Zusammenfassung
Es sollen zu Beginn dieses Teils meiner Untersuchung zunächst einige der erkenntnistheoretischen, methodologischen und theoretischen Prämissen der pragmatischen Kommunikationstheorie dargestellt werden, wie sie von Watz- zawick und seinen Mitarbeitern erarbeitet wurden. Dies erscheint notwendig, wenn Möglichkeiten und Grenzen der therapeutischen Arbeit diskutiert werden sollen, die sich auf die pragmatische Kommunikationstheorie als theoretisches Fundament beziehen. Dies gilt in erster Linie für Therapieformen, wie sie von Watzlawick selbst entwickelt wurden, im weiteren für Therapeuten wie J. Haley, S. Minuchin, M. Selvini Palazzoli u.a. Pragmatische Kommunikationstheorie wird von den letzteren dabei in der Regel als „Systemtheorie“ rezipiert und verstanden.1 Die Frage, die uns in diesem Zusammenhang hauptsächlich interessiert, ist, ob es sich hier tatsächlich um eine theoretische Begründung therapeutischer Forschung und Praxis handelt (wie sie ansatzweise etwa die Freudsche Theorie für die analytische Familientherapie darstellt). Sollte dieser Begründungszusammenhang sich als nicht stichhaltig erweisen, wäre die Frage zu stellen nach den latenten bzw. faktischen Prämissen der „systemorientierten“ Therapie.2
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Reference
Wir werden allerdings sehen, daß pragmatische Kommunikationstheorie und Systemtheorie keineswegs identisch sind — wobei die Unterschiede von den genannten Autoren nicht herausgearbeitet werden.
Zur ausführlichen Darstellung der Grundlagen und Probleme der pragmatischen Kommunikationstheorie vgl. Johann August Schülein, Psychotechnik als Politik, Ffm. 1976.
Es handelt sich um die folgenden Axiome bzw. Grundmerkmale: 1. Es ist unmöglich, nicht zu kommunizieren. 2. Menschliche Kommunikation hat einen Inhalts-und einen Beziehungsaspekt. 3. Kommunikationsabläufe werden von den Partnern interpunktiert, wobei die jeweilige Form der Interpunktion die Beziehung definiert. 4. Menschliche Kommunikation besteht aus digitalen und analogen Elementen. 5. Menschliche Kommunikation findet in symmetrischer und komplementärer Form statt. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß Watzlawick die gängige Unterscheidung zwischen Kommunikation, Interaktion und Verhalten nicht vornimmt. Mit dem Begriff Kommunikation sind alle drei genannten Phänomene gemeint (vgl. Watzlawick et al. 1969, S. 23). Bereits ein erster Blick auf diese Axiome zeigt, daß ihre Explikation und Anwendung nicht auf Beobachtung, sondern auf Verstehen und Interpretieren beruht, sie also theoretisch und metatheoretisch nicht mit der (kybernetischen) Systemtheorie begründet werden können.
„Im Sinne der Informationstheorie kann man auch sagen, daß stochastische Prozesse Redundanz zeigen — ein Begriff, der mit dem bereits häufiger verwendeten Begriff der Struktur praktisch gleichbedeutend ist“ (S. 35).
Dieser Zusammenhang wird von Watzlawick auch in folgender Definition zusammenge-faßt: „Um unser Anliegen kurz zu wiederholen: Wir forschen nach Erscheinungen empirischer Redundanz; wir wissen, daß dies nicht einfache statistische Größen oder Eigenschaften sind, sondern dem mathematischen Begriff der Funktion analoge Strukturen; und wir erwarten, daß diese Strukturen die allgemeinen Merkmale von rückgekoppelten zielstrebigen Systemen haben“ (S. 42).
Dieser Prozeß wird für eine bestimmte Zeit die Stabilität (d.h. die Struktur und Organisation) des Systems beibehalten. Allerdings besteht die Gefahr, daß ein derartiger Prozeß das System sprengt.
Watzlawick weist darauf hin, daß auch Familien derartige Stufenfunktionen haben, wobei häufig Erkrankungen die Funktion einer neuen Kalibrierung übernehmen: „Die Psychose eines Familienmitglieds z. B. ist eine einschneidende Veränderung, die das System neu kalibriert und dadurch sogar adaptiv wirken kann. Fast unvermeidlich haben intrafamiliäre Veränderungen (vor allem die Zunahme von Alter und Reife bei allen Familienmitgliedern) einen Einfluß auf die Kalibrierung des Systems, und dasselbe gilt natürlich für die oft viel drastischeren Umwelteinflüsse …“ (S. 135).
Watzlawick hat dieses Konzept aus der „general system theory“ von Bertalanffy übernommen. Vgl. hierzu Ludwig von Bertalanffy, General system theory, General systems year book 1, (1956); ders., General system theory — A critical review, General systems year book 7/1, 1972.
