Zusammenfassung
Als die Ausläufer der Julirevolution Ende August Aachen erreichten, trafen sie Behörden und Bürgerschaft unvorbereitet. An Unruhen jenseits der Grenze hatte man sich gewöhnen müssen, »wer aber sollte denken, daß in der Stadt Aachen, wo doch bis jetzt nicht die geringste Gärung herrschte, ein Aufstand sich bilden sollte! und doch«, notierte der erschreckte Korrespondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung auf dem Höhepunkt der Ereignisse am Nachmittag des 30. August, »und doch ist es so! In diesem Augenblick ziehen betrunkene Fabrikarbeiter nach dem Gefangenenhause, um da die Sträflinge zu befreien und, alle menschlichen Gesetze mit Füßen tretend, durch Brand, Raub und Mord unsägliches Unheil zu stiften. Zwei bedeutende Fabrikwerke sind zerstört, die Polizei ist mißhandelt, die Gendarmen sind entwaffnet worden, und von den Behörden kann augenblicklich kein Widerstand geleistet werden. Sollte aber bei dem Gefangenenhause keine kräftige Gegenwehr stattfinden, so gibt es für Aachen wahrscheinlich eine schreckliche Nacht«1.
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Anmerkungen
Augsburger Allgemeine Zeitung Nr. 250 vom 7. Sept. 1830, S. 999.
Tagesbefehl des kommandierenden Generals der Rheinprovinz, a.a.O., Nr. 251 vom 8. Sept. 1830, S. 1003.
Von Kamptz i. V. des Justizministers an Oberpräsident der Rheinprovinz, 4. Sept. 1830, Staatsarchiv Koblenz, Abt. 403 Nr. 2436 Bl. 17–22.
Die Aachener Aufrührer, ihre Verbrechen und deren Bestrafung, Köln 1831 und, ausführlicher: Darstellung der Verhandlungen vor den Assisen zu Köln über die Teilnehmer an dem am 30. August 1830 in Aachen stattgehabten Aufruhr, nebst Schlußbemerkungen von J(akob) Venedey, Köln 1831. Dieser Prozeßbericht, im folgenden als »Venedey« zitiert, ist eine Hauptquelle dieser Studie. Daneben sind die Akten des Oberpräsidiums der Rheinprovinz, der Regierung Aachen und der Stadtverwaltung Aachen ausgewertet worden.
Walter L. Bühl, Entwicklungslinien der Konfliktsoziologie, in: ders., Hrsg., Konflikt und Konfliktstrategie. Ansätze zu einer soziologischen Konflikttheorie. München 1972, S. 10.
Richard Tilly, Popular Disorders in Nineteenth-Century Germany. A Preliminary Survey, in: Journal of Social History 4 (1970), S. 2.
Bericht der Regierung Aachen an das Oberpräsidium der Rheinprovinz vom 25. 10. 1830 betr. Sicherstellung der Fabrikarbeiter gegen willkürliche Behandlung seitens der Fabrikinhaber. Staatsarchiv Düsseldorf Rep. Reg. Aachen Nr. 1625 Bl. 7–9.
Venedey, a.a.O., S. 119.
Ebd. u. S. 54, 56.
Ebd. S. 64.
Ebd. S. 14 u. 78.
Verurteilte: Venedey S. 3 ff., 211 f. Verdächtigte: Verhaftetenliste vom 6. Sept. 1830, Staatsarchiv Düsseldorf, Rep. Regierung Aachen Nr. 204 Bl. 157–160. Die Liste enthält 166 Namen. Davon sind 53 von später Verurteilten bereits in Spalte 1 enthalten. Hinzu kommen die Angaben über 20 Personen, die angeklagt, aber nicht verurteilt worden sind. Das ergibt die Gesamtzahl von 133 in Spalte 2.
