selbstmord, nachdem am Weihnachtsabend 1945 die US-Armee ihre Wohnung zum zweitenmal beschlagnahmt hatte. Im truppeninternen OMGUS-Report 308–2/5 kolportierte der amerikanische Hochschuloffizier Edward Y. Hartshorne, daß auf dem Aquarell eines Münchener Studenten folgende Szene abgebildet sei: Mitglieder eines studentischen Bautrupps enttrümmerten ein zerstörtes Universitätsgebäude, während im Vordergrund ein gelangweilter GI zusammen mit seinem „girlfriend“ herumflanierte. Laut Hartshorne nehme der durchschnittliche deutsche Student seinen amerikanischen Alterskollegen in Uniform so oder ähnlich wahr. Dieses etwas weit hergeholte Beispiel zeigt, wie unsicher die Militärbehörden bei der Einschätzung der Mentalität der ersten Studentengeneration in der Nachkriegszeit waren und welche Aufmerksamkeit sie deshalb auch solchen Lappalien schenkten.
Vgl. Report (Anm. 14), Wehrmacht-Veterans Among the Students of Bavarian Universities, Summer Term 1947, Tab. 4.
Vgl. ebd.
Hans Werner Richter, Warum schweigt die junge Generation?, in: Der Ruf, H. 2, 1.9.1946, S. 29 ff.
Report (Anm. 14), Situation der Studenten in München. Leider geht aus dem Dokument der Name des deutschsprachigen Verfassers dieses Schlußberichts über die Universität in München nicht hervor.
Ebd., Tab. 13.
Helge Pross, Die geistige Enthauptung Deutschlands: Verluste durch Emigration, in: Universitätstage 1966 1966 (Anm. 13), S. 143 ff. Pross beziffert die Zahl der bis zum Wintersemester 1934/35 Entlassenen mit 1145 Personen.
Vgl. auch Helge Pross, Die deutsche Akademische Emigration nach den Vereinigten Staaten 1933–1941, Berlin 1955, S.312.
Vgl. Christian von Ferber, Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864–1954, Göttingen 1956, S. 143 f. Diese Angaben beziehen sich nur auf amtierende Hochschullehrer; diejenigen, die erst nach der Emigration in die akademischen Lehrberufe eintraten, sind nicht eingeschlossen. Ihre Zahl kann nicht mehr ausgemacht werden, weil selbst die einfachsten Anhaltspunkte für Schätzungen fehlen.
Vgl. Pross, Emigration (Anm. 20), S. 12; vgl. auch Klemens Wittebur, Zur Emigration deutscher Wissenschaftler 1933–1945, in: Antifaschismus — Was ist das?, hrsg. v. Malte Ristau, Bonn o. J., S. 38 ff.
Vgl. die biographischen Handbücher der deutschsprachigen Emigration nach 1933: Bd. 1: Politik, Wirtschaft, öffentliches Leben, Leitung und Bearbeitung: Werner Röder u. Herbert A. Strauss, München/New York/London/Paris 1980; Bd. 2: dies. (Hrsg.), The Arts, Sciences and Literature, München/New York/London/Paris 1983. Jochen Hieber schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 6.6.1984 über die fast 9000 Einzelbiographien des Instituts für Zeitgeschichte: „Dieses Handbuch ist mithin ein wahrhaft Musilsches ‚Generalsekretariat der Genauigkeit‘, dem freilich angesichts der kalt und finster gewordenen Zeit, über die es Rechenschaft zu geben hat, die kakanische ‚Seele‘abhanden kam. An ihre Stelle tritt der Telegrammstil, dessen ebenso unbestechliche wie ungerühmte Sachlichkeit der Würde des Individuums aber wohl eher zu entsprechen vermag als ein gewiß unerträglicher, weil vieltausendfacher Versuch, so etwas wie ‚Betroffenheit‘zu zeigen: 11. Dez. 1941 zus. mit Breitscheid Auslieferung an Gestapo... auf der Fahrt in das Pariser Gef. Santé schwer mißhandelt, die wirkl. Todesursache blieb ungeklärt, heißt es, ein Beispiel nur, über Rudolf Hilferding, den Verfasser des ‚Finanzkapitals‘“. Aufgrund neuerer Forschungen wissen wir, daß nach 1933 rund 500 000 Menschen deutscher Staats- oder Sprachzugehörigkeit ihre Heimat verlassen mußten und ins Exil gingen. 1966 rechnete Helge Pross noch mit sehr viel niedrigeren Zahlen: „Von 1933 bis Kriegsbeginn sind wahrscheinlich 250 000 bis 280 000 Menschen emigriert, sicher wenig, wenn man an die Verluste durch Krieg und politische Morde denkt.“ Vgl. Pross (Anm. 20), S. 143, in: Universitätstage 1966.