Die Äußerungen von Watzlawick zum Problem analoger und digitaler Kommunikation sind relativ unscharf. Seine Aussagen legen nahe, daß sprachliche Äußerungen prinzipiell als digital anzusehen sind (vgl. insbesondere S. 67). Dann ist aber vor dem Hintergrund der zugrunde gelegten methodischen Prinzipien nicht mehr verständlich, auf welche Weise etwa mehr oder weniger privatsprachliche, metaphorische und einfach nur diffuse Äußerungen analytisch behandelt werden, d.h. ohne Rekurs auf „Bedeutungen“ beobachtet werden. Dies gilt insbesondere für den therapeutischen Kontext: So könnte etwa die Aus-Fortsetzung der Fußnote 9 sage eines Ehemanns „meine Frau macht ja ohnehin, was sie will“ als eine Form von Rückzug innerhalb der ehelichen Beziehung interpretiert werden, aber z.B. auch als defensives Verhalten gegenüber dem Therapeuten. In beiden Fällen ist jedoch eine Interpretation des Sinn-bzw. Bedeutungszusammenhangs unentbehrlich.
Wir werden später — im Rahmen unserer Darstellung der theoretischen und therapeutischen Ansätze von Haley und Minuchin — sehen, daß Watzlawick einen entscheidenden Aspekt unberücksichtigt läßt, daß nämlich menschliche Kommunikation stets innerhalb eines bestimmten Kontexts stattfindet und innerhalb dieses Kontexts verstanden und interpretiert werden muß.
Ebenso wie bei Watzlawick zeigt sich auch bei Haley, daß der Begriff „analog“ in der pragmatischen Kommunikationstheorie ungenau ist. Ohne Zweifel können auch analoge Aussagen eindeutig und präzis sein. Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang vielmehr, daß es im Bereich der Umgangssprache sowie der mimisch-gestischen Kommunikation Aussagen gibt, die interpretationsbedürftig sind, d.h. deren Sinn verstanden werden muß und nicht etwa — wie im Bereich der Mathematik — durch formalisierte Operationen festgelegt ist. Sinnverstehen ist somit im Bereich menschlicher Kommunikation eine nicht hintergehbare Grundoperation.
Wir werden unten (Teil IV) noch näher auf diese generelle Problematik systemisch orientierter Kommunikations-und Therapieansätze eingehen.
Dieser Begriff wird von Watzlawick et al. (1969, S. 224) auf Frankls Konzept der „paradoxen Intention“ zurückgeführt.
Dementsprechend vorsichtiger drücken sich die Autoren in diesem Zusammenhang auch aus: sie sprechen von einer „Analogie“ oder einem „Denkmodell“ (S. 20, 24), an anderer Stelle von dem nötigen „Rüstzeug“ für die Untersuchung von Veränderung, während sie früher die Kybernetik explizit zu den „begrifflichen Grundlagen“ zählten. „Wir sind uns dabei der Tatsache voll bewußt, daß unsere Verwendung dieser Theorien weit von mathematischer Schärfe entfernt ist und daß wir uns ihrer lediglich als (unserer Meinung nach vollgültigen) Analogie bedienen“ (S. 20). Es erscheint immerhin bemerkenswert, daß das Fiasko des naturwissenschaftlichen Ansatzes in der „Menschlichen Kommunikation“ an keiner Stelle erwähnt wird, ja nicht einmal ansatzweise die Problematik der Übertragung naturwissenschaftlicher Kategorien auf Phänomene menschlicher Kommunikation diskutiert wird.
Invarianz und Variabilität werden von den Autoren u.a. am Beispiel des Zifferblatts einer Uhr erklärt. Jede Kombination von Ziffern innerhalb des Systems „Zifferblatt“ ergibt wiederum eine Zahl auf dem Zifferblatt (Invarianz), gleichgültig ob man diese Operation vorwärts oder rückwärts vornimmt (Variabilität).
Watzlawick et al. entwickeln eine Typik derartiger „Teufelskreise“. Da ihr praktischtherapeutisches Vorgehen bei allen diesen Formen letztlich dasselbe ist, genügt an dieser Stelle ein kurzer Hinweis auf diese Typik. Es handelt sich a) um das Leugnen von Schwierigkeiten, d.h. eine Problemlösung wäre notwendig, wird aber nicht versucht; b) um utopische Lösungsversuche; c) es wird eine Lösung 1. Ordnung versucht in einer Situation, in der nur eine Lösung 2. Ordnung sinnvoll wäre, d.h. eine Veränderung des Systems. Die Lösung wird also auf der falschen Abstraktionsstufe angestrebt und führt von daher zu „Paradoxien“.
Die Paradoxic dieses Typs kann mit Hilfe der logischen Typenlehre erklärt werden: einerseits schließt die Aufforderung die gesamte Klasse von Verhaltensweisen aus, die auf vorgegebenen Regeln, Befehlen etc. beruht, andererseits ist die Aufforderung gerade ein derartiger Befehl. Das Problematische dieser Argumentation besteht jedoch darin, daß es gerade kein Beispiel ist für die logische Hierarchie zwischen Elementen einer Klasse und der Klasse selbst. Die beiden Teilaussagen der Aufforderungen gehören nämlich zwei verschiedenen Klassen an, wobei die Schwierigkeit gerade darin besteht, diese unterschiedliche Klassenzugehörigkeit zu erkennen. Eine wesentlich einfachere Klärung des Problems würde sich im übrigen im Rahmen der Sprechakttheorie ergeben.
