Zusammenfassung
Vor über zweitausend Jahren ließen sich die Naturphilosophen des alten Griechenlands auf ein Projekt ein, das für jene Zeit ebenso verwegen schien wie die Erforschung der Grenzen des Sonnensystems heute. Es ging um die Bestimmung der Größe und Gestalt der ganzen Erde. Für die alten Griechen war die Erde unvorstellbar groß. Weder die Griechen noch eine der Kulturen, mit denen sie in Kontakt kamen, hatten zu Lande oder zu Wasser mehr als einen Bruchteil von ihr erkundet. Es erforderte großes Genie, um von den winzigen direkt meßbaren Teilen der Erde zu den Unermeßlichkeiten der unerforschten fernen Ländereien überzugehen, deren Existenz man sich nicht einmal träumen ließ. Auch war die systematische Entwicklung eines völlig neuen Zweigs der Wissenschaft nötig, den die Griechen als Geometrie zu bezeichnen pflegten, was buchstäblich „Messung der Erde“ bedeutet.
Dein Schatten, Erde, vom Pol zum Zentralmeer, streicht nun über das milde antlitz des mondes in einer glatt einfarbigen und gekrümmten linie von unerschütterlicher ruhe.
—Thomas Hardy, „At a Lunar Eclipse“
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Bemerkungen
„die Babylonier“: Siehe Otto Neugebauer, The Exact Sciences in Antiquity, Brown University Press, Providence, 1957.
„zu neuen Entdeckungen“: Einige der frühesten, erhaltenen geometrischen Beweise stammen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Ein Beispiel, das auf Hippo-krates von Chios zurückgeht, betrifft den überraschenden Umstand, daß man den Inhalt der getönten mondsichelförmigen Fläche in Bild B.l genau angeben kann. Hippokrates gab einen vollständigen Beweis, daß die Fläche genau dieselbe wie die des Dreiecks in der Figur ist. Weitere Hintergrundinformation finden Sie in Wilbur Knorrs Buch The Ancient Tradition of Geometric Problems, Dover, New York, 1993, S. 26–32.
„Euklids Leben“: Das meiste des hier Gesagten findet sich im Oxford Classical Dictionary.
„zum Vorteil wie zum Nachteil“: Die Faszination der Kreise führte zuweilen zur Besessenheit. Kopernikus baute wie Ptolemäus ein Planetensystem auf, indem er Kreise auf Kreise stellte; selbst Kepler war lange blind gegenüber dem von ihm selbst zusammengetragenen Material, bevor er erkannte, daß die Planetenbahnen keine Kreise sind, sondern Ellipsen, (s. die exzellente Darstellung der Geschichte in Arthur Koestler, The Watershed, Anchor, New York, 1960, Nachdruck durch die University Press of America, 1984.
„The Watershed“ist auch als Teil IV von Koestler, The Sleepwalkers, Grosset & Dunlap, New York, 1959
deutsche Ausgabe: Die Nachtwandler. Das Bild des Universums im Wandel der Zeit. Übersetzung von W. M. Treichlinger, Bern, Scherz (1959)] erschienen.)
„von Aristoteles...“: Aus Aristoteles’ Buch Über den Himmel, Buch 2, Kapitel 14.
„in höheren Breiten“: Die geographische Breite eines Ortes auf der Erde ist ein Maß für seine Entfernung vom Äquator. Sie wird in Graden ausgedrückt, wobei man am Äquator mit 0° beginnt und an den Polen 90° erreicht. Die Breitenkreise sind Kreise konstanter Breite und verlaufen parallel zum Äquator.
„Wintersonnwende“‘. Zwei andere Schlüsseldaten des Jahres sind die Tagundnachtgleichen im Frühling und Herbst. An diesen Tagen geht die Sonne genau im Osten auf und im Westen unter. An allen anderen Tagen geht die Sonne entweder südlicher (im Winter) oder nördlicher (im Sommer) auf, und die Spitze des Gnomonschattens zieht eine Spur, die im Winter nach Norden und im Sommer nach Süden gebogen ist. An den Tagundnachtgleichen beschreibt die Schattenspitze eine Gerade in Ost-West-Richtung.
