Zusammenfassung
Der Dichter Wolf Biermann kann dieses Lied heute nicht mehr ohne distanzierenden Kommentar singen, müßte er doch fürchten, seine Zuhörer könnten auf die Idee kommen, er meine mit der „bessren Hälfte“ nun, elf Jahre nach seinem erzwungenen Weggang aus der DDR, seine neue bundesrepublikanische Heimat. Das freilich wird ihm niemand unterstellen können. — Aber die DDR ist ihm nun auch nicht mehr die bessere Hälfte. Ein Dichter ohne Identität also? Was bleibt, ist das Leiden an der Zerrissenheit. Dieses Leiden kennen wir freilich spätestens seit Heinrich Heines Zeilen „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht“. Es ist also viel älter als die Teilung; es rührt aus den Zeiten vor der Einigung, d.h. der Reichsgründung von 1871. Ist Leiden also ein Stück deutscher Identität — oder handelt es sich hier um das Wehklagen eines Intellektuellen, der einem Zustand nachträumt, den es nie gegeben hat — ein wirklich einiges Deutschland?
Antrittsvorlesung, gehalten am 29. März 1987 an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen.
Es senkt das deutsche Dunkel Sich über mein Gemüt Es dunkelt übermächtig in meinem Lied Das kommt, weil ich mein Deutschland So tief zerrissen seh Ich lieg in der bessren Hälfte und habe doppelt Weh. Wolf Biermann1
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References
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Ebd., S. 114.
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Grunenberg, A. (1988). Zwei Deutschlands — zwei Identitäten? Über deutsche Identität in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. In: Glaeßner, GJ. (eds) Die DDR in der Ära Honecker. Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, vol 56. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-85308-0_7
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