Zusammenfassung
Modelle lassen sich nicht durch Erfahrung widerlegen, sondern nur durch andere Modelle. Wenn diese zentrale wissenschaftshistorische Aussage von T. S. Kuhn1 zutrifft, hat dies Konsequenzen für unser Thema. Denn das Verhältnis von Staat und Wirtschaft und seine rechtsförmliche Ausgestaltung wird in den entwickelten Kapitalismen des Westens bis auf den heutigen Tag in kognitiven oder normativen Modellen (Stichwort: Wirtschaftsverfassung2) thematisiert. Eine kritische Stellungnahme zu diesem Thema hat daher drei Möglichkeiten: (1) Im Rahmen der heute vorherrschenden Modell-Orthodoxien — das heißt juristisch das Neu-Ordoliberalismus (Mestmäcker3) oder des Modells der mixed economy4, ökonomisch des Neo-Neoliberalismus (v. Hayek, Hoppmann, Chicago-School, Mont Pélerin Society5 oder der Neo-Neoklassik6 — zu argumentieren; (2) ein alternatives Modell zu entwickeln, das beansprucht, die behaupteten Defizite der anderen zu lösen; (3) (in der Hoffnung, daß Kuhn sich irrt) auf modelltheoretische Konzeptualisierungen überhaupt zu verzichten (so wohl insbes. der systemtheoretische Ansatz der funktionalen Differenzierung7).
Der provokativ-umfertige Charakter dieses Diskussionsbeitrages wurde bewußt nicht verändert. Die Alternative hierzu wäre ein Handbuch über Organisationsverfassung, das derzeit (noch?) nicht formulierbar ist.
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Anmerkungen
Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1973, insbes. S. 128 ff.
Wirtschaftsverfassung kann wie folgt definiert werden: 1. als Summe der Verfassungsrechtssätze über die Ordnung der Wirtschaft, 2. als Summe sämtlicher verfassungs-und positivrechtlichen Regelungen des Bereiches der Wirtschaft; 3. als ein (nicht-juristisches) normatives Ordnungsmodell der Wirtschaft, das bei vorausgesetztem staatlichen Interventionsbedarf immer als gesamtgesellschaftliches, intersystemales (Staat und Wirtschaft umfassendes) Ordnungsmodell auftreten muß. In diesem Sinn ist hier von Wirtschaftsverfassung/Organisationsverfassung bzw. (normativer) Verfassungstheorie des Sozialstaates die Rede. Zum Wirtschaftsverfassungsbegriff in der juristischen Diskussion vgl. statt vieler Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 2. unveränd. Auflage, Berlin 1969, S. 96.; die Diskussion in den 50er Jahren (L. Raiser, Huber, Nipperdey, Ballerstedt) und als jüngere kontroverse Stellungnahmen Mestmäcker, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, in: FS F. Böhm, Tübingen 1975, S. 383 ff. und Wiethölter, Thesen zum Wirtschaftsverfassungsrecht, in: P. Römer (Hrsg.), Der Kampf um das Grundgesetz, Frankfurt/M. 1977, S. 158 ff.
Vgl. dessen Sammelband, Recht und ökonomisches Gesetz’. Über die Grenzen von Staat, Gesellschaft und Privatautonomie, Baden-Baden 1978.
Vgl. dazu jetzt Assmann, Wirtschaftsrecht in der Mixed Economy, Königstein 1980, m. w. Nachw.
Vgl. dazu R. Blum, Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik zwischen Neoliberalismus und Ordoliberalismus, Tübingen 1969; J. Gotthold, Neuere Entwicklungen der Wettbewerbstheorie. Kritische Bemerkungen zur neo-liberalen Theorie der Wettbewerbspolitik ZHR 145 (1981), Heft 4.
Neuformierung der neoklassischen Ökonomie in den 50er Jahren in Reaktion auf die „Keynesianische Botschaft’; vgl. dazu W. Hofmann, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Sozialökonomische Studientexte Bd. 3, Berlin 1966, S. 147 ff. und die einschlägigen Lehrbücher der Nationalökonomie.
