Zusammenfassung
Der Wandel sozialpolitischer Aufgaben hat zu einer zunehmenden Soziologisierung sozialpolitischer Praxis beigetragen. Im vorliegenden Beitrag geht es um die Begründung und theoretische Ausarbeitung dieser These. Behauptet wird eine wachsende Kongruenz praktischer und soziologischer Definitionen gesellschaftlicher Probleme, eine Kongruenz, von der wir annehmen, daß sie strukturell bedingt ist. Zwar ist der Soziologe — anders als der Nationalökonom — heute noch nicht in der Lage, auf eine eigenständige und ausgearbeitete Theorie der Sozialpolitik zurückzugreifen, eine „eigenständige“ Theorie wäre vermutlich auch gar nicht sinnvoll und wünschbar; dennoch stehen wir hier, hinsichtlich ausgearbeiteter Theoriestücke mit mehr als nur leeren Händen da. Eine Theorie personenbezogener Dienstleistungen, wie wir sie im folgenden zu umreißen suchen, hätte u. E. insbesondere drei Vorzüge: Zum einen erlaubt sie eine Verknüpfung makroanalytischer und mikroanalytischer Überlegungen; zum zweiten gewährleistet ihr Anknüpfen an Einsichten der Wirtschaftsstatistik und der Dienstleistungsökonomie eine direkte Verbindung zur Wirtschaftswissenschaft und damit zur im Felde der Sozialpolitik bisher wichtigsten Nachbardisziplin; zum dritten schließlich ermöglicht der hier vorgetragene Ansatz eine kritisch-integrative Aufarbeitung bereits vorhandener, bislang noch meist unverbunden nebeneinanderher existierender Bindestrichsoziologien und der dort geleisteten historischen und empirischen Forschungen. Und er vermag seinerseits — so hoffen wir — neue historische oder empirische Forschungen anzuregen.
Die Teile I und IV wurden von Bernhard Badura, die Teile II und III von Peter Gross verfaßt. Zu einer ausführlichen Behandlung einiger der hier angesprochenen Probleme verweisen wir auf B. Badura und P. Gross, Sozialpolitische Perspektiven. Eine Einführung in Grundlagen und Probleme sozialer Dienstleistungen, München 1976.
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Anmerkungen
Walter Weddingen, Erdrutsch in der Wissenschaft Sozialpolitik?, in: Schmollers Jahrbuch, 87/4 (1967), S. 417–440, hier S. 419.
„Auch die Arbeit einiger angesehener Berufsstände in einer Gesellschaft ist, wie die der Dienstboten, unproduktiv … Als unproduktiv können … die Tätigkeit des Herrschers samt seiner Justizbeamten und Offiziere, ferner das Heer und die Flotte angesehen werden. In die gleiche Gruppe muß man auch einige Berufe einreihen, die äußerst wichtig und bedeutend oder sehr anrüchig sind: Zum einen Geistliche, Rechtsanwälte, Ärzte und Schriftsteller aller Art, zum anderen Schauspieler, Clowns, Musiker, Opernsänger und Operntänzer. Zweifellos hat selbst die Tätigkeit des Geringsten unter ihnen einen gewissen Wert… Dennoch vermag selbst der Ehrenwerteste und der Nützlichste unter ihnen nichts zu liefern, womit man später einen gleichen Dienst kaufen oder besorgen könnte. Wie die Deklamation eines Schauspielers, die feierliche Ansprache eines Redners oder der Ton eines Musikers, so geht auch die Arbeit der anderen in dem Augenblick unter, in dem sie entsteht… Das nationale Jahresprodukt aus Boden und Arbeit kann an Wert lediglich dann zunehmen, wenn die Zahl der produktiv Beschäftigten oder deren Produktivkraft erhöht wird“ (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 273 u. S. 283). „Der großen Masse sog., „höherer“ Arbeiter — wie der Staatsbeamten, Militärs, Virtuosen, Ärzte, Pfaffen, Richter, Advokaten usw. —, die zum Teil nicht nur nicht produktiv sind, sondern wesentlich destruktiv, aber sehr großen Teil des „materiellen“ Reichtums teils durch Verkauf ihrer „immateriellen“ Waren, teils durch gewaltsame Aufdrängung derselben sich anzueignen wissen, war es keineswegs angenehm, ökonomisch in dieselbe Klasse mit den buffoons und menial servants verwiesen zu werden und bloß als Mitkonsumenten, Parasiten der eigentlichen Produzenten … zu erscheinen“ (Karl Marx, Theorien über den Mehrwert. Erster Teil, MEW Bd. 26.1, S. 127 u. S. 145).