Vgl. auch Lewis A. Coser, Refugee Scholars in America. Their Impact and their Experiences, Yale University Press, New Haven/London 1984;
Ferber, Lehrkörper (Anm. 21), S. 143 f.
Vgl. Krappmann, in: Universitätstage 1966 (Anm. 13), S. 163. Eine empirische und politologische Gesamtuntersuchung der Entnazifizierung an den Universitäten liegt leider bis zum heutigen Tage nicht vor. Zuverlässige Angaben über die Gesamtzahl der in den ersten Nachkriegsjahren von den Universitäten entfernten NS-Professoren und -Dozenten gibt es ebenfalls nicht.
Vgl. Report (Anm. 14), Tab. 16.
Göttinger Universitäts-Zeitung (GUZ), 2. Jg., Nr. 61, 21.2.1947.
Ebd., Nr. 4, 24.1.1947. — Anfang November 1946 hatte die britische Militärregierung u.a. die Kölner Universitätsprofessoren Ernst Bertram, Albert Aloysius, Egon Coenders, Gerhard Kallen und Hans Carl Nipperdey bei einer Überprüfung der Berufungsverfahren entlassen. Der Text der Resolution des Kölner AStA lautete: „Durch die Zusammenarbeit mit dem Universitätsoffizier der Militärregierung, Herrn Dr. Beckhoff, hat sich unser Vertrauen auf das wohlwollende Verständnis der Militärregierung immer mehr gefestigt. Um so härter trifft uns die plötzliche Entlassung einer großen Anzahl von Professoren, die als bedeutende Wissenschaftler unersetzbar sind und die wir zum nicht geringen Teil wegen ihrer freimütigen Sprache vor 1945 verehrt und bewundert haben. In Unkenntnis der Gründe dieser Entlassungen im einzelnen erlauben wir uns kein Urteil über die Berechtigung dieser Maßnahmen. Für uns wird aber durch diesen Eingriff die Arbeit der vergangenen Semester abgerissen, das weitere Studium auf das schwerste bedroht und die Kontinuität des wissenschaftlichen Lebens gefährdet. In dieser ernsten Lage bitten wir die Militärregierung, in einem Berufungsverfahren die Entscheidung noch einmal zu überprüfen und dabei die besonders schwierige Situation der Studenten mit in Betracht zu ziehen. Außerdem bitten wir darum, den Studenten Gelegenheit zu Zeugenaussagen über ihre Professoren geben zu wollen und ferner den jetzt suspendierten und entlassenen Dozenten bis zur endgültigen Entscheidung des Verfahrens, die, wie wir hoffen, eine positive sein wird, die Lehrerlaubnis zu erteilen.“ Eine unpolitische, idealistische und zugleich selbstgerechte Haltung dokumentiert der Leserbrief von stud. phil. Lioba Jäkle in der Göttinger Universitäts-Zeitung v. 24.1.1947 zum Thema „Professorenschaft und Entnazifizierung“: Unter der Überschrift „Persönlichkeiten!“ hieß es da: „Was verlange ich als Student von meinem Professor? Ich fordere einzig und allein, daß er eine Persönlichkeit ist. Er muß für die Wahrheit kämpfen und selbst ehrlich sein, d.h. seine eigene Meinung vor jedermann vertreten. Man muß ihm aber auch zugestehen, daß sich diese Meinung ändern kann, denn wir sind lebendige, entwicklungsfähige Menschen. Es ist also durchaus möglich, daß ein Professor heute bekennt: Ich habe in den vergangenen Jahren etwas anderes gelehrt als heute, aber ich habe eine Wandlung mitgemacht und gelernt. Wo ist der Professor, der dies bekennen würde? Und wenn er es täte, würde er am nächsten Tag nicht entnazifiziert werden, weil er einmal anders gedacht hat? Ich glaube, man muß auch in der oft falsch durchgeführten Entnazifizierung einen Grund suchen, daß unsere Professoren noch so viel schweigen. Wieviele positive Wege sind uns durch sie versperrt, Wege zur Umkehr und zum ehrlichen Bekennen. Man glaube uns, daß wir, die wir selber mit unserer eigenen Vergangenheit fertig werden müssen, zu erkennen vermögen, ob diese Wandlung echt oder nur vorgetäuscht ist. Mein Wunsch ginge also nicht nach einer Neuordnung des Systems der Universitäten, sondern nach einer mehr charakterlichen als politischen Auslese der Professoren. Hätten wir wahre Persönlichkeiten an unseren Universitäten — mögen sie reine Wissenschaftler sein oder dazu noch Pädagogen —, wäre dies die Gewähr für eine Erziehung, die einer Universität allein würdig ist.“ Die drei ersten Jahrgänge der Göttinger Universitäts-Zeitung sind eine wahre Fundgrube für den weitgehend unpolitischen Umgang der damaligen Professoren und Studenten mit ihrer jüngsten Vergangenheit.