Vgl. dazu die Arbeiten von Luhmann, insbes. Rechtssoziologie, 2 Bde., Reinbek 1972; weiter Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, Tübingen 1978; Willke, Die Steuerungsfunktion des Staates in hochkomplexen Gesellschaften (noch unveröff. Kölner sozialwiss. Habil.Schrift).
Vgl. Einleitung, in: Entwicklung des Rechts im organisierten Kapitalismus, Frankfurt/M. 1977, S. 17 ff.; Probleme einer Theorie des Wirtschaftsrechts, in: Assmann u. a. Wirtschaftsrecht als Kritik des Privatrechts, Königstein 1980, S. 9 ff., Privatrechtstheorie als Aufgabe, ARSP 1978, S. 87 ff.
H. J. S. Maine, Ancient Law, London 1861.
Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, A 233, 234. Vgl. auch die berühmte Definition in der Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, A 33/B 33, 34.
Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936. Als Überblick über den aktuellen Stand der Keynes-Diskussion vgl. Bombach (Hrsg.), Der Keynesianismus, 2 Bde., Berlin/New York 1976.
Zur entsprechenden Entwicklung im Staats-und Verwaltungsrecht vgl. Ladeur, Vom Gesetzesvollzug zur strategischen Rechtsfortbildung, Leviathan 1979, 339 ff.
Vgl. dazu Brüggemeier, Probleme einer Theorie des Wirtschaftsrechts, 1. c. m. w. Nachw.; Eike Schmidt JZ 1980, 153 ff.; Teubner, in: AK-BGB Bd. 2, Neuwied 1980, § 242 Rz. 19: Materialisierung oder Vergesellschaftung des Vertragsrechts „heißt, die Abhängigkeit vertraglicher Erwartungsstrukturen von vielfältigen nicht-konsensualen Steuerungsmechanismen, …, sichtbar zu machen und diese vertragsintern zu koordinieren.“
Herbert Baum, Staatlich administrierte Preise als Mittel der Wirtschaftspoltik, Baden-Baden 1980.
Grundlegend Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag, Jena 1920 und zuletzt Bydlinski und Kilian AcP 180 (1980) 1 ff/47 ff.
Zur Diskussion um das Sonderprivatrecht vgl. insbes. Westermann, Lieb und Mertens AcP 178 (1978), S. 150–262. Übrigens ein Phänomen, das das realitätsferne BGB von Anfang an begleitet hat. Vgl. schon O. v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Berlin 1889, S. 15 ff.; und den Überblick bei Krücke, Privatrechliche Nebengesetze im Dt. Reich, Berlin 1922.
Eine Darstellung der aktuellen Bemühungen im BMJ um die Repositivierung des Schuldrechts gibt Wolf, ZRP 1978, 249 ff.
Canaris 1965, 475; Teubner AK-BGB Bd. 2, Neuwied 1980, § 242 Rz 55f.
Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag. Zur Haftung aus geschäftsbezogenem Handeln (noch unveröffn. Tüb. Habil. Schrift).
Larenz, Zur Bedeutung des „Wertersatzes“ im Bereicherungsrecht, in; FS v. Caemmerer, Tübingen 1978, S. 21 ff., König, Gewinnhaftung, ebendort, S. 179 ff.; Brandner, Die Herausgabe von Verletzervorteilen im Patentrecht und im Recht gegen unlauteren Wettbewerb, GRUR 1980, S. 359.
NJW 1974, 1503.
Rödig, Erfüllung des Tatbestandes des § 823 Abs. 1 BGB durch Schutzgesetzverstoß, Bielefeld 1973; Schmiedel, Deliktsobligationen nach deutschem Kartellrecht, Teil 1: Zivilrechtsdogmatische Grundlegung: Untersuchungen zu § 823 Abs. 2 BGB, Tübingen 1974; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht — Kartellverwaltungsrecht — Bürgerliches Recht, Köln/ Berlin etc. 1977; Mertens, Deliktsrecht und Sonderprivatrecht, AcP 178 (1978), 227; v. Bar Verkehrspflichten, Köln/Berlin etc. 1980.
