Zusammenfassung
Eine prozessuale Betrachtung bei der Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene und Entwicklungen ist unerläßlich. Erst durch sie läßt sich eine adäquate Modellierung von Interdependenz und Asymmetrie in Mehrebenenstrukturen erreichen. Deshalb werden in diesem Kapitel erste Analyseansätze zum mathematischen Studium dynamischer Mehrebenensystem-Modelle vorgestellt. Ich beschränke mich auf eine Auswahl. Die Konzeptideen bedürfen zudem weitgehend noch einer an den spezifischen Belangen der sozialwissenschaftlichen Modellierung orientierten Ausarbeitung und Entwicklung. Während in der Ökonomie schon eine längere Tradition dynamischer Modellbildung zu verzeichnen ist1), sind entsprechende Versuche in der Soziologie und in anderen Sozialwissenschaften eher spärlich. Allerdings zeichnet sich eine deutliche Hinwendung zu zeitbezogenen Analysen in der empirischen Forschung unterschiedlicher Provenienz ab. Dazu gehört die Entwicklung neuer Schätzmethoden der Zeitverlaufsanalyse2).
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Notes
Ein prominentes frühes Beispiel ist TINBERGEN 1952. Zu neueren Ansätzen siehe z.B. STÖPPLER 1980.
Siehe als frühes Beispiel HARDER 1973 oder aus neuerer Zeit DIEKMANN 1980. Größeres Gewicht gewinnt auch die Zeitreihenanalyse, und insbesondere die Ereignisdatenanalyse: DIEKMANN/MITTER 1984, TUMA/HANNAN 1984, ANDRESS 1985, BLOSSFELD et al. 1986.
Das sind Annahmen, wie sie in solchen naturwissenschaftlichen Modellen üblich sind. Man darf allerdings nicht davon ausgehen, daß die Makroebene als gewählte Analyseebene im Sinne der Mehrebenenanalyse modellmäßig als solche hervorragend sein muß.
Der Begriff der Reaktionsgleichungen stammt aus der Chemie und bezieht sich auf den Verbrauch und die Produktion von chemischen Substanzen innerhalb eines chemischen Reaktionsprozesses.
Damit ist hier keine räumliche Verteilung gemeint.
Eine andere nicht sozialwissenschaftliche Interpretation von Gleichungen des Typs (4.1.1) bietet sich mit dem anharmonischen Oszillator an (HAKEN 1977, S. 108f).
Das leitet sich aus den folgenden Gleichgewichtsgleichungen ab: k1 Aeq X = k2 X3 und k3 X = k4 Beq. Dieser Punkt entspricht der Bedingung des thermodynamischen Gleichgewichts. Ist sie verletzt, wird dieser Zustand verlassen.
Durch eine Koeffiziententransformation führen NICOLIS und PRIGOGINE (4.1.1) über in: dX/dt = X3-αX2 + κX-β, wobei α, β, κ> 0 (4.1.2a). Nach einem allgemeinen, algebraischen Kriterium läßt sich nun eine Fallunterscheidung der Struktur der Lösungsmenge der Gleichung dX/dt=0 angeben. Sie kann (a) eine reelle und zwei konjugiert komplexe Wurzeln, (b) drei reelle Wurzeln und (c) eine reelle Wurzel und eine reelle Doppelwurzel haben. Schließlich gibt es bei α=(3κ)1/2 und β=α3/27 drei identische reelle Wurzeln. Für gegebenes κ ist damit der Bifurkationspunkt bestimmt. Für Parameter α>(3κ)1/2 und vorgegebenes κ und soweit die Bedingung erhalten bleibt, daß alle Parameter größer als Null sind, können Parameter β1 und β2 angegeben werden, mit β1 β2 und es gilt das folgende: Ist β1=β=β2, liegt der kritische Punkt des Systemverhaltens vor; ist β1<β<β2, so gilt der o.a. Fall (b); ist β<β1 oder β>β2, so gilt Fall (a); ist β=β1 oder β=β2, so gilt Fall (c). Ist α<(3κ)1/2, ergibt sich bei Veränderung von β keine Veränderung der Lösungsstruktur. Es gilt immer Fall (a).
Der Gleichgewichtspunkt aus (4.1.2) ist in den Parametern α, β und κ ausgedrückt durch die Beziehungen β/α=κ charakterisiert und liegt in dem Bereich, in dem dX/dt=0 nach (4.1.2a) aus der obigen Fußnote die Lösungsstruktur (a) hat. Für α=(3κ)1/2 und β=α3/27 läßt sich diese Bedingung nicht erfüllen.
Siehe auch NICOLIS/PRIGOGINE 1977 S. 174ff, die (4.1.3) aus (4.1.1) durch einfache Transformationen ableiten. Siehe zu dieser Gleichung auch HAKEN 1977, S. 136 und Literatur zur Katastrophentheorie z.B. THOM 1975, 1983.
Die Anwendung des Potentials ist La. nur im eindimensionalen Fall möglich. Es hat die Qualität einer Ljapunov-Funktion in der Stabilitätsanalyse.