Eine paradoxe Intervention im.strengen Sinne dagegen wäre die von Watzlawick beschriebene Symptomverschreibung (Watzlawick et al., 1969, S. 230 ff.) im Falle psychogener Kopfschmerzen, also die Aufforderung, mehr (oder auch weniger) Kopfschmerzen zu haben. Daß der Patient sich diese Aufforderung nicht selbst geben kann, ist ein wichtiger Hinweis auf die operativen Voraussetzungen einer erfolgreichen Symptomverschreibung, wie sie weiter unten ausführlich erläutert werden.
Der Typus von Paradoxic, der Watzlawick in erster Linie interessiert, ist die „pragmatische Paradoxic“, d.h. eine Paradoxic, die sich in widersprüchlichen Handlungsaufforderungen manifestiert, weniger dagegen die „logisch-mathematische“ bzw. „semantische“ Paradoxic (Watzlawick et al., 1969, S. 174). Es handelt sich hier somit um eine pragmatische Pseudoparadoxie.
In diesem Zusammenhang darf auf Freuds Ausführungen zum Problem der therapeutischen Suggestion verwiesen werden. Freud betont, daß auch die Psychoanalyse, die ja gerade versucht hat, die Mängel der primär auf Suggestion beruhenden Hypnose zu überwinden, auf Suggestion nicht vollständig verzichtet. Die positive „Ichveränderung“ in der Therapie vollzieht sich „unter dem Einfluß der ärztlichen Suggestion“ (St. A. I, S. 437). Dies meint selbstverständlich keine direkte suggestive Beeinflussung des Symptoms, vielmehr handelt es sich darum, daß der Therapeut den Patienten ermutigt und unterstützt, den Kampf mit den verdrängten Anteilen wieder aufzunehmen und ihn auf der Ebene zu führen, wo allein ein anderer Ausgang des Konflikts möglich wird, auf der bewußten Ebene.
Daß die meisten „Verschreibungen“ im Kontext des therapeutischen Intervenieren von Watzlawick — in der einen oder anderen Form — am Symptom ansetzen, hat den Grund, daß es die einfachste Form eines — im Hinblick auf den Patienten — motivations-und bedeutungskonformen Intervenierens ist. Im Fall „echter“ paradoxer Intervention ist das allerdings auch die schwierigste.
In den meisten hier referierten Beispielen wird diejenige Motivation therapeutisch eingesetzt bzw. kontrasymptomisch „umgedreht“, die das problematische Verhalten unmittelbar aufrechterhält: die Wut des Jungen gegen den Schuldirektor, die Abneigung der Tochter gegen therapeutische Veränderung, das Bedürfnis der Eltern, „gute Eltern“ zu sein. Zweifellos handelt es sich hier um die eleganteste und dauerhafteste Lösung (soweit derartige symptombezogene Lösungen überhaupt dauerhaft sein können). Im Falle der Patientin mit psychogenen Kopfschmerzen wird dagegen stärker mit der Angst der Patientin gearbeitet, sie könne u.U. ihre Kopfschmerzen nicht mehr loswerden. Trotz der hier geäußerten Kritik an dem psychotechnischen Vorgehen dieser Therapeuten muß andererseits anerkannt werden, daß diese Verfahren ohne vorhergehende präzise Analysen und Diagnosen der aktuellen Motivationsstrukturen nicht funktionieren würden.
In diesem Abschnitt soll auch eine grundsätzliche Würdigung dieser therapeutischen Technik versucht werden.
Watzlawick u.a. scheinen nicht zu bemerken, daß sie auf diese Weise das Postulat naturwissenschaftlich eindeutiger Beobachtung, das sie in „Menschliche Kommunikation“ aufstellen, eindeutig preisgeben.
Die Polemik gegen die „tiefenpsychologischen“ Ansätze bewegt sich in der Regel auf Ebenen wie: „Doch während eine solche Einsicht in die Genese der gegenwärtigen Schwierigkeiten eine überaus plausible und intellektuell befriedigende Erklärung liefern mag, so trägt sie meist wenig, wenn überhaupt zu ihrer Lösung bei“ (Watzlawick et al. 1974, S. 108). An anderer Stelle spricht Watzlawick von der Psychoanalyse als einem „kausaleruierenden Ansatz“ (1977, S. 42). Es bleibt unerfindlich, wie ein therapeutisches Verfahren, das auf der Reintegration von abgespaltenen Sinnstrukturen und Motiven beruht, mit „Kausalableitungen“ operieren kann.
Dies ist bei Rechtshändern in der Regel die linke Hirnhemisphäre.
Wir können diese Argumentation auch so charakterisieren, daß die Pragmatik menschlicher Kommunikation sich hier auf dem Weg zu einer „Metapsychologie“ befindet, wobei Ähnlichkeiten mit psychoanalytischer Metapsychologie unübersehbar sind.
Auch dyadische Kommunikationsstrukturen lassen sich aus einer Systemperspektive diskutieren, sind allerdings von erheblich geringerer Komplexität als „triadische“ Strukturen (also Familien mit der Struktur Vater-Mutter-Kind).
Wir hatten bereits oben dargestellt, daß Haley die quasi-naturwissenschaftliche Betrachtungsweise menschlicher Kommunikation durch Watzlawick nicht nur nicht teilt, sondern sie implizit sogar scharf kritisiert.