Brüggemeier, Probleme einer Theorie des Wirtschaftsrechts, a. a. O. S. 71 ff.
L. Raiser, Rechtsschutz und Institutionenschutz im Privatrecht, in: Summumius — summa iniuria, Tübingen 1963, S. 145 ff.; Buxbaum, die private Klage als Mittel zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Rechtsnormen, Karlsruhe 1972.
Mertens AcP 178 (1978), S. 231 ff.
Wiethölter, Entwicklung des Rechtsbegriffs (in diesem Band). Joerges, Recht des Verbraucherschutzes oder Recht des Verbrauchers Heidelberg 1981 Beiheft 51 zur ZHR). Willke, Die Steuerungsfunktion, a. a. O., S. 59 ff.
Der späte Kommentar eines Neo-Klassikers zu dem Ordo-Liberalen Eucken: „ein Mann, der tatsächlich annahm, die Wirtschaftspolitik sei in der Lage, vollständige Konkurrenz, eine abstrakte Moedellvorstellung der Theoretiker, zu verwirklichen und sie sei zu dieser Unmöglichkeit auch noch moralisch verpflichtet.“ Streißler, Macht und Freiheit in der Sicht des Liberalismus, in: Macht und ökonomisches Gesetz, SchVfSocP Bd. 74/II, Berlin 1973, S. 1424.
BT-Drs. 8/4404 vom 17.7.1980. Die Monopolkommission wird bestimmt durch die neuordo-liberale Wirtschaftsrechtstheorie der Mestmäcker-Schule (Immenga) und die funktionalistische ökonomische Wettbewerbstheorie (Kantzenbach).
La société post-industrielle, Paris 1969; dt. Frankfurt/M. 1972, S. 91.
Batore, The Anatomy of Market Failure, 72 QJE (1958), 331; Musgrave, The Theory of Public Finance, New York 1959 (dt.: Finanztheorie, Tübingen 1966); Baumol, Welfare Economics and the Theory of the State, 2nd ed. London 1965; Buchanan, The Demand and Supply of Public Goods, Chicago 1968; Müller/Vogelsang, Staatliche Regulierung, Baden-Baden 1979. Zu den „Legal Consequences of State Regulation“ vgl. den gleichnamigen Bericht von Steindorff, in: International Encyclopedia of Comperative Law, vol. XVII: State and Economy, Chapter 11, Tübingen/Alpen a.d. Rijn 1979.
Vgl. dazu Scharpf, Die Rolle des Staates im westlichen Wirtschaftssystem: Zwischen Krise und Neuorientierung, in: Staat und Wirtschaft, SchVfSocP, Bd. 102 Berlin 1979, S. 15 ff.; Lehner, Die Grenzen des Regierens, Königstein 1979 jew. m. w. Nachw.
Scharpf, I.c. S. 16.
Wie sie sich heute in der BRD präsentiert insbes. in dem sog. Regensburger „Arbeitskreis Politische Ökonomie“ um W. Vogt und in der Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“ (sog. Memorandum-Gruppe). Vgl. J. Frank, Kritische ökonomische Krisentendenzen im gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/Main 1978; Zinn, Der Niedergang des Profits, Köln 1978; Memorandum V: Gegen konservative Formierung — Alternativen der Wirtschaftspolitik, Köln 1980; Alternative Wirtschaftspolitik 1/2, Argument Sonderbände 35/52, Berlin 1979/1980.
Insbes. Müller u. a., 1. c, S. 114-192.
Geipel/ Schneider/ Vogt, Möglichkeiten systemimmanenter Krisenüberweindung, in: Alternative Wirtschaftspolitik, AS 35, Berlin 1979, S. 86/87.
Huffschmid, Möglichkeiten systemimmanenter Krisenüberwindung? in: Alternative Wirtschaftspolitik, AS 35, S. 93; vgl. auch Memorandum ′80, 1. c. S. 272 ff.