Sozialbudget 1976, S. 184.
Ebd. Tab. III-1-1.
Vgl. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974, S. 474.
Vgl. Prognos AG u. a., Entwicklungstendenzen des Dienstleistungsbereichs der Bundesrepublik Deutschland. Möglichkeiten der staatlichen Forschungs-und Technologiepolitik (Rohfassung), Januar 1976, S. 8 f.
Vgl. Sozialbudget 1976, Tab. II-5-75.
Dazu die Einleitung von Philipp Herder-Dorneich und Walter Kötz, Zur Dienstleistungsökonomik. Systemanalyse und Systempolitik der Krankenhauspflegedienste, Berlin 1972 und Rudolf Maleri, Grundzüge der Dienstleistungsproduktion, Berlin—Heidelberg—New York 1973.
Z.B. Jean Fourastié, Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts, Köln 1969, S. 30. Damit scheint auch die auf der Annahme von Sättigungsgrenzen beruhende Stagnationstheorie überwunden und eine unendliche wirtschaftliche Expansion möglich.
Herbert Timm, Das Gesetz der wachsenden Staatsausgaben, in: Finanzarchiv, N. F., Bd. 21, S. 220–241.
Ebd. S. 236.
Dieter Schäfer, Die sozialen Dienste im Rahmen einer Systematik der sozialen Hilfen, in: A. Blind u. a. (Hrsg.), Sozialpolitik und persönliche Existenz (Festgabe für Hans Achinger), Berlin 1969, S. 265–287.
Ebd. S. 271.
Ebd. S. 273.
Ebd. S. 271.
Vgl. Nathan Glazer, Die Grenzen der Sozialpolitik, in: Wolf-Dieter Narr und Claus Offe (Hrsg.), Wohlfahrtsstaat und Massenloyalität, Köln 1975, S. 335–349.
Vgl. dazu Elisabeth Liefmann-Keil, Sozialinvestitionen und Sozialpolitik — Zur Perpetuierung der Sozialpolitik, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 1 (1972), S. 24–38.
Dazu die umfassende Arbeit von Christian Leipert, Unzulänglichkeiten des Sozialproduktes in seiner Eigenschaft als Wohlfahrtsmass, Tübingen 1975.
Sozialenquêlte, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1966, S. 346.
Vgl. Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Methodologische Schriften, Frankfurt/M. 1968, S. 1–65, S. 64.
Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt, New York 1975.
Besonders deutlich in: Die nachindustrielle Gesellschaft, in: Das 198. Jahrzehnt. Eine Team-Prognose für 1970–1980, München 1972, S. 373–386, hier S. 383.
a.a.O.
The Growing Importance of the Service Industries, New York 1965.
Harold L. Wilensky, The Welfare State and Equality. Structural and Ideological Roots of Public Expenditures, New York-London 1975, S. 10.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1956 (4. Aufl.), S. 569 f.
Vgl. z. B. Richard W. Scott, Konflikte zwischen Spezialisten und bürokratischen Organisationen, in: Renate Mayntz (Hrsg.), Bürokratische Organisation, Köln—Berlin 1968, S. 201–216.
Vgl. P. Halmos, The Personal Service Society, New York 1970.
Vgl. z. B. Eliot Freidson, Dominanz der Experten. Zur sozialen Struktur der medizinischen Versorgung. München—Berlin—Wien 1975.
Vgl. z. B. Paul Lüth, Sprechende und stumme Medizin. Über das Patienten-Arzt-Verhältnis, Frankfurt/M. 1974.
Vgl. die Überlegungen von Christian v. Ferber, Medizin und Sozialstruktur, in: Handbuch der Sozialmedizin (Hrsg.: Maria Blohmke u. a.), Bd. 1, Stuttgart 1975, S. 261–300, bes. S. 265 ff.