Hier und in den folgenden Darstellungen soll versucht werden (soweit dies aufgrund der unterschiedlichen Ansätze möglich ist), eine einheitliche Terminologie zu verwenden. So soll von Grundbegriffen oder Kategorien gesprochen werden, soweit es sich um grundlegende Eigenschaften kommunikativer Systeme handelt, also etwa um Begriffe wie System, Systemregel, Rückkopplung, Äquifinalität etc. Soweit es sich um grundlegende Merkmale von Interaktionssequenzen handelt, soll von Axiomen gesprochen werden. Ein derartiges Axiom wäre z.B., daß menschliche Kommunikation auf einer Inhalts-und einer Beziehungsebene stattfindet.
Die Struktur positiven feedbacks soll in dieser Skizze nicht ausführlich untersucht werden. Zu den pathologischen und therapeutischen Implikationen des „positiven feedbacks“ vgl. Watzlawick et al., 1974, Teil II.2.
Wie bereits erwähnt, macht Haley klar, daß es sich bei diesem Kontext um „Bedeutungen“ handelt. Im Streit eines Paares um die Frage, „wer wessen Socken aufheben soll“, geht es darum, „welche Bedeutung die Socken im Kontext ihrer Beziehung“ haben (vgl. Haley 1977, S. 91).
„Alle Botschaften oder Teile von Botschaften sind wie Sätze oder Segmente von Gleichungen, die ein Mathematiker in Klammern setzt. Außerhalb der Klammern kann es stets einen ‚Qualifizierer ‘oder Multiplikator geben, der den gesamten Tenor des Satzes verändert. Darüber hinaus ist es möglich, daß diese ‚Qualifizierer’ später hinzugefügt werden, sogar Jahre später“. (Bateson 1972, S. 232/Übersetzg.: M. C). — Da Haley sich sehr häufig auf Bateson (der als „Mentor“ der Palo-Alto-Gruppe gilt) bezieht, wird im folgenden auch auf zentrale Definitionen von Bateson verwiesen.
Unklar bleibt, ob Haley diesen Aspekt die Bedeutung eines Axioms einräumt. Es scheint sich hier eher um die inhaltliche Konsequenz bestimmter Interaktionsformen zu handeln. „Wenn in einer binären Beziehung die Verhaltensweisen von A und B … als ähnlich betrachtet werden und so miteinander verbunden sind, daß ein Mehr der Verhaltensweise von A ein Mehr der Verhaltensweise von B stimuliert und umgekehrt, dann ist die Beziehung im Hinblick auf dieses Verhalten ‚symmetrisch‘. Wenn im Gegensatz dazu die Verhaltensweisen von A und B unähnlich sind, aber wechselseitig zusammenpassen … und die Verhaltensweisen so miteinander verbunden sind, daß ein Mehr des Verhaltens von A ein Mehr von Bs ergänzendem Verhalten stimuliert, dann ist die Beziehung im Hinblick auf dieses Verhalten ‚komplementär‘.“ (Bateson 1972, S. 323/Übersetzg.: M. C).
Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, bei komplementären Beziehungen eine „Primärposition“ und eine „Sekundärposition“ zu unterscheiden (vgl. Watzlawick et al. 1969, S. 112).
Es wird deutlich, daß diese Kritik auch auf familientherapeutische Konzeptionen bezogen werden kann, wie sie etwa von Richter und Stierlin entwickelt wurden. Derartige Beschreibungen familialer Pathologie folgen weitgehend der Logik linearer Verursachungsprozesse (obwohl etwa Stierlin et al. „zirkuläre Kausalität“ unter den Axiomen ihres Ansatzes ausführen; vgl. Stierlin et al. 1977). Im übrigen gilt dies natürlich auch für die von Haley und anderen Vertretern einer kybernetischen Betrachtungsweise entwickelten double-bind-These, die mit einem linearen Kausalitätsbegriff operiert.
Diese Betrachtungsweise, die — inhaltlich gesehen — Macht-und Kontrollprobleme in den Mittelpunkt stellt, ist insgesamt typisch für den Haleyschen Ansatz. Die Dominanz von „Machtkämpfen“ charakterisiert für Haley gestörte Familien (S. 200). Dies bedeutet zugleich, daß für Haley die Emotionen, die in derartigen Machtkämpfen „ausgetauscht“ werden oder zirkulieren, von sekundärer Bedeutung sind. Ein ähnlicher Schwerpunkt findet sich in dem Ansatz von Minuchin, der sich teilweise auf dieselben systemtheoretischen und kybernetischen Prämissen bezieht wie Haley. Minuchins therapeutischer Fokus sind die „Grenzen“ innerhalb eines Familiensystems. Wer jedoch Grenzen setzt oder versucht, sie zu verwischen, übt Kontrolle bzw. Macht aus.
Aus der Perspektive zirkulärer Kausalität erscheint es problematisch, von einem „gestörten Kind“ zu sprechen. Das Zitat macht darüber hinaus deutlich, daß es sich hier um eine gestörte familiale Interaktion handelt, die „gestörte“ Verhaltensweisen des Kindes aktiviert.
