Zusammenfassung
Die Problematik der sozialen Verankerung von Überzeugungen und Denkweisen oder, wie sie in einer weit verbreiteten Wendung formuliert ist, die auf Karl Mannheim zurückgeht: die Problematik der Seinsverbundenheit des Denkens ist ohne Zweifel einer der interessantesten Problemkomplexe, die es in den Sozialwissenschaften gibt, und zwar schon deshalb, weil in ihm einerseits Grundlagenfragen dieser Wissenschaften und darüber hinaus der Erkenntnis überhaupt berührt werden, andererseits aber auch Probleme angesprochen werden, deren Lösung unmittelbare Konsequenzen für die Gestaltung der Gesellschaft und damit für die soziale Praxis zu haben scheint. Was diesen Problemkreis für viele so attraktiv macht, ist offenbar die Tatsache, daß sich in seinem Rahmen eine unmittelbare Beziehung zwischen Philosophie und Politik herstellen läßt, eine Beziehung, die vor allem in den verschiedenen Ideologielehren zum Ausdruck kommt, wie sie seit der französischen Aufklärung von unterschiedlichen Ansätzen her entwickelt wurden. Das bedeutet gleichzeitig, daß es sich hier um Probleme handelt, die geeignet sind, in starkem Maße politisch engagiertes Denken auf sich zu ziehen, so daß ihre Lösung unter Umständen gerade auf Grund von Zusammenhängen besondere Schwierigkeiten bereitet, die durch sie aufgehellt werden sollen. Radikale Lösungen dieser Problematik gehen oft so weit, daß durch die soziale Verankerung des Denkens sogar die Möglichkeit echter Erkenntnis überhaupt in Frage gestellt, die Idee der unvoreingenommenen Wahrheitssuche desavouiert und ein Parteiliniendenken als selbstverständlich suggeriert wird, von dem her die bisher übliche Wissenschaftsauffassung als Ausdruck eines falschen Bewußtseins erscheint, das den desolaten Zustand der Gesellschaft widerspiegelt.
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Anmerkungen
Vgl. dazu Hans Albert, Politische Theologie im Gewände der Wissenschaft. Zur Kritik der neuen deutschen Ideologie, Club Voltaire IV. Jahrbuch für kritische Aufklärung, herausgegeben von Gerhard Szczesny, Reinbek 1970.
Vor allem Hans Barth hat in seinem Buch »Wahrheit und Ideologie«, 2. Auflage Erlenbach- Zürich 1961, versucht, den grundlegenden Unterschied herauszuarbeiten, der zwischen den von ihnen angebotenen Lösungen und denen besteht, die in der französischen Aufklärung verbreitet waren.
Eine Übersicht über die wichtigsten philosophischen Lehren des vorigen Jahrhunderts wird - mit durchaus plausiblen Argumenten - unter dem Titel: »Das Zeitalter der Ideologie« präsentiert. Vgl.: The Age of Ideology, Selected, with Introduction and Commentary, von Henry D. Aiken, New York 1956.
Natürlich ist die hier verwendete Ausdrucksweise, die die Existenz eines einheitlichen Pro-gramms unterstellt, wo de facto eher verschiedene miteinander verwandte Programme vorhanden sein dürften, cum grano salis zu nehmen.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens, Stuttgart-Wien 1953. Auch sein früheres Buch »Die soziale Schichtung des deutschen Volkes«, Stuttgart 1932, enthält schon interessante Bemerkungen zum Ideologieproblem; vgl. vor allem S. 77 ff. sowie den Exkurs auf S. 109 ff. über die Mittelstände im Zeichen des Nationalsozialismus. In den von Paul Trappe herausgegebenen Geigerschen »Arbeiten zur Soziologie«, Neuwied-Berlin 1962, sind weitere zwei Arbeiten zum Ideologieproblem enthalten, a.a.O., S. 412 ff.