Seharpf, Die Rolle des Staates, 1. c.
Ders., Krisenpolitik, in: Thema: Wirtschaftspolitik. Materialien zum Orientierungsrahmen 1985, Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 11 ff.; ders./Hauff, Modernisierung der Volkswirtschaft, Köln 1977.
S. 26.— Alle Skepsis hindert ihn jedoch nicht, möglicherweise irreale Forderungen zu erheben, wie z.B. die nach einer „(normativen) Theorie der Wirtschaftspolitik unter realistischen Bedingungen“ (S. 22). Hält man den Vogt’schen Ansatz einer Theorie der Instabilität des kapitalistischen Akkumulationsprozesses nicht für a priori unzutreffend, ist eine derartige Forderung gerade nicht ein lösbar.
S. 27 ff. Dabei stützt er sich auf die Ergebnisse der amerikanischen Organisationssoziologie (H. Simon), Managementtheorie der Firma (R. M. Cyert, I. G. March) und schwedischen Organisationspsychologie (Lundin u. a.).
S. 39
S. 38
Neben den ‚Klassikern ‘Parsons, Etzioni und Luhmann vgl. insbes. Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, Tübingen 1978.
Die Steuerungsfunktion des Staates, a.a. O., S. 59-105.
Reform der Unternehmensverfassung, Köln etc. 1978. Vgl. auch Backhaus, Ökonomie der partizipativen Unternehmung, Bd. I Tübingen 1979 und aus der älteren Literatur den sog. Sechser-Bericht: Boettcher/Hax/Kunze/v. Nell-Breuning/Ortlieb/Preller, Unternehmensverfassung als gesellschaftspolitische Forderung, Berlin 1968.
Zum Unternehmensinteresse vgl. Brinkmann (in diesem Band.).
Reform der Unternehmensverfassung, S. 79.
JZ 1980, 153, 157 ff. („Binaritätsabbau und Kooperation“).
AK-BGB Bd. 2, Neuwied 1980, § 242 Rz. 4 ff.
Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, Neuwied 1978.
Bender/ Belz/ Wax, Das Verfahren nach der Vereinfachungsnovelle und vor dem Familiengericht, München 1977.
Insbes. der Ansatz von A. O. Hirschmann (Exit, Voice and Loyalty, Cambridge/Mass. 1970; dt.: Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1974), neben Abwanderung (exit) zunehmend Widersprach (Voice) als soziales Handlungsmuster einzubürgern. Widerspruch ist umso effizienter, je institutionell verfestigter der Handlungszusammenhang der Beteiligten ist.
Zu möglichen Schranken dieses Ansatzes aus ökonomischer Sicht vgl. K. Arrow, The Limits of Organization, 1974 (dt. Wo Organisation endet, Wiesbaden 1980).
Vgl. dazu Eichhorn, Gesellschaftsbezogene Unternehmensrechnung, Göttingen 1974 (Bd. 30 der Schriften der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel).
„Die ersten Versionen der meisten neuen Paradigmata sind roh“. Kuhn, 1. c, S. 205.
Zu den unterschiedlichen Versuchen Rechtstheorie als Gesellschaftstheorie zu begründen vgl. etwa Wiethölter, Privatrecht als Gesellschaftstheorie, in: FS L. Raiser, Tübingen 1974, S. 645 ff.; Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems, Rechtstheorie 1969, 159 ff.
I.S eines unerreichbaren Ideals als Vergleichsmaßstab (z.B. vollständige Konkurrenz in der neoklassischen Preistheorie), Demsetz, 12 Journ. Law & Econ 1 (1969).
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Brüggemeier, G. (1982). „Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung“ — „Mischverfassung des demokratischen Interventionskapitalismus“ — „Verfassungstheorie des Sozialstaates“. Drei Modelle der Verflechtung von Staat und Wirtschaft? — Eine Problemskizze. In: Gessner, V., Winter, G. (eds) Rechtsformen der Verflechtung von Staat und Wirtschaft. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, vol 8. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83661-8_3
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