Zusammenfassung
Vor vier Jahren konnte man einen Bericht über Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung in der BRD noch guten Gewissens mit der Feststellung beginnen, daß diese Neuorientierung von Erziehungsmethoden in aller Munde sei (Brigitte u. Walter Raitz: Antiautoritäre Erziehung in der Bundesrepublik, in: Buch und Bibliothek 6/1971, S. 594 ff.). Heute erinnert man sich schon fast mit einem Hauch von Rührung der vehementen Protestreaktionen einer in ihren bürgerlichen Erziehungsnormen verunsicherten Öffentlichkeit auf Berichte und Filme über Kinderläden (vgl. dazu u. a.: Erziehung zum Ungehorsam, hrsg. von Gerhard Bott, Frankfurt 1970). Wie vorausgesehen haben sich die bürgerlichen Sozialisationsinstanzen nach dem ersten Schreck, der sie eine totale Ablehnung formulieren ließ, rasch gefangen und begonnen, die neuen Ansätze zu domestizieren, zu integrieren und für ihre eigenen Bedürfnisse nutzbar zu machen. Der Spätkapitalismus braucht Menschen mit neuen Qualitäten wie Ichstärke, Entscheidungsfreude, Verantwortungsbewußtsein — wie ihn F. J. Degenhardt beschreibt „der aus Industriekreisen, enddreißig“ — progressiv, dynamisch, mit Phantasie — aber sachlich!“ Um diese Eigenschaften zu entwickeln, wurde eine ganze Reihe von Anregungen aus der antiautoritären Erziehungsbewegung von den bürgerlichen Sozialisationsinstanzen übernommen, gleichzeitig aber systemkonform verändert und eingesetzt, denn das war deutlich geworden: der „dynamische“ Kapitalismus konnte den alten Autoritären so wenig gebrauchen wie den neuen Antiautoritären. So kam es auch in öffentlichen Kindergärten, Schulen und Familien der Mittelschicht zu einer partiellen Lockerung der Disziplin, zu unverklemmterer Sexualerziehung, zum Zugeständnis gewisser Freiheiten. Freilich in Grenzen: die Toleranz endet da, wo es darum gehen müßte, Kindern ein kritisches Bewußtsein der Gesellschaft, in der sie leben, zu vermitteln. Sie sollen zwar als Individuen glücklicher, zufriedener gemacht werden, aber nur ihm Rahmen dessen, was ihnen die bestehende Gesellschaftsordnung gefahrlos zugestehen kann.
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© 1975 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
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Bauer, K.W., Vogt, J. (1975). ‘Antiautoritäre’ Kinderbücher der zweiten Generation. In: Bauer, K.W., Vogt, J. (eds) Kinder — Bücher — Massenmedien. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-85792-7_9
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-11327-2
Online ISBN: 978-3-322-85792-7
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