Zusammenfassung
„Die große Verheißung unbegrenzten Fortschritts — die Aussicht auf Unterwerfung der Natur und auf materiellen Überfluß, auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl und auf uneingeschränkte persönliche Freiheit — das war es, was die Hoffnung und die Zuversicht von Generationen seit Beginn des Industriezeitalters aufrechterhielt ... Man muß sich die Tragweite der Großen Verheißung und die phantastischen materiellen und geistigen Leistungen des Industriezeitalters vor Augen halten, um das Trauma zu verstehen, das die beginnende Einsicht in ihr Fehlschlag(en) heute auslöst. Denn das Industriezeitalter ist in der Tat nicht imstande gewesen, seine Große Verheißung einzulösen, und immer mehr Menschen werden sich der Tatsache bewußt: ... daß der wachsende wirtschaftliche Fortschritt auf die reichen Nationen beschränkt blieb und der Abstand zwischen ihnen und den armen Nationen immer größer geworden ist.“1 Um diesen armen Nationen2 den,take off (Rostow) in das Industriezeitalter potentiell zu ermöglichen (und als,Tranquillizer‘für das international-nationale Gewissen), wurde vor rund zwanzig Jahren eine — sich mittlerweile für die Geberländer als äußerst nützlich erweisende — Einrichtung, die sog. Entwicklungshilfe3 ins Leben gerufen. Jedoch scheint der Einsicht, daß „Entwicklungshilfe auch uns nützt“4 sowie der durch den,Ölschock‘forcierten Erkenntnis, daß „die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Nord und Süd schon so groß ist und weiterhin wächst“ (Egon Bahr), „der Durchbruch ins Bewußtsein der Mehrheit unserer Bürger noch bevorzustehen“ (Erhard Eppler).
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Literatur
Vgl Erich Fromm, Haben oder Sein, Stuttgart 1976, S. 11 f.
Es ist müßig, den reichlich vorhandenen, unzutreffenden Begriffen (,arme Nationen‘,,Dritte Welt‘,,Entwicklungsländer‘,Entwicklungshilfe‘etc.) neue Wortschöpfungen hinzuzufügen; daher wird im folgenden — aufgrund des allgemeinen Bekanntheitsgrads — von der international geläufigen Terminologie ohne besondere Hervorhebung durch Anführungszeichen Gebrauch gemacht.
„Schon das Wort,Hilfe‘bleibt mir im Hals stecken“, schreibt der bekannte Agrarexperte René Dumont. „Ich halte es für unbrauchbar. Anstatt von,Hilfe‘zu reden, müßte es ein wichtiges Ziel sein, der Ausplünderung der Dritten Welt einen Riegel vorzuschieben; was nämlich durch sie den Ländern entzogen wird, übersteigt den Umfang der,Hilfe‘bei weitem.“ Zitiert nach: E. Brun/J. Hersh, Der Kapitalismus im Weltsystem. Ein Lehrbuch über Industrie- und Entwicklungsländer, Frankfurt/M. 1975, S. 96.
Vgl Entwicklungspolitik, Spiegel der Presse Nr. 35, Bonn 1975, S. 980.
Dennis Meadows et al., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Reinbeck 1972. Ebenso:
M. D. Mesarovic/E. Pestel, Menschheit am Wendepunkt, Reinbeck 1976.
E. Lasztelo et al., Global Goals for Global Societies, (noch nicht veröffentlicht).
B. Dressmann, Was die Wähler wissen wollen, in: Entwicklung und Zusammenarbeit 7/69, S. 10.
Institut für angewandte Sozialwissenschaft Bonn-Bad Godesberg (INFAS), Jugendliche und Entwicklungshilfe, Repräsentativerhebung 1968 (1969 veröffentlicht).
INFAS, Ausgewählte Aspekte der Entwicklungshilfe, Repräsentativerhebung 1972.
INFAS, Energiekrise und entwicklungspolitisches Bewußtsein, Repräsentativerhebung 1974.
H. Bergmann/G. Thie, Die Einstellung von Industriearbeitern zu Entwicklungspolitik und Entwicklungshilfe, Saarbrücken 1973. Schulbildungsgruppe, Auswertung der Befragung von Berufsschullehrern und Berufsschülern, Bonn 1975.
Infratest, Frage: Sind Sie allgemein eher für die Entwicklungshilfe oder dagegen? Repräsentativerhebung 1975.
Diether Breitenbach, Das Afrika- und Asienbild bei deutschen Studenten, Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer, Bonn 1964 (DOK 59/64).
W. Wegemann, Das Bild von den Entwicklungsländern bei Volksschülern, Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer, Bonn 1966 (DOK 306/66).
Die Formulierung der Fragen sowie der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten wurde teilweise den vom Institut für angewandte Sozialwissenschaft entwickelten Fragenkatalogen entliehen, teilweise selbst erstellt.
Um die Brauchbarkeit des entwickelten Fragebogens bezügüch der Verständlichkeit, der inhaltlichen Anforderungen, der Überschaubarkeit, der Spannbreite der Antwortkategorien und der Neutralität der Wortwahl zu erproben, führte ich einen Vortest bei 30 Jugendlichen im Dezember 1975 durch. Aufgrund der geäußerten Kritik und Verbesserungsvorschläge erfolgte eine zweimalige Überarbeitung des Fragebogenkonzepts.