Eine derartige Verhaltensänderung kann, wie wir bereits oben angedeutet haben, zahlreiche Ursachen haben: Widerstand gegen den Therapeuten (bzw. die durch ihn ausgeübte Kontrolle), Verlust des „spontanen“ Charakters des symptomatischen Verhaltens infolge seiner „Verschreibung“ etc. 39a Ein gutes Beispiel derartigen Vorgehens, in dem gleichzeitig die „flankierenden“ Maßnahmen einer Symptomverschreibüng in Gestalt „situativer“ Veränderungen deutlich werden, wird von Haley (1977) und Minuchin (1977) beschrieben (die Therapie wurde von Braulio Montavio durchgeführt). Einer Mutter, deren siebenjährige Tochter bereits mehrfach durch Spielen mit Streichhölzern Wohnungsbrände verursacht hat, wird die Ver-schreibung erteilt, ihrer Tochter den „richtigen Umgang“ mit Streichhölzern und Feuer beizubringen. Bei dieser Symptomverschreibung wird die Kontrolle des Symptoms bereits in die Verschreibung mit einbezogen. Zweitens wird dadurch der Einfluß des sog. „Elternkindes“ (d.h. eines Kindes, das stellvertretend Elternfunktionen wahrnimmt) verringert, das bisher eine unmittelbare Kommunikation zwischen Mutter und Tochter verhinderte. Und schließlich findet drittens eine Umdeutung des Symptoms statt (als eine Art Unvorsichtigkeit, die sich durch sachgerechten Umgang mit Streichhölzern korrigieren läßt), die es der Mutter ermöglichen soll, weniger stark durch negative Affekte beeinflußt mit der Tochter zu kommunizieren. Ähnlich wie bei Minuchin stehen auch bei Haley paradoxe Interventionen als gezielte Aufforderungen zu symptomatischem Verhalten nicht im Mittelpunkt der Therapie: sie dienen vielmehr dazu, Widerstände zu überwinden bzw. veränderte Interaktionssequenzen in Gang zu setzen. Im Gegensatz dazu operiert die Mailänder Gruppe um Selvini Palazzoli in erster Linie mit derartigen paradoxen Interventionen.
Dieser Nachweis ist das erklärte Ziel von Haleys Arbeit über „Strategien der Psychotherapie“: „Ein Ziel dieses Buches ist es, vor Augen zu führen, daß therapeutische Fortschritte das Ergebnis all jener therapeutischen Paradoxe sind, die die genannten Methoden miteinander gemeinsam haben.“ (Haley 1978, S. 33).
Die in den Abschnitten 1—4 dieses Kapitels vorgetragene Interpretation beruht auf der Analyse der bis einschließlich 1980 veröffentlichten Schriften von Mara Selvini Palazzoli und ihrer Mitarbeiter, insbesondere auf der Arbeit „Paradoxon und Gegenparadoxon“ (1977). Die Interpretation versucht, die eigentümlich ambivalente Position der Autoren zwischen Systemtheorie und Psychoanalyse (die Autoren rechnen sich ursprünglich der „psychoanalytischen Richtung“ zu, 1977, S. 133), zwischen naturwissenschaftlich-experimenteller und hermeneutisch-verstehender Methodik herauszuarbeiten. In einem Gespräch mit Mara Selvini Palazzoli (1980) wurde jedoch deutlich, daß Selvini zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Position einnimmt, die eindeutig der Systemtheorie und der naturwissenschaftlichen Methodologie zuzurechnen ist. Dies hat erhebliche Konsequenzen auch für ihre Interventionstechnik, so daß einige der Unklarheiten, die sich bei der Interpretation von „Paradoxon und Gegenparadoxon“ ergeben haben, dadurch weitgehend aufgeklärt werden. Da Selvini in diesem Gespräch m.E. eine veränderte theoretische, methodische und praktische Position eingenommen hatte, wurde die ursprüngliche Interpretation in den Abschnitten 1—4 beibehalten. Im Anschluß daran (Abschn. 5 dieses Kapitels) wird dann versucht, ein Fazit aus dem Gespräch mit Selvini Palazzoli zu ziehen.
„Die Gründe, die Frage:, Warum“, die Gefühle müssen in der Verborgenheit bleiben. Das heißt aber nicht, daß wir Therapeuten, die wir ja der psychoanalytischen Richtung angehören, die Sitzungen nicht regelmäßig nach den linearen psychoanalytischen Modellen besprechen würden, wobei wir interpunktieren, kausale Hypothesen formulieren und aufgrund der Vorgeschichte nach Erklärungen suchen und in der Teamdiskussion mit den Meinungen der Kollegen vergleichen. Das ist unumgänglich, insoweit es unumgänglich ist, sich der Sprache zu bedienen.“ (S. 133/herv. M. C.)
Dies wird von Mara Selvini Palazzoli an anderer Stelle explizit so formuliert, daß sie davon spricht, daß „a ritual is not a form of meta-communication about these rules … rather it is a kind of counter-game“ (1974, S. 239).
Hier wird die Anlehnung der Autoren an Watzlawick, aber ebenso die Problematik des epistemologischen Status von „beobachten“ deutlich.
Der Watzlawicksche Irrtum, daß Sprache per se „digital“ sei, taucht im übrigen auch bei Selvini Palazzoli auf (S. 58).
Das hier beschriebene Problem liegt auf einer anderen Ebene als der von Freud postulierte „Determinismus“ psychischer Phänomene: bei Freud handelt es sich um einen Determinismus in einem sehr viel engeren Sinne, daß nämlich psychische Phänomene nicht rein zufällig oder kontingent auftreten.
