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Familie als Interaktionssystem

Psychoanalyse und Systemtheorie als sozialwissenschaftlich- hermeneutischer Bezugsrahmen einer Theorie sozialer Interaktion

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Soziale Codierung des Körpers
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Zusammenfassung

Seit mehr als einem Jahrzehnt läßt sich, vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher theoretischerund praktischer Interessen, eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit der Familie als sozialer Institution beobachten, so daß es gerechtfertigt erscheint, geradezu von einer „Renaissance“ der Familie als Gegen- stand wissenschaftlichen Interesses zu sprechen. Da sich unsere bisherigen Über- legungen zu den theoretischen und methodischen Problemen sozialer Interaktion weitgehend auf den Gegenstandsbereich Familie bezogen, erscheint es sinnvoll und notwendig, zu überprüfen, ob sich die bisher formulierten Gedanken und Ansätze zu einem theoretischen Bezugsrahmen zusammenfügen lassen, und welche Relevanz ein derartiger Bezugsrahmen im Kontext der aktuellen Diskussion über die Familie besitzt. Zunächst einmal sei beispielhaft auf drei Aspekte dieser Diskussion hingewiesen.

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Reference

  1. Tyrell (1977) bemerkt hierzu lakonisch: „Die Familie ist als Thema der Geschichtswissenschaft entdeckt.“ (S. 678)

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  2. Zu diesen Ausnahmen wären etwa die Arbeiten aus der Arbeitsgruppe um Oevermann zu rechnen sowie Arbeiten am Schnittpunkt von Familiensoziologie und Familientherapie (Richter, Friedrich). Die von A. Combe und mir geleitete Arbeitsgruppe beschäftigt sich ebenfalls seit einiger Zeit im Rahmen des Projekts „Soziale Krise, Institution und Familiendynamik“ mit der Frage, wie sich soziale Krisen und institutionelle Verflechtung von Familien innerhalb der Familie interaktiv niederschlagen.

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  3. Schülein hat zurecht auf zwei Probleme interaktiv orientierter Familienuntersuchung hingewiesen: (1) Es ist außerordentlich zeit-und kostenaufwendig, individuelle und familiale Lebensgeschichten zu rekonstruieren. (2) Die historische Rekonstruktion derartiger Strukturen ist in der Regel auf nichtwissenschaftliche Dokumente unterschiedlicher Relevanz angewiesen (zeitgenössische Berichte, Tagebücher, Briefe, Belletristik) und muß erst adäquate Verfahren entwickeln, um dieses Material auszuwerten. „Die meisten mikrosoziologischen Studien, die sich auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse beziehen, konzentrieren sich auf bestimmte Ausschnitte. Ein solcher ‚lAusschnitt ‘kann die Lebensgeschichte eines Menschen oder einer Familie sein. Auf diesem Gebiet sind (keineswegs deswegen weniger zu beachten) literarische Verarbeitungen häufiger: von Manns ‚Buddenbrooks‘, die den Zerfall einer großbürgerlichen Familie über drei Generationen beschreibt, über Musils ‚Mann ohne Eigenschaften ‘oder Prousts ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘, beides Romane, die durch ihre fast unglaubliche Ausdruckskraft in der Schilderung von Situationen und Erlebnissen beeindrucken (…). Daß hier eher gute Literatur als (im traditionellen Sinn) gute Wissenschaft möglich ist, hängt vor allem mit methodischen Schwierigkeiten zusammen: es ist enorm aufwendig, Lebensgeschichten mit den Instrumentarien der Wissenschaft zu dokumentieren und zu rekonstruieren. Schon deshalb ist es sinnvoll, sich hier von der Literatur helfen zu lassen.“ (J. A. Schülein 1983, S. 20f.). — Kantor und Lehr, die Autoren einer der intensivsten Untersuchungen über familiale Fortsetzung der Fußnote 3 Interaktionsprozesse, die derzeit vorliegt, konstatieren für die USA geradezu eine neue wissenschaftliche Disziplin: die Untersuchung familialer Interaktion. Im selben Zusammenhang verweisen sie auf die Bedeutung des „Systems“ als dergrundlegenden theoretischen Kategorie zum Verständnis familialer Interaktion. Kantor und Lehr schreiben hierzu: “Since the 1950’s, the study of family interactions has become a discipline in itself, but a number of basic conceptual problems remain. Over the years an increasing number of family investigaters have tended to think of a family as a’ system’ (…). To designate the family as a system however, raises as many questions as it answers. Perhaps the most basic question is ‘A system of what: of roles? of acts? of levels of communication?’ ” (D. Kantor, W. Lehr, 1977, S. X). — Ich möchte im folgenden zeigen, daß die Antwort auf diese Frage auf metatheoretischer Ebene gesucht werden muß: Was ist der eigentliche Gegenstand der Untersuchung familialer Interaktion und mit welchen Methoden kann dieser Gegenstand untersucht werden?