Natürlich muß von der Präzision und dem Aussagewert der Antworten aufgrund der Antwortvorgabe abstrahiert werden; da es jedoch nicht Ziel der Untersuchung war, einen exakten Meinungsspiegel der befragten Jugendlichen zu erhalten (was wegen nicht vorhersehbarer in- und externer Störfaktoren ohnehin nicht möglich ist — vgl. einschl. Literatur), halte ich ein solches Verfahren für durchaus legitim.
Die Befragung wurde in der Sekundarstufe I und II durchgeführt und umfaßt auch die befragten Schüler des gymnasialen Zweigs.
Die Angaben in Klammern stellen im folgenden den jeweils höchsten bzw. niedrigsten Prozentwert dar. Verwendete Abkürzungen: v.H. = Prozent Gym. = Gymnasiasten Pss. = Privatschüler S. u. P. = Krankenschwestern und –pfleger Bss. = Berufsschüler Stud. = Studenten
Woraus jedoch nicht auf übergroßes Engagement geschossen werden sollte, da wahrscheinlich Abenteuer- und Reiselust wesentlich zu dieser Entscheidung beigetragen haben dürften.
Aus diesen Ergebnissen geht hervor, wie dringend notwendig es ist, sachliche, neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen (z. B. der Dependenz-forschung) entsprechende Informationen, besonders den Jüngeren, zu vermitteln; denn auch 55 v. H. entwicklungspolitisch informierten Jugendlichen reproduzieren noch immer das wissenschaftlich nicht mehr haltbare Industrialisierungskonzept nach westlichem Muster (Modernisierungstheorie) als Patentlösung zur Überwindung von Armut. Daraus erwächst als notwendige Voraussetzung die Forderung nach besserer fachlicher Qualifizierung der Multiplikatoren; denn nicht selten scheitert die Thematisierung des Objektbereichs,Dritte Welt‘— z. B. in der Schule — sowohl an fachlicher Inkompetenz als auch an der Ratlosigkeit der Lehrer in didaktisch-methodischer Hinsicht. Für das Lernfeld Schule wäre es daher wünschenswert, wenn inhaltlich neu konzipierte Unterrichtsmaterialien flankierend auch alternative methodische Vorschläge enthielten, damit die Basis für größtmögliche Effektivität und häufigeren Einsatz im Unterricht gegeben ist.
Die z. Z. der Erhebung durch Konjunkturflaute, Stagflation und hohe Arbeitslosigkeit geschürte Angst vor dem Verlust bzw. Nichterhalt eines Arbeitsplatzes, mag das Urteil dieser beiden Gruppen zusätzlich beeinflußt haben; denn diese Schüler werden in nächster Zukunft selbst größtenteils im industriellen Produktionssektor tätig sein.
Im Antwortmuster spiegelt sich stark die eigene Berufsvorstellung der Jugendlichen wider.
Aufgrund der geringen Industrieansiedlung im Erhebungsraum Nidda bestehen für die Jugendlichen auch nur geringe Kontaktmöglichkeiten zu ausländischen Arbeitnehmern.
Erfreulich oft erregte die vorformulierte Antwortalternative „Die Menschen in Entwicklungsländern sind im Grunde genau wie wir“ Unmut, welcher — besonders in diesen beiden Gruppen — durch Wegstreichen der Einschränkung „im Grunde“ sowie durch teilweise sehr aggressive Kommentare artikuliert wurde.
Da sie voraussichtlich am ehesten ins Berufsleben eintreten werden, folglich — im Falle einer solchen Regelung — am frühesten betroffen wären, hegt die Vermutung nahe, daß die aktive Handlungsbereitschaft mit direkterer Nähe der subjektiven Betroffenheit abnimmt.
Da es sich jedoch für die Befragten hier lediglich um eine theoretische Konsequenz handelt, deren praktische Umsetzung in der Realität nicht nachprüfbar ist, sollte die verbal dokumentierte „Großzügigkeit“ nicht ohne Vorbehalte betrachtet werden.
Vgl. R. Gronemeyer, Entwicklungspolitische Aufklärung, in: Jahrbuch für Friedens- und Konfliktforschung Band IV 1974, S. 68.
Siehe hierzu: Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Kritische Analyse von Schulbüchern. — Zur Darstellung der Probleme der Entwicklungsländer und ihrer Positionen in internationalen Beziehungen. 2 Bände, Frankfurt 1970 (nicht veröffentlicht)
in einer zu einem „Gegen-Schulbuch“ umgearbeiteten und erweiterten Form, K. Fohrbeck/A. J. Wiesand/R. Zahar, Heile Welt und Dritte Welt. Opladen 1971.
Schulbildungsgruppe, Befragung von Berufsschülern und Berufsschullehrern. Die 11-seitige Gesamtauswertung der Umfrage ist zu beziehen bei der Schulbildungsgruppe c/o S. Pater, Kessenicher Str. 13,5300 Bonn.
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Gerth, E. (1977). Entwicklungspolitisches Bewußtsein in der Bundesrepublik Umfrageergebnisse. In: Gronemeyer, M., Bahr, HE. (eds) Erwachsenenbildung Testfall Dritte Welt. Uni-Taschenbücher, vol 656. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-85586-2_6
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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