Zusammenfassung
Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert begannen in den Ländern des Baltikums auch Übersetzungen und Nachdichtungen von weltlichen literarischen Texten, in erster Linie von Liedern und Gedichten, zu erscheinen, während weltliche literarische Prosatexte im allgemeinen in Anlehnung an bestimmte Vorbilder selbständig konzipiert wurden609. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um Lieder deutscher Dichter der Empfindsamkeit oder um Fabeln. Das ist sicher kein Zufall. Solche Lieder entsprachen dem weitgehend vom Pietismus geprägten Geschmack des einfachen Volkes, und da sie meistens auch didaktische Elemente enthielten, fügten sie sich wie die Fabeln in die Tradition der geistlichen didaktischen Literatur ein. Daneben finden sich auch vergnügliche Lieder und Gedichte, die der Unterhaltung dienen sollten. Für andere Texte war offenbar noch kein Leserpublikum vorhanden. Hier machte sich noch in der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Umstand als außerordentlich hemmend bemerkbar, der auch in den vorhergehenden Jahrhunderten bestimmend gewesen war, daß nämlich die an einer höheren Bildung partizipierenden Einheimischen in Estland, Lettland und Preußisch-Litauen germanisiert, in Russisch-Litauen polonisiert waren. Sie konnten direkt Anteil an den neuesten literarischen Richtungen in Deutschland oder Polen und im übrigen Europa nehmen und benötigten weder Übersetzungen noch Nachdichtungen in ihrer Muttersprache. Erst mit dem Aufkommen eines Nationalbewußtseins begannen einige von ihnen, in ihrer Muttersprache zu dichten, und empfanden es als eine Verpflichtung, ihren Landsleuten, die das Deutsche oder Polnische nicht in ausreichendem Maße beherrschten, Meisterwerke anderer Literaturen durch Übersetzungen nahezubringen. Ein größeres Leserpublikum für Dichtungen in den Landessprachen wie für Übersetzungen anspruchsvoller, älterer oder zeitgenössischer europäischer Literatur wuchs erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich heran, als sich ein Nationalbewußtsein und eine weltliche Bildung auch in den mittleren und unteren Schichten der Völker des Baltikums auszubreiten begannen.
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Scholz, F. (1990). Übersetzungen und Nachdichtungen von Texten der europäischen Literatur in den Sprachen des Baltikums. In: Die Literaturen des Baltikums. Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, vol 80. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83713-4_8
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-83713-4_8
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-05097-3
Online ISBN: 978-3-322-83713-4
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