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  4. Kantor/Lehr haben über teilnehmende Beobachtung hinaus täglich die Interaktion der von ihnen beobachteten Familien auf Ton-und Videoband aufgenommen und anschließend verschriftet. „Entweder werden Familien und deren Interaktion als idyllisches Bild gemalt und/oder es wurde — bis auf wenige Ausnahmen — der gesellschaftliche Zusammenhang in unzulässiger Weise verkürzt und/oder es wurde bei empirischen Untersuchungen in bestimmter

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  5. Aus dem einfachen Grund, daß die „abgespaltenen“ Interaktionsanteile innerhalb dieses phänomenologischen Konzepts nicht thematisierbar sind.

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  6. So wirft Rupp beispielsweise Tyrell „Blindheit“ gegenüber sozialen Phänomene vor, was angesichts dessen Ansatzes einer dreidimensionalen Ausdifferenzierung des familialen Systems aus gesellschaftlichen Strukturen in Gestalt (1) einer relativen Autonomie der Familie bei gleichzeitiger funktionaler Interdependenz; (2) einer funktionalen Spezialisierung und (3) einer „thematischen Reinigung“ familialer Interaktionen, eher eine Polemik als eine kritische Auseinandersetzung darstellt. M. E. will Rupp sagen, daß Tyrell versäumt, Schicht-und klassenspezifische Faktoren in den Vordergrund zu stellen. Dies würde freilich zu einer anderen Diskussion führen: wie weit es nämlich den verschiedenen soziologischen Theorien überhaupt gelingt, das Verhältnis Gesellschaftsstruktur — familiale Inter-aktion theoretisch und methodisch zu erfassen.

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  7. Umgekehrt erscheint es gegenüber dem Ansatz von Tyrell auch nicht gerade als Erkenntnisfortschritt, wenn Rupp zu dem Resultat gelangt, daß die Familie sich in einer „ambivalenten Abhängigkeit“ von der Gesamtgesellschaft befindet. (S. 50)

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  8. Das Problem betrifft, genau genommen, nicht nur die systemische Familientherapie, sondern insgesamt die systemorientierte Kommunikationstheorie (die wir hier abgekürzt als „Systemtheorie“ bezeichnen), wobei die Familientherapie die empirisch fortgeschrittenste Variante dieses Erklärungsansatzes menschlicher Interaktion ist.

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  9. Diese „Verarbeitung“ läßt sich natürlich nicht theoretisch deduzieren oder extrapolieren, sondern erfordert entsprechende fallrekonstruktive Verfahren, d.h. eine hermeneutische Vorgehensweise. Eine derartige hermeneutische Vorgehensweise ist für alle auf Interaktion bezogenen theoretischen Ansätze (auch, wie ich bereits in Teil III gezeigt habe und hier noch weiter ausführen werde, für die systemische Familientherapie) unabdingbar.

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  10. Zur Beschreibung und Definition familialer Interaktionsregeln und-muster s.u. Abschn. 4 dieses Kapitels.

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  11. Dieser Kontext ist selbstverständlich nicht in erster Linie ein physikalischer, sondern ein psychischer, d.h. ein Kontext von manifesten und latenten Motiven, der sich nur durch „Verstehen“, nicht durch szientistische „Beobachtung“ erschließen läßt.

