Zusammenfassung
Wenige Gegenstände haben die Politik der letzten Jahre so sehr bewegt wie die Kern technologie, in der Schweiz wie anderswo. Der Streit um ihre Notwendigkeit und um ihre Gefahren hat das Gefüge der Parteiblöcke aufgebrochen und die Gräben zwischen Generationen übersprungen. Hier als „Glaubenskrieg“ abgetan, dort als Signal für eine tiefe Krise der technischen Zivilisation gewertet, beeindruckt er doch alle durch seine Heftigkeit und Hartnäckigkeit wie auch durch seine Kraft, Wirtschaft, Politik und Recht zu verändern.
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Anmerkungen
Vgl. immerhin die bedeutende Schrift von Hans Peter Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1973, und einige andere Monographien zu Grundproblemen des modernen Staats. Zu Phänomen und Problematik der „Staatsaufgaben“ vgl. auch Kurt Eichenberger, Der Geforderte Staat: Zur Problematik der Staatsaufgaben, 1977, neu abgedruckt in: ders., Der Staat der Gegenwart, Basel 1980, 114 ff. Das Werk von Thomas Fleiner, Allgemeine Staatslehre, Heidelberg 1980, war noch nicht greifbar, als der vorliegende Aufsatz fertiggestellt wurde.
Im folgenden wird nur ein Minimum an Literaturhinweisen vermittelt; vor allem die allgemeine, also nicht spezifisch auf rechtliche Probleme gerichtete Literatur zur Kernenergie ist in den letzten Jahren gewaltig angewachsen; vgl. etwa den Atomrechtskatalog, Schrifttum und Quellen, Bibliographie der Materialien, herausgegeben vom Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen, Bd. 1 ff., Göttingen 1960 ff.
Vgl. hierzu neuerdings Andreas Auer, Les droits politiques dans les cantons suisses, Genève 1978; Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtssetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, Basel 1979, 54 ff.; René Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, Basel 1979, 202 ff.; sowie die Beiträge von Kurt Eichenberger (Entwicklungstendenzen in der schweizerischen Demokratie) und Riccardo L. Jagmetti (Demokratie im Umbruch) zur Festschrift Kägi (Zürich 1979, 79 ff., 209 ff.); ferner den Beitrag von Jörg Paul Müller und Peter Saladin (Das Problem der Konsultativabstimmung) zur Berner Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1979 (Bern 1979, 405 ff
Ausgeklammert sind freilich Rechtssätze „unterer Stufe“, d.h. Dekrete und Verordnungen.
Leider mit Niederschlag in der Gesetzgebung: vgl. Art. 4 ff. des Bundesgesetzes über den Geschäftsverkehr vom 23. März 1962, SR 171.11; vgl. auch etwa Art. 54 Abs. 2 der St. Galler Kantonsverfassung, und dazu BGE 102 Ia 134 ff., ferner eine noch nicht fertiggestellte Arbeit von Wolf Linder über das Gesetzmäßigkeitsprinzip.
Nach Art. 4 der Verordnung über Begriffsbestimmungen und Bewilligungen im Gebiete der Atomenergie, vom 17. Mai 1978, SR 732.11.
Vgl. dazu Heribert Rausch, Schweizerisches Atomenergierecht, Zürich 1980, 32.
So die parlamentarischen Initiativen von NR Jaeger vom 5. Juni 1979 und von NR Gerwig vom 7. Juni 1979 (Amtl. Bull. 1980,184).
Vgl. dazu etwa J.P. Müller/P. Saladain (Fn 3), 409 ff.; G. Müller (Fn 3), 107 ff.; R. Jagmetti (Fn 3), 228 ff.; Werner Kägl, Rechtsstaat und Demokratie, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, 125 ff.
Dazu neuerdings Kurt Eichenberger (Fn 3), unter entschiedener Berufung auf das Werk Werner Kägis.
Art. 1 Abs. 4, BB1. 1977 III,351.
Art. 1 Abs. 4, BB1. 1977 III,351.
Vgl. hierzu den Hinweis im Verbois-Entscheid des Bundesgerichts, BGE 103 Ia 347 f.; zur Bundestreue neuerdings Alfred Kölz, Bundestreue als Verfassungsprinzip?, ZBL 81 (1980), 145 ff. Vgl. ferner die grundsätzlichen Überlegungen Jean-François Auberts in Exposé des institutions politiques de la Suisse, Lausanne 1978, 165 ff.
Vgl. hierzu die Verordnung über vorbereitende Handlungen im Hinblick auf die Errichtung eines Lagers für radioaktive Abfälle, vom 24. Oktober 1979, SR 732.013.
Vgl. v.a. Martin Keller, Aufgabenverteilung und Aufgabenkoordination im Landschaftsschutz, Diessenhofen 1977.
Vgl. dazu neuerdings eine demnächst erscheinende Arbeit des Verfassers über die Besorgung öffentlicher Aufgaben durch ausgegliederte Rechtsträger mit den Mitteln des Privatrechts: Grundrechtsprobleme.