Dies wird z. B. sehr treffend in einer Formulierung Selvini Palazzolis in ihrer Arbeit über „Anorexia nervosa“ ausgedrückt, wonach die „observable transactional patterns in the here and now of family psychotherapy“ (1974, S. 200) als entscheidend angesehen werden. Vgl. hierzu auch Selvini Palazzoli u.a. (1977, S. 133).
In dem Gespräch mit Mara Selvini Palazzoli (1980) wird versucht, — aus systemtheoretischer Perspektive — eine Antwort auf diese Frage zu finden.
Etwa in dem Sinne, daß die Familienregeln einmal funktional waren für das ökonomische und soziale Überleben der Familie.
Eine interessante Erklärung dieses Phänomens findet sich bei Whitaker und Napier (1976). Die Autoren gehen dabei davon aus, daß sich die beiden Partner — zumindest unbewußt — über die symmetrische bzw. spiegelbildliche Problematik des jeweilig anderen Partners im klaren sind. Die Reziprozität der Partnerwahl wird als unbewußter Versuch interpretiert, die eigene Problematik mit dem jeweils anderen Partner zu bewältigen, gleichsam also als „Reparationsversuch“.
Die Autoren dokumentieren in diesem Zusammenhang noch einmal, was sie unter relevanten Daten bzw. Information verstehen: „a) Hier ist jemand, der mir deutlich zeigt, daß er (der schizophrene Patient) eine Veränderung herbeisehnt. b) Die Wirkung dieses äußerlich demonstrierten Flehens ist das Ausbleiben einer Änderung“ (S. 43).
Die Autoren weisen völlig zurecht darauf hin, daß dieser Grundsatz der positiven Symptombewertung Schwierigkeiten bei Familien mit einem Einzelkind als Symptomträger zur1 Folge hat. Hier besteht stets die Gefahr einer Koalition entweder mit dem Kind oder mit den Eltern. Folgerichtig versuchen die Therapeuten in diesem Fall, das symptomatische Verhalten des Kindes auf sich, d.h. auf den Therapeuten zu beziehen. Ergänzend kann hinzugefügt werden, daß der nächste Schritt im Kontext paradoxer Interventionslogik die „Verschreibung“ des Symptoms ist, d.h. die Aufforderung an den Patienten, das Symptom willentlich zu produzieren. Wie bereits oben im Zusammenhang der Darstellung des Ansatzes von Haley gezeigt wurde, kann der Therapeut dabei zwei unterschiedliche Ziele verfolgen: a) Er beabsichtigt, daß der Patient tatsächlich das symptomatische Verhalten zeigt. Dies bedeutet einerseits, daß der Patient die Beziehungs-und Situationsdefinition des Therapeuten übernimmt; andererseits verändert sich dadurch der Status des Symptoms, da dieses jetzt nicht mehr „spontan“, sondern auf Anweisung des Therapeuten produziert wird, b) Er beabsichtigt, daß sich der Patient der Verschreibung des Symptoms widersetzt. Der Patient weist damit zwar einerseits die Situations-und Beziehungsdefinition durch den Therapeuten zurück, ist aber andererseits durch diese Zurückweisung gezwungen, das Symptom aufzugeben.
Damit die Intervention diese spezifische Wirkung auf die Familienstruktur erzielen kann, empfiehlt Selvini Palazzoli relativ lange Abstände zwischen den einzelnen familienthera-peutischen Sitzungen (in der Regel 4–8 Wochen).
Wir werden weiter unten (Abschn. 5 dieses Kapitels) sehen, daß Selvini Palazzoli mittlerweile diese mögliche psychoanalytisch orientierte Interpretation ihres therapeutischen Vorgehens ablehnt und ihre Intervention als eine rein taktisch orientierte Interpretation versteht.
Dies ist nur auf den ersten Blick nicht zutreffend für Interventionen, bei denen die Fami-lie explizit oder implizit aufgefordert wird, so wie bisher weiter zu machen, die therapeutische Intervention also gerade in der scheinbaren Verhinderung einer Veränderung besteht. Falls die Intervention tatsächlich nur zum Ziel hat, die Familie zunächst einmal nicht in Unruhe zu versetzen, ist die Intervention dennoch in dem Sinne beunruhigend, daß die Familie ja gerade zum Zwecke einer Veränderung den Therapeuten aufsucht. In der Regel wird diese Intervention jedoch die Absicht verfolgen, gerade das Gegenteil zu bewirken, indem sie über die implizite Unterstellung, eine Veränderung sei für die Familie bedrohlich, die Familie zu einer Veränderung provozieren will. Kurz gesagt: ohne Provokation keine systemische Familientherapie.
Vgl. Clemenz/Ohrnberger 1980, a.a.O., S. 19. (Die Unterstreichungen verweisen auf besonders starke Betonungen in den Antworten von Selvini Palazzoli; die Seitenangaben beziehen sich auf das vervielfältigte Interview mit Selvini Palazzoli).
Diese „Sprengwirkung“ der paradoxen Intervention wird von Selvini Palazzoli unter anderem durch die „langen Intervalle“ zwischen den therapeutischen Sitzungen gefördert (ca. 4—6 Wochen). Die Therapeuten lehnen dabei jegliche Diskussion über die Intervention ab (derartige Diskussionen werden von Selvini Palazzoli interessanterweise noch immer als „Widerstand“ bezeichnet), durch die es der Familie gelingen könnte, die Intervention ab-zuschwächen bzw. zu zerreden. Die Familie muß also die Auswirkungen der Intervention unter sich austragen.