Allgemein bietet die Methode der Ljapunov-Funktion u.U. die Möglichkeit des Nachweises der Stabilität bzw. Instabilität stationärer Punkte in nichtlinearen Systemen. Einen anderen, jedoch nicht globalen Ansatz bietet die Analyse des linearisierten Systems um den stationären Punkt (LUENBERGER 1979, S. 324ff).
Siehe z.B. MAY 1974.
Diese Methode der lokalen Stabilitätsanalyse betrachtet die Stabilitätseigenschaften der zeitlichen Entwicklung von Störungen ΔX und ΔY um den stationären Punkt (X0, Y0) gemäß dem zu (4.1.6) gehörenden linearisierten Differentialgleichungssystem. Dazu werden die Funktionen für dX/dt und dY/dt in (4.1.6) in Taylorreihen um X0 und Y0 entwickelt und lediglich die linearen Terme berücksichtigt. Man erhält hier als das linearisierte Differentialgleichungssystem für die Entwicklung der Störungen um den stationären Punkt aus (4.1.7): d(ΔX)/dt =-k3(ΔY); d(ΔY)/dt = k1(ΔX). Die linke Seite von (4.1.8) ergibt sich dann als die Determinante der (2×2)-Matrix mit den Zeilen (λ,-k3) und (k1,-λ).
Ich schließe den Fall des Aussterbens einer Art, eine einschneidende “Störung” aus. Danach ergäbe sich ein exponentielles Wachstum der Beutetiere (X(t) = xoexp(k1t)) bzw. eine exponentielle Schrumpfung der Population der Räuber (Y(t) = yoexp(-k3t)).
Zur Ableitung siehe zum Beispiel BRAUN 1979, S. 476ff.
Siehe auch NICOLIS/PRIGOGINE 1977, S. 163ff.
Zum Beweis der Existenz von Grenzzyklen wird das bekannte Theorem von POINCARE und BENDIXON verwandt. Für Systeme wie das hier betrachtete lassen sich dann auch neue Formen der Bifurkation im stationären Verhalten identifizieren. Eine Linearisierungsanalyse führt hier zu keinem Ergebnis, wenn sich mit ihr auch oft Hinweise darauf finden lassen.
WEIDLICH und HAAG setzen für μ21 zum Beispiel an: μ21=v*exp(δ+α(XO-XR)-βY), wobei hier die genannte Abhängigkeit von den Systemzuständen deutlich wird. v hat dabei die Funktion der Differenzierung der Zeitskalen von Makro-und Mikroebene und entspricht dem γ in 2.2. WEIDLICH und HAAG nennen ihn auch den “Flexibilitätsparameter”.
Der diskrete Übergang von einem asymptotisch-stabilen, stationären Punkt zu einem Grenzzyklus wird als HOPF-Bifurkation bezeichnet. Siehe z.B. CASTI 1985. Es lassen sich auch mindestens zweidimensionale Systeme betrachten, bei denen durch Parameterwandel eine Bifurkation von Grenzzyklen auftritt, ein vormals asymptotisch stabiler in zwei neue, lokal asymptotisch stabile führt und selbst instabil wird. Siehe z.B. HAKEN 1978a.
Ähnliche Überlegtingen lassen sich für Differenzengleichungen anstellen.
Siehe insbesondere WEIDLICH/HAAG 1983, S. 55ff und WUNDERLIN/HAKEN 1981, 1984.
In der Physik stellen zum Beispiel die Temperatur oder der Druck solche Makromerkmale dar.
In diesem Sinne könnte auch die Bedeutung anthropologischer Grundkonstanten im Rahmen von sozialwissenschaftlichen Mehrebenensystemen interpretiert werden, insofern sie Prozeßbedingungen auf einer niedrigen, insbesondere der Individualebene setzen, die nur in geringem Ausmaß über übergeordnete gesellschaftliche Ebenen vermittelt sind und eher direkt aus der ökologischen Umwelt stammend für individuelle Prozesse virulent werden. Damit ist natürlich das einfache Modell einer durchgängigen Zeitskalendifferenzierung in Systemen (vgl. 2.2.1) verletzt und in ein Modell multipler Zeitskalenrelationen mit einer entsprechend differenzierten Parametertypologie auszuweiten.
Die modellierten Prozesse werden daher auch “birth-death”-Prozesse genannt.
Siehe WEIDLICH/HAAG 1983, S. 22ff und HAKEN 1978. Damit wird auch noch einmal klar, daß die Gesamtpopulation der Mikroelemente sehr groß sein muß.
Mit diesen Gleichungen erfolgt also formal eher eine mikroanalytische Ableitung des nichtlinearen Gesamtprozesses auf einer höheren Ebene.
Siehe dazu und zur Äquivalenz der LANGEVIN-Gleichung zur FOKKERPLANCK-Gleichung: WEIDLICH/HAAG 1983, S. 25f, S. 67ff.
Die deterministische Version ist gegeben, wenn die gij identisch 0 sind.