Initiativtext: vgl. BB1. 1977 III, 393, Botschaft des Bundesrates dazu BB1. 1977 III, 355 ff.
Vgl. dazu v.a. A. Randelzhofer/ B. Simma, Das Kernkraftwerk an der Grenze, in: Festschrift für Friedrich Berber zum 75. Geburtstag, München 1973, 389 ff.
Vgl. die überzeugenden Ausführungen des Bundesrates in seiner Botschaft zum Kernenergiehaftpflichtgesetz, mit denen er begründet, warum die Schweiz wenigstens vorläufig dem Übereinkommen vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiete der Kernenergie (Pariser Übereinkommen) und dem Zusatzübereinkommen vom 31. Januar 1968 (Brüsseler Zusatzübereinkommen) nicht beitreten will (BB1. 1980, 167 ff.).
Dieser Absatz steht auch in meinem Beitrag zur Festschrift Kummer (Bern 1980) über Rechtsstaatliche Anforderungen an Gutachten (657 ff., 661 f.).
So hat bekanntlich zunächst die Praxis zwischen Standort-, Bau-, Inbetriebnahme-und Betriebsbewilligung differenziert und überdies die Baubewilligung in Teil-Baubewilligungen aufspalten lassen; vgl. Heribert Rausch (Fn 7), 54 ff.; Ulrich Fischer, Die Bewilligung von Atomanlagen nach schweizerischem Recht, Bern 1980, 57 ff., insb. 61 f.
Vgl. dazu neuerdings den Mühlheim-Kärlich-Beschluß des deutschen Bundesverfassungsgerichts, vom 20. Dezember 1979, DÖV 1980, 299 ff.
Zum (ungeschriebenen), bundesverfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrecht der persönlichen Freiheit vgl. statt vieler André Grisel, La liberté personelle et les limités du pouvoir judiciaire, Revue internationale de droit comparé, 1975, 549 ff.; vgl. auch Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK. Das Gesagte gilt auch nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland. Vgl. v.a. den Kalkar-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 8. August 1978, BVerfGE 49, 89 ff.; aus der Literatur etwa Alexander Roßna-gel, Grundrechte und Kernkraftwerke, Heidelberg 1979; Klaus Rotb-Stielow, Grundrechtsverständnis des Parlamentarischen Rates und der Grundrechtsschutz beim Betrieb von Kernkraftwerken, EuGRZ 1980, 386 ff.: Das Grundrecht aus Art. 1 GG enthält auch das Recht auf ein Leben ohne Angst vor den Folgen neuer Technologien. Vgl. auch Bernd Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge als Gegenstand nukleartechnischen Sicherheitsrechts, NJW 1979, 1425 ff.: „Ist das verbleibende Risiko trotz einer minimalen Ablaufwahrscheinlichkeit wegen etwaiger katastrophaler Unfallfolgen zu gewichtig und läßt es sich nicht mehr wesentlich mindern, so ist die Erteilung der Genehmigung unzulässig“ — Wichtig ist die These des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Wahrscheinlichkeit eines Schadensereignisses „um so geringer“ sein müsse, „je schwerwiegender die Schadensart und die Schadensfolgen, die auf dem Spiel stehen, sein können“ (Kalkar-Beschiuß des BVerfGE 49, 89 ff., 138). Ganz unzureichend wird die normative Wirkung der Verfassung ausgeschöpft von Helmut Wagner, Schadensvorsorge bei der Genehmigung umweltrelevanter Großanlagen, DÖV 1980, 269 ff., v.a. 275 f., und von demselben, Bedrohen moderne Technologien die Grundrechte?, ZRP 1979, 54 ff.; vgl. dazu die Antwort von Peter Cornelius Mayer-Tasch, Atomenergie — und sie bedroht uns doch, daselbst, 59 ff. — Eine Übersicht über die deutsche Rechtsprechung findet sich u.a. bei Alexander Roßnagel, a.a.O., 29 ff.
Ein anderes, in Ziff. 3 angedeutetes Grundrechtsproblem kann hier nicht behandelt werden: nämlich die Frage, ob und inwieweit der Bau von Kernkraftwerken durch „parastaatliche“ Unternehmungen in objektiver und in subjektiver Hinsicht unter dem Schutz der Handels-und Gewerbefreiheit steht und wie das Verhältnis zwischen solcher (allfälliger) Grundrechtswahrnehmung und der Wirkung der persönlichen Freiheit zu bestimmen ist.
Auch im Ausland scheinen ausführliche, systematische literarische Erörterungen fast ganz zu fehlen; die Schrift von Roßnagel ist die erste größere einschlägige Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland.
Zum Begriff des Risikos vgl. v.a. die sorgfältige Analyse von Bernd Bender (Fn 22). 1425 f.; ders., Nukleartechnische Risiken als Rechtsfrage, DÖV 1980, 633 ff.; Klaus Roth-Stielow (Fn 22), 386 ff.; ferner Rüdiger Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge im Atomrecht, DVBl 1978, 829 ff., 836 f.
Ebenso Alexander Roßnagel (Fn 22)., 91 ff.