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  12. Dies wird im Prinzip auch von Vertretern dieses „objektivistischen“ Verständnisses der systemischen Familientherapie eingeräumt (vgl. Selvini Palazzoli 1982). Im übrigen unternimmt Selvini Palazzoli — wie ich bereits oben in dem Kapitel über Theorie und Praxis der Mailänder Arbeitsgruppe zeigte — den Versuch, den für ein therapeutisches Verfahren notwendigen Bezug der „objektiven Daten“ auf subjektive Motive der Interaktionspartner im Rahmen einer szientistischen Daten-Hypothesen-Logik herzustellen. Vermutungen oder Spekulationen über diese subjektiven Motive erhalten bei Selvini Palazzoli den Status von Hypothesen, die sich dann im Verlauf der Therapie (am Erfolg bzw. Miß-Fortsetzung der Fußnote 12 erfolg von Intervention) zu bewähren haben. Aber auch dieser Versuch, familientherapeutisches Vorgehen in eine szientistische Methologie einzubetten, kann nicht über das entscheidende Faktum hinwegtäuschen, daß die Systemtheorie kein widerspruchsfreies methodisches Fundament besitzt, da sie von Anfang an mit kontextuellen und interpretationsbedürftigen Daten operiert. Damit wird die ganze szientistische Methodologie zu einem künstlichen, dem Gegenstand gleichsam aufoktroyierten Verfahren. Ihre Übereinstimmung mit naturwissenschaftlichen Vorgehen ist allenfalls formaler Natur.

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  13. Kantor/Lehr haben dieses Problem von einer anderen Seite beleuchtet. Sie gehen davon aus, daß die familiale Interaktion sich aus „Strategien“ der einzelnen Familienmitglieder zusammensetzt, mit denen die (generalisierten) Ziele „Gefühle“, „Macht“ und „Bedeutung“ erfolgt werden. Diese Strategien sind den Akteuren bewußt (wenn auch nicht immer und vollständig). Die familiale Interaktion bzw. das familiale System ist gleichsam die Resultante dieser Strategien. Obwohl diese „Strategien“ das Problem „verborgener“, „unbewußter“ etc. Motive ausklammern, ist deutlich, daß hier symbolvermitteltes und deshalb interpretationsbedürftiges Handeln vorliegt.

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  14. Wie ich oben (Teil II) zeigte, handelt es sich dabei genau genommen um mechanistische und biologistische Metaphern, während Freud inhaltlich psychologisch-hermeneutisch argumentiert. Der Grund dafür liegt, so habe ich zu zeigen versucht, wesentlich in der (impliziten) Freudschen Wissenschaftsstrategie.

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  15. Wir werden weiter unten sehen, daß die Familientherapie (und hier insbes. die systemorientierte) vor allem den Aspekt der Homöostase, weniger jedoch den der Transformation familialer Systeme untersucht hat. Im Zuge der hier vorgenommenen Entmystifi-kation des naturwissenschaftlichen Denkens der Systemtheorie (d.h. dem Nachweis, daß es sich dabei um methodologische Mystifikationen eines genuin sozialen Gegenstandsbereichs handelt), soll dabei auch gezeigt werden, daß die struktur-und systemfunktiona-listischen Ansätze in der neueren Sozialwissenschaft Kategorien bereitgestellt haben, die auf diese naturwissenschaftlichen Mystifikationen verzichten können.

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  16. Ähnliches gilt, wie ich gezeigt habe, auch für den theoretischen und therapeutischen Ansatz von Haley (s.o. Teil III.4).

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  17. Zur Differenzierung auf der Ebene des praktisch-therapeutischen Vorgehens vgl. oben die Diskussion des Ansatzes von Selvini Palazzoli (Teil III).

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  18. Vgl. oben S. 230f.

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  19. Die Notwendigkeit bzw. die diagnostisch-therapeutische Bedeutung von Grenzen auch innerhalb des Systems, also zwischen den verschiedenen Subsystemen der Familie hat insbes. Minuchin herausgearbeitet (s.o. Teil III).

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  20. Wir werden weiter unten, unter Bezugnahme auf die Ausführungen von Neidhardt (1975, S. 162 ff.), folgende Kriterien für Flexibilität und Kohäsion von Familiensystemen näher erläutern: Umweltoffenheit, Strukturflexibilität und Systemtransparenz.

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  21. Bei diesen Steuerungsprozessen lassen sich analytisch „verhaltensregulative“ (bezogen auf die einzelnen Mitglieder) und „systemregulative“ Aspekte bzw. Wirkungen unterscheiden.