Da nicht geprüft werden kann, ob es sich beim jeweils angegebenen — das ist im allgemeinen der erlernte Beruf — auch um den ausgeübten Beruf handelt, wird Identität angenommen. Für die Mehrheit wird das schon wegen ihrer Jugend zutreffen. Aber auch einzelne Abweichungen würden nur die im Folgenden zu entwickelnde These bekräftigen, daß es sich bei den Schwerpunktberufen der Verurteilten um gefährdete Berufe handelte.
Aufschlußreich für den Hintergrund der Verhaftungen ist folgende Zeugenaussage: »Die ganze Nacht führte Zeuge eine Abteilung der Bürger, mit welchen er in den verdächtigen Stadtteilen die Durchsuchung der Häuser, die Beschlagnahme der geraubten Sachen und die Verhaftung der Verdächtigen bewirkte.« (Venedey S. 135). Verdächtig scheinen vor allem die Altstadtstraßen gewesen zu sein. Um diese Zeit war die topographische Trennung von Arm und Reich bereits soweit fortgeschritten, daß ein Aachener Arzt den Zusammenhang zwischen den Wohnvierteln der Armen und der innerstädtischen Verbreitung der Choleraepidemie von 1832 feststellen konnte: »Wer das Elend der Armen einer Fabrikstadt kennt, wird sich darüber nicht wundern.« Die Cholera-Epidemie in Aachen, beschrieben von Dr. Härtung, Aachen und Leipzig 1833, S. 3, 13 ff.
Staatsarchiv Düsseldorf, Rep. Regierung Aachen Nr. 539, 540. Der Tabelle liegt ein einfaches Drei-Schichten-Modell einer städtischen Gesellschaft zugrunde. Der Beruf als allein verfügbare schichtungsrelevante Angabe mit Hinweisen auf die Schichtkriterien Ausbildung und Einkommen läßt keine differenziertere Aufgliederung zu. Auch so bleibt die Zuordnung schwierig genug. Relativ leicht ist sie bei staatlichen und städtischen Diensten wegen des hierarchischen Verwaltungsaufbaus und der spezifischen Dienstbezeichnungen, die eine genaue Lokalisierung innerhalb der Hierarchie erlauben. Städtische Honoratioren (Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte usw.) und Fabrikanten wurden der Oberschicht zugewiesen. Schwieriger war die Aufgliederung der Kaufleute und Handwerker. Als Kaufmann konnte sich ebenso der wohlhabende Unterneh-mer wie der proletaroide Krämer bezeichnen. Das Handwerk reichte vom gehobenen Mittelstand bis in die unterbürgerlichen Schichten. Mit Hilfe des Aachener Adressbuchs von 1831 (Verzeichnis aller im Regierungsbezirk Aachen wohnenden Kaufleute, Beamten und Geistlichen, hrsg. v. M. Urlichs, 1. Jahrgang Aachen 1831) und der Gewerbesteuerliste für 1830 (Stadtarchiv Aachen Caps. 111 1 II, 2 III, 9 II) war immerhin für über 50 Prozent beider Gruppen eine Zuweisung zur Ober-oder Mittelschicht möglich. Für den verbleibenden Rest, der weder im Adreßbuch geführt wurde noch Gewerbesteuer zahlte, ist ein nennenswerter Anteil von Oberschichtangehörigen wohl auszuschließen. Die Zuweisung zur Unterschicht liegt nahe, ist aber nicht zweifelsfrei möglich. Zur Gruppe der Dienstboten und Unterschichtberufe gehören 2 Lohnbedienstete, 2 Kutscher, ein Lohnwächter und ein Karrenbinder. Von den übrigen Berufen zählen ein adeliger Rentner und ein ebenfalls adeliger Gutsbesitzer zur Oberschicht, 2 Geometer, 2 Privatlehrer und je ein Sprachlehrer, Kapellmeister, Privatsekretär, Student, Gymnasiast, Baueleve und Privatmann nach Beruf oder Familie, ein Gastwirt nach der Höhe der Gewerbesteuer zum Mittelstand. 4 Musikanten, ein Theatersouffleur, ein Kellner, ein Fuhrmann und ein Schreiber wurden der Unterschicht zugewiesen. In der letzten Gruppe — ohne Berufsangabe — konnte für zwei Personen die Zuordnung zur Oberschicht aus der Familienzugehörigkeit erschlossen werden.