Prahl, Hochschulwesen (Anm. 10), S. 12.
F. H. Rein, „Entnazifizierung“ und Wissenschaft. Eine Stellungnahme auf Befragung, in: GUZ, 1. Jg., Nr. 1, 11.12.1945, S. 7.
Ebd., S. 8.
Ebd.
Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung, Heidelberg 1947, S. 45. — Die hierin veröffentlichten Dokumente über den Nürnberger Ärzteprozeß geben einen Einblick in die sachlichen Grundlagen des Verfahrens. „Korrespondenzen, Übersichten der Geheimforschungen und Augenzeugenberichte machen deutlich, welche wissenschaftlichen Absichten verfolgt, welcher Stil im Umgang mit Menschen gepflogen und welche eugenischen und rassenpolitischen Endziele angestrebt wurden. Insgesamt zeigt sich, wie Menschlichkeit und ärztliche Souveränität untergehen, wenn eine Wissenschaft im Menschen nur noch das Objekt sieht und ihn als solchen behandelt.“ (Siehe Klappentext.) — Dr. Sigmund Rascher verkörperte den Typus des kriminellen und grausamen SS-Chargen.
Vgl. Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945, Stuttgart 1974, S. 231 ff.
Alexander Mitscherlich, Unmenschliche Wissenschaft, in: GUZ, 2. Jg., Nr. 17/18, 15.8.1947, S. 7.
Alexander Mitscherlich, Unmenschliche Wissenschaft, in: GUZ, 2. Jg., Nr. 17/18, 15.8.1947, Lap. Ebd., S. 6.
Alexander Mitscherlich, Unmenschliche Wissenschaft, in: GUZ, 2. Jg., Nr. 17/18, 15.8.1947, Lap. Ebd., S. 7.
F. H. Rein, „Entnazifizierung“ und Wissenschaft. Eine Stellungnahme auf Befragung, in: GUZ, 1. Jg., Nr. 1, 11.12.1945, Lap. F. H. Rein, Vorbeigeredet, in: ebd., S. 7 f.
Den Vorwurf, daß Mitscherlich „vorbeigeredet“ habe, begründete F. H. Rein, „Entnazifizierung“ und Wissenschaft. Eine Stellungnahme auf Befragung, in: GUZ, 1. Jg., Nr. 1, 11.12.1945, Lap. Rein (ebd., S. 8) folgendermaßen: „Zur Beantwortung der Frage, ob die Wissenschaft schon ihrem Wesen nach Ursache von Unmenschlichkeiten werden könne, hatte ich Dr. Mitscherlichs Broschüre herangezogen. Aus seinen Rand- und Schlußbemerkungen glaubte ich schließen zu müssen, daß er solcher Meinung sei. Seine oben abgedruckte Stellungnahme bestätigt, wie sehr ich richtig vermutet hatte. Er fixiert nunmehr gerade seine Meinung in der Überschrift »Unmenschliche Wissenschaft’. Meine Darlegung, daß jene Untaten des Nürnberger Ärzteprozesses nicht mit irgendeiner Verwerflichkeit des Wesens der Wissenschaft zu tun habe, werden durch seine Ausführungen an keiner Stelle entkräftigt. Dr. Mitscherlichs Anliegen ist ein völlig anderes als meines. Darum hat er ‚vorbeigeredet‘.“
— Vgl. auch Fridolf Kudlien, Ärzte im Nationalsozialismus, Köln 1985. Eine selbstkritische Auseinandersetzung über die „Braune Universität“ fand dagegen Ende der vierziger Jahre in den kulturpolitischen Periodika Frankfurter Hefte, Der Ruf, Nordwestdeutsche Hefte und Ende und Anfang statt. Zu den Herausgebern der Münchener Zeitschrift Ende und Anfang gehörten Theo Pirker, Siegfried Braun, Burkhard und Heinrich Lutz und Franz Bautz.