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  22. Im übrigen handelt es sich hier, obwohl Bateson und Haley (als Mitverfasser dieser Arbeit) als Systemtheoretiker betrachtet werden können, nicht im strengen Sinn um einen systemtheoretischen Ansatz, schon gar nicht um einen szientistischen Ansatz.

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  23. Vgl. hierzu in Teil II die Diskussion von Lorenzers Differenzierung zwischen sinnlich-symbolischen und sprachsymbolischen Interaktionsstrukturen und seine Interpretation des Garnrollen-Spiels.

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  24. Das bedeutet nicht, daß vorbewußte Erfahrungen schlechterdings problemlos sprachlich reproduzierbar sind. Dies zeigen etwa Freuds Traumanalysen — in exemplarischer Form etwa der sogenannte „Theaterkarten-Traum“ (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Teil II, GW XI). Dieser Traum wird in zwei Schritten analysiert und gedeutet: zunächst einmal auf der latent-vorbewußten, dann auf der latent-unbewußten Ebene.

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  25. D.h., daß wir in der Regel problemlos und automatisch über formale Regeln der Sprache, also über die Syntax verfügen, daß aber die Explikation dieser Regeln, insbes. unter dem Aspekt ihrer Bedeutung, für die inhaltliche Seite unserer Aussagen mehr erfordert als ein bloßes „Erinnern“. Eine derartige metakommunikative Einstellung zur eigenen Sprache erfordert in der Tat einen komplizierten Reflexionsprozeß. Prinzipiell nicht anders verhält es sich mit den latenten sozialen Regeln.

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  26. „Transformationsregel“ wird hier als die jeweilige Regel (bzw. Regeln) verstanden, die es uns erlaubt, den dynamischen Zusammenhang zwischen der manifesten und der latenten Ebene zu formulieren.

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  27. Daß dies notwendig so sein muß, wird daraus ersichtlich, daß ohne diese psychische Registrierung, ein Handlungszusammenhang zwischen latenten Wünschen und Motiven und einem entsprechenden kompromißhaften Verhalten auf der manifesten Ebene der Interaktion nicht vorhanden wäre.

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  28. So finden wir etwa bei Minuchin die Formulierung: „Je mehr Flexibilität und Anpassungsvermögen die Gesellschaft von ihren Mitgliedern fordert, desto wichtiger wird die Familie alsMatrix der psychosozialen Entwicklung.“ (1977, S. 69/hrv. M. C). Bei Foul-kes etwa ist der Begriff der Matrix zentral für die Beschreibung des bewußten und unbe-wußten Zusammenhangs des Gruppengeschehens.

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  29. Dabei bleibt allerdings offen, ob auch auf der Metaebene eine derartige klare Rollenkom-plementarität besteht.

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  30. Damit wird auch der Stellenwert der Transformationsregel deutlicher: durch die Transformationsregel wird der Zusammenhang zwischen manifester und latenter Ebene bzw. zwischen Regel und Metaregel unter Berücksichtigung der dabei implizierten individuellen und kollektiven Abwehrmechanismen formuliert.

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  31. Im Rahmen des Forschungsprojektes „Soziale Krise, Institution und Familiendynamik“, das am „Zentrum für psychosoziale Forschung und Beratung“ durchgeführt wird (Leitung: Manfred Clemenz, Arno Combe).

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  32. Vgl. hierzu Norbert Spangenberg, Möglichkeiten und Grenzen familientherapeutischer Interventionen bei sogenannten Multi-Problemfamilien (unveröff. Manuskript).

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  33. Vor dem Hintergrand dieser Kategorien untersucht Neidhardt „sozialisationsrelevante Systembedingungen bundesrepublikanischer Familien“. Obwohl diese Untersuchung aus einer ganz anderen theoretischen Perspektive erfolgt als bei Rupp, stoßen wir hier auf ein ähnliches Problem: das nämlich theoretisch und methodisch nicht differenziert wird zwischen Strukturbedingungen familialer Interaktion und familialer Interaktion selbst.

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Clemenz, M. (1986). Familie als Interaktionssystem. In: Soziale Codierung des Körpers. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83934-3_5

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  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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