Damit wird gleichzeitig gesagt, daß das Argument der Äquifinalität rückgekoppelter Systeme (wie es etwa von Watzlawick vorgebracht wird) falsch, zumindest in einem zentralen Punkt falsch ist. Zwar ist es richtig, daß inhaltlich gesehen alle möglichen Konflikte zu pathologischen Konsequenzen für ein familiales System führen können. Formal gesehen muß jedoch stets die Bedingung erfüllt sein, daß bestimmte Inhalte nicht offen kommuniziert werden können, d.h. das es latente Inhalte der Kommunikation gibt, die gerade aufgrund dieser Latenz das Verhalten des Individuums steuern — eben aus dem Grund, daß sie nicht bewußt sind. Zur Verdeutlichung sei die pathologische Doppelbindung genannt: die eigenartige zweidimensionale und kontradiktorische Form der Kommunikation kommt dadurch zustande, daß auf emotionaler Ebene die Kommunikation teilweise oder ganz abgewehrt wird, d.h. daß der Sprecher sich seiner ambivalenten Einstellung gar nicht bewußt ist.
Wir können hier also im Vorgriff auf spätere Überlegungen bereits feststellen, daß sich der latente Bedeutungsgehalt familialer Interaktion auf drei Ebenen konstituiert: a) auf der Ebene latenter sozialer Regeln (etwa kultur-oder schichtspezifischer Natur); b) auf der Ebene der latenten interaktiven Muster bzw. des zirkulären. Zusammenspiels der Familie, soweit sie noch nicht auf der Ebene der Verschränkung unbewußter Motive liegt, und c) auf der Ebene der im strengen Sinne unbewußten individuellen Motive und ihrer interaktiven Verschränkung.
Dabei ist gleichzeitig zu berücksichtigen, daß ein großer Teil des therapeutischen Erfah-rungswissens nicht in diese ausgewiesenen Erfahrungssätze eingegangen ist, sondern gleichsam eine implizite intuitive Ergänzung — wenn nicht gar die Basis — derselben darstellt. Erst dieses implizite Erfahrungswissen ermöglicht es überhaupt, die explizit ausgewiesenen hypothetischen Sätze auf einzelne Fälle anzuwenden.
Minuchin bezieht sich dabei auf ein Beispiel von Bateson, das häufig von Systemtheoretikern zitiert wird. Bateson beschreibt dabei einen Mann, der einen Baum fällt, als ein „rückgekoppeltes System zwischen Mensch und Umwelt“ und die (physische) Umwelt als „extrazerebralen Teil des Geistes“.
Minuchin schildert in diesem Zusammenhang das paranoide Verhalten einer Patientin, einer älteren Frau, die in eine neue Wohngegend zieht. Minuchin sieht das Problem in dem Zusammenspiel, dem Rückkopplungsprozeß zwischen der Patientin und den Reaktionen einer ihr neuen und unvertrauten Umwelt. Die therapeutische Intervention zielt in diesem Falle darauf ab, der Frau die allmähliche Anpassung an ihre neue Umwelt zu ermöglichen.
Auch Selvini Palazzoli betont in ihren neueren Arbeiten diesen Aspekt (vgl. insbes. Sel-vini Palazzoli 1982). Ähnlich verweist Haley darauf, daß es sich bei einem Schüler mit Lern-und Verhaltensschwierigkeiten um einen „Problemschüler“, aber auch um eine „Problemschule“ handeln kann.
Minuchin macht immer wieder klar, daß der Familientherapeut eine „Theorie“ des inner-familialen Funktionierens und des soziokulturellen Bezugsrahmens der Familie benötigt: „ … der Therapeut (muß) ein begriffliches Schema der Familie besitzen, das ihm bei der Analyse des einzelnen Falles hilft.“ (S. 70)
Äußerungen wie diese machen klar, daß trotz aller individueller „Abweichungen“ die Arbeiten von Minuchin zweifellos stark durch den systemtheoretischen Ansatz beeinflußt sind.
Es handelt sich hier um jene Konstellationen, die von Haley als „perverses Dreieck“ bezeichnet werden.
Dasselbe gilt auch für die Erstellung der Diagnose: „In der Familientherapie gelangt man nur durch Interaktion, nämlich durch Anschluß an die Familie zu einer Diagnose“ (S. 165).
Minuchin weist darauf hin, daß „Aufrechterhaltung“ wie prinzipiell auch alle anderen An-schlußtechniken neustrukturierende Wirkung besitzen kann. Unterstützt der Therapeut z.B. ein Subsystem, so muß u.U. ein anderes Subsystem eine Neustrukturierung vornehmen, „um sich dieser Unterstützung anzupassen.“ (S. 160)
Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die Ausführungen über Diagnostik der Besehreibung der Anpassungsmaßnahmen nachgestellt sind. Auch darin wird ausgedrückt, daß die familientherapeutische Diagnose einen empathischen Verstehensprozeß zur Voraussetzung hat. Minuchin betont sechs wichtige diagnostische Bereiche: (1.) Familienstruktur, bevorzugte transaktionale Muster sowie mögliche Alternativen; (2.) Flexibilität und Kapazität des Familiensystems im Hinblick auf Neustrukturierung; (3.) Resonanz des Familiensystems, d.h. seine „Hellhörigkeit“ in bezug auf die Aktion der einzelnen Mitglieder; (4.) Analyse des „Lebenskontextes“ der Familie bzw. der „familialen Umwelt“; (5.) derzeitige Entwicklungsstufe der Familie; (6.) Bedeutung der Symptome für die Aufrechterhaltung der bevorzugten transaktionalen Muster. (S. 164 f.)