Das heißt, die Gleichung für f könnte als Transferfunktion des Typs f(t)=F(t) gegeben sein, wobei dann F(t)=a exp(-δt) als Teilprozeß eines Obersystems anzusehen ist. Die Input-bzw. Output-Integratoren werden ebenfalls als Identität angenommen.
Siehe Abschnitt 2.2.1. HAKEN drückt diesen Sachverhalt wie folgt aus: “… or, in other words, the time constant to=1/γ inherent in the system must be much shorter than the time constant ť=1/δ in the orders.” (HAKEN 1978, S. 192)
Das bedeutet, daß δ in a/(γ-δ) und exp(-γt) vernachlässigt werden, da sie im Verhältnis zu den anderen Tennen als klein angesehen werden.
Etwaige Integrator-Effekte sind wiederum vernachlässigt.
HAKEN führt auf den Seiten 194f ein Beispiel aus, in dem 4.2.5 ein Gleichung dritten Grades in F ist. Damit ergeben sich bei bestimmten Parameterveränderungen auch Selbstorganisationsphänomene, wie sie in Abschnitt 4.1.1 beschrieben wurden.
Ein zentrales Prinzip der Suche nach Ordnungsparametern in solchen Gleichungssystemen besteht darin, die Variablen danach zu differenzieren, inwieweit ihr Prozeß bei variierender Parameterkonstellation instabil wird. Größen, für die ein instabiles Verhalten festzustellen ist, übernehmen die Funktion des Ordnungsparameters, der den gesamten Prozeß steuert. Das scheint auch plausibel zu sein. Sind alle Einzelprozesse eines Systems stark gedämpft, wird sich eine globale Stationarität einstellen. Die entscheidenden Veränderungen bzw. Wandelprozesse werden daher von solchen Variablen gesteuert, die relativ ungedämpft auf Störungen reagieren und in neue Stationaritäten hineinsteuern oder gar explodieren. Mehrere Ordnungsparameter können koexistieren, sie können kooperieren oder auch konkurrieren, wobei dann wiederum die Relation der Zeitskalen von großer Bedeutung ist. Das führt zu ein-oder mehrdimensionalen Prozeßstrukturen des oder der Ordnungsparameter, von der “multiple-steady-state”-Situation (eindimensional) über Grenzzyklusphänomene (zweidimensional) bis hin zum Chaos (mindestens dreidimensional). Siehe dazu auch WUNDERLIN/HAKEN 1984.
Siehe HAKEN 1978, S. 196ff. HAKEN geht auch auf die Bedeutung von stochastischen Prozessen in diesem Zusammenhang ein: HAKEN 1978, S. 200ff.
Siehe WUNDERLIN/HAKEN 1981 bzw. das “Minimalmodell” bei WUNDERLIN/HAKEN 1984. Siehe auch TROITZSCH 1986, 1987.
Diese Situation könnte als Ergebnis eines “Ausleseprozesses” einer Initiative aus mehreren miteinander konkurrierenden Initiativen gedeutet werden.
Ein wesentlicher Zwischenschritt ist noch die Anwendung der Grenzwertformel für geometrische Reihen zur Umformung des Ausdrucks für P, der nach der Anwendung des adiabatischen Prinzips in Gleichung 4.2.8 eingesetzt wird. Die geometrische Reihe, die ihn ersetzt, wird approximativ nach dem zweiten Glied abgebrochen.
Siehe ALLEN/SANGLIER 1979, 1980; PRIGOGINE 1979. Zu neueren Versionen dieses Modells siehe ALLEN et al. 1986, PUMAIN et al. 1986, CLARKE 1986.
In vielen Bereichen lassen sich Übereinstimmungen mit dem Ansatz der Synergetik feststellen. Auf eine alternative Entwicklung, der besonderen Berücksichtigung der Phänomene lokaler Fluktuationen und der Modellierung von Keimbildungsprozessen, habe ich in Abschnitt 3.23 schon hingewiesen. M.E. wird damit eine über das System der Synergetik hinausgehende “Raffinierung” angeboten, die für die Modellbildung in den Sozialwissenschaften von großer Bedeutung ist. Siehe insbesondere zu einer entsprechenden Argumentation PRIGOGINE 1976, S. 120ff. Auch im hier vorgestellten Beispiel sind Aspekte dieses Konzepts berücksichtigt.
Damit ist eine typische Konstellation in solchen Systemen gekennzeichnet, nach der sich eine positive Rückkopplung (“positive feedback”) mit prozeßdämpfenden Modellelementen (“inhibitor”) verbindet.
Wenn in den Ausführungen von ALLEN und SANGLIER schon explizit Hinweise auf dieses Defizit zu finden sind, so ist doch festzustellen, daß ihre Folgerungen in ihrem konkreten Modell nicht umgesetzt worden sind.
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Huinink, J. (1989). Analyse in Mehrebenensystem-Modellen. In: Mehrebenensystem-Modelle in den Sozialwissenschaften. Deutscher Universitätsverlag. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83848-3_5
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