Vgl. Walter Dirks, Zeitschriften der ersten Stunde, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 33. Jg., Nr. 5, Mai 1986, S. 404. Die Nordwestdeutschen Hefte publizierten fast ausschließlich aus den Sendungen des NWDR in Hamburg. Die beiden Herausgeber waren Axel Eggebrecht und Peter von Zahn. Die erste Ausgabe des Ruf erschien am 15.8.1946. Auf dem Titel ist ein deutscher Soldat abgebildet. Er trägt einen Stahlhelm und hebt zögernd die Arme zur bedingungslosen Kapitulation. Die Unabhängigen Blätter der jungen Generation unter der Herausgeberschaft von Alfred Andersch und Hans Werner Richter wurden im April 1947 von der US-Militärregierung für drei Wochen verboten. Erich Kuby trat die Nachfolge an. Andersch und Richter hatten die Kollektivschuldthese abgelehnt und eine linksnationale Position vertreten. Vgl. Elisabeth Bauschmid, Gelogen hat Erich Kuby nicht. Warum die Nachkriegszeitschrift „Der Ruf“ 1947 verboten wurde, in: Süddeutsche Zeitung v. 8.4.1986.
Prahl, Hochschulwesen (Anm. 10), S. 298.
Göttinger Studentenschaft im Zahlenbild. Kurze Statistik des Wintersemesters 1945/46, in: GUZ, 1. Jg., Nr. 3, 10.1.1946, S. 9; vgl. auch Report (Anm. 14), Tab. 8.
Ebd. Nach dieser Studie wurden im Sommersemester 1948 immerhin 64,8 Prozent der Studenten durch ihre Eltern finanziell unterstützt. Der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtzahl der bayerischen Studenten betrug damals nur 11,2 Prozent. Das durchschnittliche Alter der Studenten lag immerhin noch bei 26 Jahren.
GUZ, 1. Jg., Nr. 14, 19.7.1946, S. 6 ff. — Die Hauptforderung der Delegierten auf dem Göttinger Studententag zielte auf die sofortige Abschaffung des Kategoriensystems, mit dem die Studentenschaft anhand der Standardfragebögen bei der Zulassung bzw. Wiederzulassung in fünf unterschiedliche Personengruppen eingeteilt wurde: Zur Kategorie A gehörten die Studentinnen und Studenten, die der HJ, dem BDM oder der NSDAP nie angehört und auch keinen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt hatten. Zur Kategorie B rechneten die Anwärter und die einfachen HJ- und BDM-Mitglieder. Zur Kategorie C zählten die nicht „aktivistischen“ Mitglieder dieser NS-Organisationen. Zur Kategorie D gehörten die aktivistischen Mitglieder und zur Kategorie E diejenigen Studenten und Universitätsangehörigen, die aus anderen Gründen unter die Entnazifizierungsbestimmungen fielen. Laut Anweisung der britischen Militärregierung durften unter keinen Umständen Studentinnen und Studenten aus den Kategorien D und E zum Studium zugelassen werden. Dagegen mußten die Mitglieder der Kategorie A vor allen anderen berücksichtigt werden. Danach sollten die Mitglieder der Kategorie B zum Zuge kommen. Wenn dann noch Plätze frei waren, konnten durch einen Sonderausschuß Angehörige der Kategorie C berücksichtigt werden. Die Gesamtzahl der zugelassenen Mitglieder der Gruppe C sollte aber nicht mehr als 10 Prozent der Studentenschaft betragen. (Vgl. GUZ, 1. Jg., Nr. 7, 22.3.1946, S. 22 f.) Die geforderte Amnestie sollte sich auf die Jahrgänge ab 1912 erstrecken. Außer der Abschaffung dieses Kategoriensystems forderten die Delegierten noch die Aufhebung des Numerus Clausus.
Vgl. Fritz Borinski/Werner Milch, Jugendbewegung, Frankfurt a. M. 1982, S. 33 ff.
Vgl. Anm. 27 (Brief von Lioba Jäkle an die GUZ).
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Fichter, T. (1988). Westdeutsche Universitäten in der Nachkriegszeit. In: SDS und SPD. Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, vol 52. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-86209-9_1
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