Damit wird die Interpunktion verändert bzw. die Zirkularität der Interpretation hergestellt. Die hier aufgezählten Techniken finden sich, wie man unschwer sehen kann, alle bei Selvini Palazzoli wieder. Man gewinnt den Eindruck, als bestünde der originelle Beitrag Selvini Palazzolis zur Familientherapie insbesondere darin, daß sie diesen Teil des strukturellen therapeutischen Reportoires zu einer virtuosen Interventionstechnik weiterentwickelt hat.
Minuchin beschreibt den Fall eines jugendlichen Anorektikers, der fast vollständig von den Aktivitäten seiner Gleichaltrigen isoliert war. Minuchin nahm ihn für eine Woche in seine Familie auf und sorgte dafür, daß er Kontakte zu Gleichaltrigen bekam.
Elkaim bezieht sich dabei insbesondere auf einen bisher unveröffentlichten Aufsatz von Minuchin, Some points in family therapy grammar, 1974, in: Elkaim 1979, S. 90.
Eine vergleichbare Problematik taucht auch im Problembereich der Sozialtherapie auf. Die impliziten Kontroversen — oder besser die unterschiedlichen Akzentsetzungen — innerhalb des „ökologischen Ansatzes“ bei Auerswald einerseits, Hoffmann/Long andererseits konzentrieren sich ebenfalls auf diesen Punkt, d.h. auf die Problematik, wie sozialtherapeutische Arbeit mit den auftauchenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Widersprüchen umgehen kann. Hier zeigt sich, daß die Übergänge zwischen Familientherapie und Sozialtherapie fließend sind; d.h. daß die soziologisch problembewußten familientherapeutischen Ansätze immer stärker zu kontextbezogener Arbeit tendieren.
Die Autoren gehen nicht näher darauf ein, unter welchen Umständen eine derartige therapeutische Strategie sinnvoll ist, bzw. ob auch andere Therapien möglich sind. So schreiben. die Autoren (ohne weitere Erörterung alternativer therapeutischer Strategien) über einen Patienten, der eine akute psychotische Periode gerade hinter sich hatte: „Ein mögliches Ziel war in unseren Augen die Mobilisierung eines unterstützenden Netzwerks durch Jims Altersgenossen, das ihn vielleicht in die Lage versetzen würde, von zu Hause wegzugehen und eine Arbeit und soziale Beziehungen zu finden, die seinem Alter und seinem Status eher angemessen waren“ (1976, S. 39).
Attneave berichtet z. B. von Netzwerkversammlungen, die sie mit einem indianischen Clan durchführte, wobei die starken Clanbindungen (im Vergleich zu städtischen Netzwerken) das Zustandekommen des Netzwerkeffekts wesentlich erleichterten (Attneave 1969).
In der deutschen Übersetzung wird dieser Begriff mit dem wenig glücklich gewählten Wort „Verhordung“ wiedergegeben. Es erscheint mir sinnvoll, so weit wie möglich den ursprünglichen Begriff „tribalisation“ beizubehalten.
Dieses Mitglied des Teams tritt nicht als solches in Erscheinung. Mit diesem „Trick“ soll erreicht werden, daß Mitglieder des Teams die Diskussion stimulieren, ohne das dies von vornherein als ein Teil der Netzwerktechnik erkannt wird. Allerdings sollen die Teammitglieder, wenn sie direkt daraufhin angesprochen werden, ihre Rolle nicht verschleiern.
Die Aufgabe wurde in dem o.a. Beispiel vom Leiter des Teams folgendermaßen definiert: a) Wie könnte man Claude von seinen Eltern weg-und dazu bringen, woanders zu wohnen; b) wie bekommt man Claude dazu, auf Drogen zu verzichten; und c) wie findet man Arbeit für Claude (S. 55).
Die Ausarbeitung dieser Phasentechnik erfolgt erst im Laufe der Entwicklung der Netzwerkarbeit. In dem Aufsatz von 1971 sprechen die Autoren sehr viel allgemeiner von einer „Aufeinanderfolge von Polarisierung, Verschiebung und Refokusierung“ (S. 321).
Als Mindestvoraussetzung auf Seiten der Therapeuten nennen Speck/Attneave ein erfahrenes Teammitglied. Es muß ein außerordentlich fein entwickeltes Empfinden für den richtigen Zeitpunkt einer Intervention, für die Einführung bestimmter Themen sowie für die Stimmungen und Tempi der Netzwerkinteraktion besitzen (1971, S. 319).
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Clemenz, M. (1986). Psycho-Logik oder Maschinen-Logik - Systemtheorie als therapeutisches Paradigma. In: Soziale Codierung des Körpers. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83934-3_4
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