Es ist an einen Kernsatz des Bundesverfassungsgerichts-Entscheids zur Fristenlösung zu erinnern: Die Schutzpflicht des Staates für das menschliche Leben „ist umfassend. Sie verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, d.h. vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“ (BVerfGE 39, 1 f., 42).
So Helmut Wilke, Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie, Schritte zu einer normativen Systemtheorie, Berlin 1975, 204 ff.
Vgl. dazu Saladin, Grundrechte im Wandel, 2. Aufl., Bern 1975, 292 ff.; ders., Grundrechtsreform in rechtsvergleichender Sicht, in: Festschrift für Hans R. Klecatsky, Wien 1980, II 841 ff.
Eine Fehlüberlegung, der sogar Carl Friedrich von Weizsäcker nicht entgeht (vgl. Wege in die Gefahr, dtv 1979, 45; ders., Friedliche Nutzung der Kernenergie, abgedruckt (u.a.) in: Zeit zum Umdenken, hg. von Siegfried de Witt und Hermann Hatz-feldt, Reinbek 1979, 17 ff., 41). Besonders markig in diesem Sinne auch etwa Helmut Wagner, Bedrohen moderne Technologien die Grundrechte? (Fn 22), 56: „Eine potentielle Bedrohung der Grundrechte und Grundfreiheiten durch die friedliche Nutzung der Kernenergie ist unbestritten; das ist aber keine Besonderheit der Kernenergie. Ein Leben ohne Technik ist eine Utopie: eine Technik ohne jedes Risiko für das Leben ist es ebenso.“
Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip als einschlägigem Entscheidungsmaßstab vgl. auch Peter Cornelius Mayer-Tasch (Fn 22), 61: Alexander Roßnagel (Fn 22), 57. — Die in ihrer Ausgestaltung problematische Volksinitiative „Recht auf Leben“ läßt die im Text gestellte Frage vordergründig offen, wenn sie in Abs. 3 formuliert: „Der Schutz des Lebens und der körperlichen und geistigen Unversehrtheit darf nicht mit Rücksicht auf weniger hohe Rechtsgüter beeinträchtigt werden. Eingriffe sind nur auf rechtsstaatlichem Wege möglich“ (s. BB1. 1979 I 140).
Vgl. statt vieler Energie, Kirche und Gesellschaft, Studien und Berichte aus dem Institut für Sozialethik, H. 30, Bern 1980, 37 ff. Vgl. auch die Stellungnahme des Evangelischen Kirchenbundes zur Gesamtenergiekonzeption, 3: Die wegleitende Grundhypothese lautet: „Die massive und sich immer noch verstärkende Ausrichtung des Menschen auf eine materielle Bedürfnisbefriedigung ist nicht nur problematisch in bezug auf die wirkliche Wohlfahrt und die wirkliche Sinnerfüllung des menschlichen Lebens. Sie ist auch in der Hinsicht problematisch, daß sie zugleich und als solche eine Störung im Verhältnis des Menschen zur Natur andeutet und darstellt, welche sich vor allem in Form von Energieverschwendung äußert. Man könnte das, was diese Hypothese aussagen will, auch auf eine ganz einfache Formel bringen: Dort, wo der Mensch sich dem passiven Konsum materieller Bedürfnisse verschreibt und seine eigene Energie nicht nutzt, geschieht zugleich und kompensatorisch Energieverschwendung“ — Wilhelm Korff (Kernenergie und Moraltheologie, Frankfurt a.M. 1979) bejaht die theologische Legitimation des Kompromisses. Merkwürdig und inakzeptabel ist aber, daß er die Ethik zur Problematik prognostischer Schätzungen in unserem Bereich wie auch zum Verhältnis zwischen Kerntechnologie einerseits, Bemühungen um sparsamere Energienutzung und um Erschließung erneuerbarer, den Menschen weniger belastender Energiequellen andererseits nichts aussagen läßt!
Die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken kann nicht selbst als „verfassungsmäßig anerkanntes Gut“ qualifiziert werden. Art. 24quinquies BV legt ihre Regelung in die Zuständigkeit des Bundes; ein Auftrag an den Bund, sie zu fördern, läßt sich daraus auf dem Wege der Interpretation nicht gewinnen, auch wenn in den späten fünfziger Jahren tatsächlich die Meinung vorherrschte, der Bund solle mit seiner Gesetzgebung eher fördern als bremsen.
So auch Bernd Bender (Fn 22), 1432.
Neu abgedruckt in: Hans Huber, Rechtstheorie — Verfassungsrecht — Völkerrecht, Bern 1971, 57 ff., 72.
Vgl. dazu Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967, 68 ff., und die von Jürgen Habermas dagegen erhobene Kritik (die freilich ihrerseits der Kritik bedarf) (Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, 9. Aufl. Frankfurt a.M. 1978, 48 ff.).
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Saladin, P. (1984). Kernenergie und Verfassungsstaat. In: Roßnagel, A. (eds) Recht und Technik im Spannungsfeld der Kernenergiekontroverse. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83941-1_3
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