Zusammenfassung
Einleitungen zu Aufsatzsammlungen pflegen einem bestimmten Ritual zu frönen: Es wird festgestellt, daß das in dem betreffenden Sammelband diskutierte Thema in der fachwissenschaftlichen Diskussion bisher weitgehend übersehen wurde, nicht genügend gewürdigt wird und bisher höchstens rudimentär, unzusammenhängend, konzeptionslos etc. abgehandelt wurde. Recht gut macht sich hierbei besonders der Hinweis auf bislang fehlende Berücksichtigung in Lexika und Handbüchern. Auch für den vorliegenden Band böte sich eine solche Einleitung sicherlich anl. Wenn dies allerdings letztlich unterbleibt, so geschieht dies vor allem, weil der solchen Einführungsritualen zugrundliegende Anspruch, nämlich mit der eigenen Publikation die fragliche oder nur vorgegebene Lücke geschlossen zu haben, hier nicht eingelöst werden kann. Dies hängt zunächst einmal damit zusammen, daß der inhaltliche und theoretische Stellenwert einer Soziologie des Alltags bislang weitgehend ungeklärt ist2. Soziologie des Alltags mag nämlich bedeuten, soziologische Kategoriensysteme, die in der Regel auf den Bezugshintergrund von formalisierten und institutionell verfestigten Sozialgebilden projiziert sind, auch auf sogenannte nicht-definierte Situationen zu übertragen bzw. anzuwenden. Damit wird versucht, die in soziologischen Kategoriensystemen unterstellte Strukturiertheit und Regelhaftigkeit auch für diese Bereiche aufzuzeigen3 oder aber den Allgemeinheitsanspruch der jeweiligen soziologischen Theoriekonzeption nachhaltig zu untermauern4.
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Anmerkungen
Als charakteristisch für diese Vorgehensweise sind vor allem die Arbeiten von Erving Goffman anzusehen. Vgl. vor allem Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969 (Original zuerst: 1959); derselbe, Interaktionsrituale. Ober Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt/M. 1971 (Original zuerst: 1967); derselbe, Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum, Gütersloh 1971 (Original zuerst: 1963); derselbe,Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt/M. 1974 (Original zuerst: 1974); derselbe, Rahmen-Analyse, a.a.O.
Vgl. hierzu beispielsweise die Ausführungen zur „Interpretation von Alltagsvorgängen“, in: Peter Stromberger und Will Teichert, Einführung in soziologisches Denken, Weinheim — Basel 1978, S. 79 ff.
Vgl. hierzu trotz der ansonsten recht häufig utraquistischen Verwendung des Alltagsbegriffs vor allem Thomas Leithäuser, Vorbemerkung, in: Thomas Leithäuser, Birgit Volmberg, Gunter Salje, Ute Volmberg und Bernhard Wutka, Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewußtseins, Frankfurt/ M. 1977, S. 7.
Vgl. hierzu — wenn auch mit gewissen Einschränkungen — Erwin K. Scheuch, Die Sichtbarkeit politischer Einstellungen im alltäglichen Verhalten, in: Erwin K. Scheuch und Rudolf Wildenmann (Hrsg.), Zur Soziologie der Wahl. Sonderheft 9 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln — Opladen 1965, S. 169–214; Felizitas Lenz-Romeiß, Freizeit und Alltag. Probleme der zunehmenden Freizeit, Göttingen 1974 bzw. Henri Lefebvre, Das Alltagsleben in der modernen Welt, Frankfurt/M. 1972 (Original zuerst: 1968), S. 94 ff.
Vgl. vor allem Max Weber, Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft, in: derselbe, Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart 19735, S. 151 ff.; derselbe, Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: derselbe, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 19635, S. 250ff.; derselbe, Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltanschauung, in: derselbe,Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, a.a.O., S. 556 ff.
Vgl. z. B. Jürgen Reulecke und Wollhard Weber, Vorwort, in: dieselben (Hrsg.), Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978, S. 7.
Vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Vorbemerkung, in: dieselben (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1, Reinbek 1973, S. 9 f.; vgl. in diesem Zusammenhang aber auch Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Bd. 1 und Bd. 2, Den Haag 1971 und 1972; Alfred Schütz und Thomas Guckmann, Strukturen der Lebenswelt, Darmstadt 1975; John O’Neill, Vom Wechselbezug zwischen alltäglicher und wissenschaftlicher Erklärung, in: Bernhard Waldenfels, Jan M. Brockman und Ante Parianin (Hrsg.), Phänomenologie und Marxismus, Bd. 3; Sozialphilosophie, Frankfurt/M. 1978, S. 45. Allerdings findet sich auch ein Verständnis von Alltag in der Konnotation von Alltagsbewußtsein als Bewußtseinsmodus, in den die „Bewußtlosigkeit von den gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Entstehungsgeschichte` zum Ausdruck kommen soll. Thomas Leithäuser, Formen des Alltagsbewußtseins, Frankfurt/hi. — New York 1976, S. 11; hierauf spielt offensichtlich auch Johann August Schülein an: Johann August Schülein, Selbstbetroffenheit. Ober Aneignung und Vermittlung sozialwissenschaftlicher Kompetenz, Frankfurt/M. 1977, S. 225.
Vgl. u.a. Jack D. Douglas, Understanding Everyday Life, in: derselbe (Hrsg.), Understanding Everyday Life. Toward the Reconstruction of Sociological Knowledge, London 1971, S. 3–44. Don H. Zimmerman und Melvin Pollner, The Everyday World as a Phenomenon, in: Jack D. Douglas (Hrsg.), Understanding Everyday Life, a.a.O., S. 80–103 (deutsch in: Elmar Weingarten, Fritz Sack und Jim Schenkein (Hrsg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt/M. 1976, S. 64–104).
Hans Joas, Einleitung, in: Agnes Heller, Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion, Frankfurt/M. 1978 (Original zuerst: 1970).
Vgl. in diesem Zusammenhang u. a. auch Karl Markus Michel, Unser Alltag: Nachruf zu Lebzeiten, in: Kursbuch 48, S. 1–40; Rainer Paris, Befreiung vom Alltag, in: Kursbuch 48, 1975, S. 107114. Als gegenläufige Tendenz zu einem mehrdeutigen Alltagsbegriff ist freilich auch eine Renaissance des Begriffsrealismus anzutreffen. Dies macht Analysen von Alltagsphänomenen recht problematisch, weil ihre Bezugsstrukturen dabei nur allzu leicht übersehen werden.
Marcello Truzzi (Hrsg.), Sociology and Everyday Life, Englewood Cliffs/N.J. 1968.
Billy J. Franklin und Frank J. Kohout (Hrsg.), Social Psychology and Everyday Life, New York 1973.
Heinz Steinert (Hrsg.), Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven Soziologie, Stuttgart 1973.
Vgl. vor allem Peter L. Berger, Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, Olten-Freiburg i. B. 1969 (Original zuerst: 1963); Peter L. Berger und Brigitte Berger, Individuum & Co. Soziologie beginnt beim Nachbarn, Stuttgart 1974 (Original zuerst: 1972); weit weniger geeignet ist dagegen Peter L. Berger und Thomas Luckman, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969 (Original zuerst: 1966).
Vgl. Jack D. Douglas, The Social Meanings of Suicide, Prinçeton/N. J. 1967. Zur Ethik und Erkenntnislehre (Gesammelte Schriften, Bd. 10), Bern 1957, S. 348 f.
Der von Walter L. Bühl gewählte Ausdruck „Ekstase“ erscheint uns zu punktuell konzipiert: Walter L. Bühl, Max Scheler, in: Dirk Käsler (Hrsg), Klassiker soziologischen Denkens, Bd. 2. Von Weber bis Mannheim, München 1978, S. 206; zu dieser Thematik vgl. auch Philip H. Ennis, Ecstasy and Everyday Life, in: Journal for the Scientific Study of Religion, 6, 1967, S. 40–48.
Vgl. Anmerkung 7. Aber auch auf Vorstellungen ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen, die im Alltag gewissermaßen den Bereich sehen, wo sich außerordentliche „psychische Strukturmomente“ pathologisch offenbaren; vgl. Sigmund Freud, zur Psychopathologie des Alltagslebens (Gesammelte Werke, Bd. 4), Frankfurt/M. 19736.