Nach einer Zählung des Landratsamtes beschäftigten sie 1831 2549 Menschen. 2273 arbeiteten im Tuchgewerbe, 276 in der Nadelindustrie. Unter Einschluß der Familienangehörigen (8544 bzw. 1190) lebten 12 283 Einwohner, d. h. ein Drittel der Aachener Stadtbevökerung vom Textil-oder Nadelgewerbe. Staatsarchiv Düsseldorf Rep. Regierung Aachen Nr. 1570, Bl. 43–45.
Auch architektonisch haben die führenden Aachener Textilunternehmen dieser Zeit bereits industriellen Zuschnitt. Vgl. die Abbildungen der Tuchfabriken von Kelleter, Neilessen und v. Zülphen bei Martin Schumacher, Zweckbau und Industrieschloß. Fabrikbauten der rheinischwestfälischen Textilindustrie vor der Gründerzeit in: Tradition 15 (1970), nach S. 16.
Staatsarchiv Düsseldorf, Rep. Regierung Aachen Nr. 1568 Vol. II, Bl. 32–34.
Zur Entwicklung der Löhne vgl. Walter Corsten, Die Aachener Wirtschaft im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Von der französischen zur preußischen Herrschaft. Wiso. Diss. Köln 1925 (masch.), S. 230 f.
Noch 100 Jahre später hatte sich an dieser Struktur wenig geändert. Nach einer Erhebung von 1927 beschäftigten 24 Prozent aller Aachener Textilbetriebe bis zu fünf, 56 Prozent weniger als 50 Arbeiter. Gertrud Startz, Die Arbeiterschaft der Aachener Textilindustrie. Eine Untersuchung der geschichtlichen und örtlichen Besonderheiten der Aachener Textilarbeiterschaft und ihrer Arbeitsbedingungen in der modernen Wirtschaftsordnung, Berlin 1930, S. 16 f.
Ebd., S. 14 f.8
Quelle: Gewerbetabellen des Regierungsbezirks Aachen, Staatsarchiv Düsseldorf, Rep. Regierung Aachen Nr. 365, 366.
Regierungspräsident von Aachen an Ministerium des Innern und der Polizei, 3. Sept. 1831, Staatsarchiv Düsseldorf, Rep. Regierung Aachen Präs. Nr. 538 Bl. 286 ff.
Ebd.
Es ist das Verdienst Eric J. Hobsbawms, den rationalen Kern des Luddismus erkannt zu haben. S. seinen Aufsatz The machine breakers, ursprünglich erschienen 1952, wieder abgedruckt in: ders., Labouring Men. Studies in the History of Labour, London 1964, S. 7 ff.
Ein Entwurf findet sich bei den Akten. Staatsarchiv Düsseldorf Rep. Regierung Aachen, Nr. 1625 Bl. 5 f.
Vgl. Heinrich Volkmann, Die Arbeiterfrage im preußischen Abgeordnetenhaus, Berlin 1968, S. 41 f.
Hobsbawm, a.a.O., S. 12 f.
Venedey, a.a.O., S. 11, 77.
George Rude, The Crowd in History. A Study of Popular Disturbances in France and England 1730–1848, New York und London 1964.
Tilly, a.a.O., S. 25.
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Volkmann, H. (1972). Wirtschaftlicher Strukturwandel und Sozialer Konflikt in der Frühindustrialisierung. Eine Fallstudie zum Aachener Aufruhr von 1830. In: Ludz, P.C. (eds) Soziologie und Sozialgeschichte. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83551-2_23
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-83551-2_23
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