Zusammenfassung
Die Differenz zwischen weitgespannten theoretischen Modellen und empirischen Detailstudien, die sich nur mühsam oder auch gar nicht aufeinander beziehen lassen, ist sicher kein Merkmal nur der Sozialwissenschaften; die im Kuhnschen Sinne normale Wissenschaft der Naturwissenschaften hat in ihrer Alltäglichkeit, wie bekannt, mit großer Theorie nur wenig und mit dem Zusammentragen mühsamer und häufig irrelevanter Einzelergebnisse äußerst viel zu tun. Der institutionalisierte Wissenschaftsbetrieb scheint eine derartige Differenz auch fast zu erzwingen: Die notwendige spezialisierende Arbeitsteilung, die sowohl eine zwischen Themenbereichen als auch eine zwischen theoretischer und empirischer Arbeit ist, führt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit dazu, daß theoretische und empirische Erfassung von Themenbereichen entweder unverbunden nebeneinander herlaufen oder daß quasi modische Anleihen bei den jeweilig anderen Spezialisten gemacht werden — die dann freilich ohne wirksame Folgen bleiben.
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Literatur
Die Unhintergehbarkeit der Lebenswelt für den einzelnen schließt ja keineswegs aus, daß sich — aus einer Beobachtungsperspektive -dessen spezifische Lebenswelt als gesellschaftlich gewordene erweist. Am Fall der Sprache ist dies gut zu illustrieren: Für den Sprecher ist seine Sprache unhintergehbar, die aus der linguistischen Beobachterperspektive ein Produkt sozio-historischer Entwicklungen ist.
Eine kursorische Auswertung der wichtigsten deutschsprachigen pädagogischen Zeitschriften zwischen 1977 und 1984 ergab bereits weit über zweihundert Artikel zu diesem Thema; hinsichtlich handhabbarer Bibliographien hierzu sei auf Schründer 1982 und 1983 verwiesen.
Wenn z. B. gegenwärtig ständig die Rede ist von einer notwendigen Abstimmung zwischen Ausbildungs- und Beschäftigungssystem, dann wird daran deutlich, wie sehr der Systembegriff schlicht Teil einer zwar elaborierten aber theoretisch unpräzisen Umgangssprache geworden ist; derartige Beispiele wären beliebig vermehrbar.
Wenn Habermas (aaO., 270 ff.) zwei Typen gesellschaftlicher Steuerungsmedien einführt, die die “sprachliche Verständigung entweder kondensieren oder ersetzen” (270), dann gibt er einen -wenn auch nur sehr allgemein vagen — Hinweis darauf, daß sich systemische und lebensweltliche Handlungsformen in konkreten sozialen Interaktionen verschränken können, nämlich im Fall des ersten Typus von Medien. Es bleibt allerdings bei diesem Hinweis.
Zu erwähnen ist hier beispielsweise das “Mehrebenenmodell” in der Sozialisationsforschung (Hurreimann 1974), das freilich nie über eine rein programmatische Addition verschiedener Theorieansätze hinausgekommen ist (vgl. noch Geulen/Hurrelmann 1980).
Schon bei Storer entsteht übrigens das Problem, ob denn Wissenschaft überhaupt noch ein in irgendeiner Weise ausgezeichneter Bereich ist, der sich von anderen Sozialsystemen erkennbar unterscheidet. Da es Storer darum geht, die Strukturen wissenschaftlichen Handelns — wenn auch nicht die des eigentlichen Forschungsprozesses — als allgemeine soziale Handlungsstrukturen aufzuweisen, können die Besonderheiten der Wissenschaft, um die es Storer durchaus auch geht, nur in den Inhalten der wissenschaftlichen Erkenntnis liegen, von denen Storer freilich explizit abstrahiert. Reflexionsverzicht der traditionellen Wissenschaftssoziologie und Reflexionsanspruch der neuen Wissenschaftssoziologie konvergieren so im gleichen Problem.
Diese Hegeische Tendenz teilt, wenn ich recht sehe, die neue Wissenschaftssoziologie sicher nicht zufällig vor allem mit der Systemtheorie Luhmanns — eine bemerkenswerte Koinzidenz.
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© 1988 Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig
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Klüver, J. (1988). Wissenschaft, Alltag und System: Ein Thema und seine Variationen. In: Die Konstruktion der sozialen Realität Wissenschaft: Alltag und System. Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-85317-2_1
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Publisher Name: Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-528-06314-6
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