„den Winkel zwischen den Vertikalen in Alexandria und Assuan“: Ein wesentliches Element in der Rechnung des Eratosthenes besteht darin, daß die Entfernung der Sonne im Vergleich zu allen anderen ins Spiel kommenden Distanzen so groß ist, daß bei der damaligen Meßgenauigkeit die Sonnenrichtung für alle Punkte der Erde als gleich angesehen werden darf; mit anderen Worten: Die Linien von Alexandria und Assuan zur Sonne können als parallel angenommen werden. Unterschiedlich sind die „vertikalen“Richtungen in den Punkten, und dieser Unterschied spiegelt die Erdkrümmung wider. In einigen weitverbreiteten Büchern (The Story of Maps von Lloyd A. Brown, Brown and Company, Boston, 1949, S. 31;
The Shape of the World von Simon Berthon und Andrew Robinson, Rand McNally, Chicago, 1991, S. 23) sind die Darstellungen von Eratosthenes’ Methode durch Bilder illustriert, in denen die Sonnenrichtung an den beiden Stellen auf der Erde deutlich verschieden sind. Dabei wird der Eindruck erweckt, als sei es der Winkel zwischen diesen beiden Richtungen, der in die Rechnung eingeht. Tatsächlich liegt der Winkel zwischen den Sonnenrichtungen in Alexandria und in Assuan weit unter einem tausendstel Grad.
„Methode des Eratosthenes“: Wegen einer modernen Erörterung der Ziele und Verfahren von Eratosthenes mitsamt Quellenangaben siehe Bernard R. Goldstein, „Eratosthenes and the ‘Measurement’ of the Earth“, Historia Mathematica 11 (1984), S. 411–16.
„alle gleich aussehen“: Eine andere Grundeigenschaft der Kreise ist, daß man den kompletten Verlauf eines Kreises aus einem kleinen Bogen davon konstruieren kann. Diese Eigenschaft erlaubte es Eratosthenes, den vollen Erdumfang aus dem kleinen Bogen zwischen Alexandria und Assuan abzuleiten. Auf sie spielte Marcel Proust in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit an: „... ihre Äußerungen... entsprachen dem, was alle Leute desselben geistigen Niveaus zu einer bestimmten Zeit ausdrücken, so daß uns die Essenz davon wie ein Kreisbogen sogleich in die Lage versetzt, den ganzen Umfang zu beschreiben und begrenzen.“
„in der Bibel“: 1. Könige 7. Kap. 23. Vers: „Dann machte er das gegossene Meer, zehn Ellen von einem Rand bis zum andern, ringsum rund, fünf Ellen hoch. Eine Schnur von dreißig Ellen umspannte es ringsum.“ Diese Textstelle wurde bisweilen so interpretiert, als betrage nach der Bibel der Wert von π exakt 3. Eine solche Auslegung ignoriert die damalige wie heutige Praxis, Messungen zu runden, ganz nach dem Grad der Genauigkeit, der für einen gegebenen Zweck nötig ist.
„al-Kashi“: Meine Primärquelle für die Mathematik und Astronomie in der islamischen Periode war J. L. Berggren, Episodes in the Mathematics of Medieval Islam, Springer, New York, 1986.
Ebenfalls von Nutzen war der Klassiker J. L. E. Dreyer, A History of Astronomy from Thaïes to Kepler, Dover, New York, 1953.
„Tsu Ch’ung-chih“: Es existiert auch die Schreibweise Zu Chōngzhï, 429–500 n. Chr. Mehr über seine Arbeit und die anderer chinesischer Mathematiker findet sich in Lǐ Yan und Dŭ Shíràn, Chinese Mathematics: A Concise History. Siehe auch Joseph Needham, Science and Civilization in China.
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Osserman, R. (1997). Das Unmeßbare messen. In: Geometrie des Universums. Facetten. Vieweg+Teubner Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-322-85025-6_2
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-85025-6_2
Publisher Name: Vieweg+Teubner Verlag
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