Nähe als Gewalt

Zusammenfassung

So sehr die Nähe des Anderen gewünscht wird, um die Einsamkeit (hier nicht im soziologischen, sondern im emotionalen Sinn verstanden) zu überwinden, so sehr prädestiniert Nähe zur Gewalt (hier wiederum nicht als sichtbare, handgreifliche Form der Gewalt, sondern als emotionale Vergewaltigung verstanden). Die Gefahr, zum Opfer der eigenen Abhängigkeitswünsche und damit womöglich auch der Herrschaftswünsche des Anderen zu werden, besteht im Kontext aller engen emotionalen Beziehungen zwischen Menschen, also etwa im Hinblick auf Mutter (erweitert: Eltern) und Kind oder Mann und Frau. Dennoch ist das Geschlechterverhältnis Prototyp eines „ewigen“ Kampfes, weil es, unter Einschluß des sexuellen Begehrens, potentiell alle Facetten und Intensitäten der Leidenschaftlichkeit und des Körpers umfaßt, demnach einen speziell „unerschöpflichen“ Affektreichtum impliziert, der zwar oft erwünscht, aber noch öfter schlecht bewältigt wird.

„Die heutigen Sexualitätsformen sind von der Angst des Erfrierens beherrscht.“

Otto Gross (1913)