Dazu Heinrich Schipperges, Medizinische Dienste im Wandel, Baden-Baden 1975.
Wir denken hier in erster Linie an die Arbeiten von Hans Scherpnert Theorie der Fürsorge, Göttingen 1962; Dieter Schäfer, Die Rolle der Fürsorge im System der sozialen Sicherung, Frank-furt/M. 1966; Niklas Luhmann, Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, in: H.-U. Otto und S. Schneider (Hrsg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Bd. 1, Neuwied 1973 (2. Aufl.), S. 21 ff.
Entsprechende Arbeiten diskutiert Harry Maor, Soziologie der Sozialarbeit, Stuttgart 1975, bes. S. 124 ff.
Vor allem Friedrich Edding, Ökonomie des Bildungswesens, Freiburg/Brsg. 1963. Zur Kritik: Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, München 1972.
Vgl. Philipp Herder-Dorneich und Walter Kötz, Zur Dienstleistungsökonomik. Systemanalyse und Systempolitik der Krankenhauspflegedienste, a.a.O.
Vgl. Bernhard Badura und Peter Gross, Sprachbarrieren, in: Lexikon der germanistischen Linguistik (Hrsg.: Hans Peter Althans u. a.), Tübingen 1973, S. 262–271.
Was auch Rolf-Richard Grauhahn, Grenzen des Fortschritts? Widersprüche der gesellschaftlichen Rationalisierung, München 1975, S. 90 ff. anspricht.
Vgl. dazu und zur Evaluationsproblematik insgesamt Alice Rivlin, Systematic Thinking for Social Action, Washington (Brookings Institution) 1971. Vgl. auch neuerdings: Martha Derthick, Uncontrollable Spending for Social Services Grants, Washington, (Brookings Institution) 1975.
Vgl. dazu Peter Gross, Sozialdienst — eine nicht marktorientierte Strategie im Bereich sozialer Dienstleistungen, Mskpt 1976 (erscheint demnächst).
Vgl. dazu Bernhard Badura und Jürgen Reese, Jungparlamentarier in Bonn — ihre Sozialisation im Deutschen Bundestag, Stuttgart 1976.
A. Gartner und F. Riessman, The Service Society and the Consumer Vanguard, New York 1974.
Vgl. dazu: Ruth and Victor Sidel, The Human Services in China, in: Social Policy, II/6 (1972), S. 24–34.
Für die Bundesrepublik vgl. dazu immer noch Detlev Zöllner, Öffentliche Sozialleistungen und wirtschaftliche Entwicklung. Ein zeitlicher und internationaler Vergleich, Sozialpolitische Schriften, H. 16, Berlin 1963.
Vgl. dazu Edwin Mansfield, Der Anteil von Forschung und Entwicklung am wirtschaftlichen Wachstum der Vereinigten Staaten, in: Bernhard Badura (Hrsg.), Angewandte Sozialforschung, Frankfurt 1976, S. 324–345.
Vgl. dazu: James A. Pechman und Peter M. Timpane, Work Incentives and Income Guarantees, The New Jersey NIT-Experiment, Washington 1975.
Vgl. dazu zusammenfassend: Sam M. Miller und Pamela Roby, The Future of Inequality, New York—London 1970, S. 84–141. Und auch Franz X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1973 (2. Aufl.).
The Welfare State and Equality, a.a.O., Kap. 5.
Sozialinvestitionen und Sozialpolitik — Zur Perpetuierung der Sozialpolitik, a.a.O.
Vgl. Prognos AG u. a., Entwicklungstendenzen des Dienstleistungsbereichs der Bundesrepublik Deutschland. Möglichkeiten der staatlichen Forschungs-und Technologiepolitik (Rohfassung), a.a.O. (Zusammenfassung, S. C).
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Gross, P., Badura, B. (1977). Sozialpolitik und soziale Dienste: Entwurf einer Theorie personenbezogener Dienstleistungen. In: Von Ferber, C., Kaufmann, FX. (eds) Soziologie und Sozialpolitik. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, vol 19. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83545-1_15
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