Vgl. hierzu auch Friedrich H. Tenbruck,Das Werk Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 27. 1975, S. 663–702.
Dirk Käsler, Revolution und Veralltäglichung. Eine Theorie postrevolutionärer Prozesse, München 1977, S. 197.
Vgl. Anmerkung 9; vgl. weiterhin Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/M. 1974 (Neuausgabe); Walter M. Sprondel (Hrsg.), Alfred Schütz — Talcott Parsons. Zur Theorie sozialen Handelns. Ein Briefwechsel, Frankfurt/M. 1977.
Georg Lukdcs, Die Eigenart des Ästhetischen, 1. Halbband (Werke, Bd. 11), Neuwied — Darmstadt 1963, S. 33 ff.; vgl. aber auch derselbe,“Klassenbewußtsein und Geschichte (Werke, Bd. 2), Neuwied — Berlin 1968, S. 349 ff.
Agnes Heller, Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion, a.a.0.; vgl. auch dieselbe, Alltag und Geschichte. Zur sozialistischen Gesellschaftslehre, Neuwied — Berlin 1970.
Henri Lefebvre, Das Alltagsleben in der modernen Welt, a. a.0.; derselbe, Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., München 1974 (Original zuerst: 1947 ff.).
Weit formaler faßt dagegen Karel Kosik Alltag im Sinne von Alltäglichkeit, nämlich als Strukturierungsprinzip individueller Lebensabläufe; vgl. Karel Kosik, Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, Frankfurt/M. 1967, S. 71.
Chris Argyris, The Incompleteness of Social-psychological Theory: Examples from Small Group, Cognitive Consistency, and Attribution Research, in: American Psychologist, 24, 1969, S. 893–908.
Dieses Problem wird in Ansätzen im Verhältnis der Regulationsebenen „Einstellungen“ und „Verhalten” aufgearbeitet: vgl. Hans Benninghaus, Ergebnisse und Perspektiven der EinstellungsVerhaltens-Forschung, Meisenheim am Glan 1976, und Werner Meinefeld, Einstellung und soziales Handeln, Reinbek 1977.
Ein schönes Beispiel hierfür ist das ansonsten vorzügliche Werk von Klaus Antons und Wolfgang Schulz, Normales Trinken und Suchtentwicklung, 2 Bde., Göttingen u.a. 1976: Im Bereich des „normalen“ sozialen Trinkens wird explorativ, im Bereich des „pathologischen” Alkoholismus hingegen hypothesentestend vorgegangen.
Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Theodor W. Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1972, S. 108.
Ein aktuelles Beispiel hierfür wäre das Phänomen des Terrorismus.
Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M. 1974, S. 465.
Vgl. in diesem Zusammenhang auch John O’Neil, Making Sense Together. An Introduction to Wild Sociology, New York — London 1975.
Vgl. Carin Liesenhoff, Fontane und das literarische Leben seiner Zeit, Bonn 1976, S. 28 f. Das Buch selbst stellt ein vorzügliches Beispiel für die Realisierung dieses Anspruchs dar.
Jan Szczepariski, Die biographische Methode, in: René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 4, Stuttgart 19743, S. 234.
Vgl. hierzu u. a.: Franco Ferrarotti, Sur l’Autonomie de la Méthode Biographique, Manuskript zum 9. Weltkongreß für Soziologie, Uppsala 1978; Martin Kohl, Biographical Method — Methodological Biography? Manuskript zum 9. Weltkongreß für Soziologie, Uppsala 1978; derselbe (Hrsg.), Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt 1978, darin besonders: Erwartungen an eine Soziologie des Lebenslaufs, S. 9–31.
Vgl. hierzu auch Michael Y. Bodemann, Überlegungen zu praxisbezogener Soziologie am Beispiel der teilnehmenden Beobachtung, in: Bernhard Badura (Hrsg.), Seminar: Angewandte Sozialforschung. Studien über Voraussetzungen und Bedingungen der Produktion, Diffusion und Verwertung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt/M. 1976, S. 135–150.
Herbert Blumer, Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1, a.a.O., S. 80–146.
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Hammerich, K., Klein, M. (1978). Alltag und Soziologie. In: Hammerich, K., Klein, M. (eds) Materialien zur Soziologie des Alltags. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83603-8_1
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