Allerdings muß hier vor Mißverständnissen gewarnt werden, die sich daraus ergeben können, daß im deutschen Sprachbereich vor allem dank der diesbezüglichen Bemühungen der »Frankfurter Schule« ein Positivismus-Klischee in Gebrauch ist, das sehr verschiedene An-schauungen bündelt, um sie kollektiv diffamieren zu können, ohne daß für diese Zusammen-fassung eine sachliche Grundlage zu sehen ist.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., Kap. IX: »Ideologie« — ein Makel der Erkenntnis.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 7.
Das geschieht - nach einer im wesentlichen historischen Einleitung in den ersten beiden Kapiteln - im III., IV. und V. Kapitel seines o. a. Buches.
Vgl. dazu Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., Kap. III: Die »Wirklichkeit«.
Zur letzten der beiden Fragen vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., Kap. IV und V.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 34.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 34. Als besonders grobes Beispiel für einen Ideologiebegriff, der sich an der Existentialwirklichkeit orientiert, führt Geiger den »nationalsozialistischen Afterphilosophen Andreas Pfenning« an, bei dem die Orientierung am rassisch-völkischen Selbstinteresse maßgeblich war für ideologie/raes Denken (ebd., S. 32 f.). Auch bei Marx ist nach Geiger stellenweise etwas Ähnliches zu finden, da nämlich, wo die Klassengebundenheit eine Rolle spielt (ebd., S. 38 ff.). Meines Erachtens braucht man allerdings keine zwei Wirklichkeitsbegriffe, um solchen Fällen Rechnung zu tragen. Hier werden offen-sichtlich Aussagen hinsichtlich ihrer Adäquatheit nicht danach beurteilt, ob sie mit den Tat-beständen übereinstimmen, auf die sie sich beziehen, sondern nach anderen Kriterien - eben nach existentialer Angemessenheit, wie Geiger das nennt -, wobei die Maßstäbe wechselnd, vieldeutig und willkürlich sind.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 47.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 47. Zur Kritik dieser Thesen braucht man nur auf die Resultate der modernen Diskussion über Dispositionsbegriffe, theo- retische Begriffe und die Bedeutung theoretischer Entitäten in der Realwissenschaft hinzuweisen; vgl. dazu etwa: Paul K. Feyerabend, Das Problem der Existenz theoretischer Entitäten, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, Festschrift für Viktor Kraft, herausgegeben von Ernst Topitsch, Wien 1960. Schon vor langer Zeit hat Karl Popper darauf aufmerksam gemacht, daß es keine reine - d. h. theoretische - Beobachtungssprache gibt; vgl. dazu sein Buch: Logik der Forschung, Wien 1934, 3. Auflage Tübingen 1969.
Vgl. dazu kritisch: Karl Popper, Epistemology without a Knowing Subject, in: Logic, Methodology and the Philosophy of Sciences III, Hrsg. van Rootselaar und Staal, Amsterdam 1968; sowie Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 2. Auflage Tübingen 1969.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 50.
Und zwar gibt es da nach ihm zwei Möglichkeiten: Entweder liegt »der Aussagegegenstand selbst außerhalb der Erkenntniswirklichkeit« oder die ausgesagte Eigenschaft gehört nicht in diesen Bereich; als Beispiel führt Geiger einen Satz an, in dem der Ausdruck »soziale Gerechtigkeit«, und einen, in dem das Wort »heilig« vorkommt (ebd., S. 50).
Vgl. dazu Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., Kap. IV: Das Werturteil - eine ideologische Aussage.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 58. Das bedeutet keineswegs, daß er jede Bewertung eines Tatbestandes für illegitim halten würde. Er unterscheidet vielmehr: eine primäre Bewertung, die keine Aussage, sondern ein psychischer Vorgang ist, von der Expektoration einer solchen Primärbewertung - ihrer Äußerung in Form einer Interjektion einer reflektiven Bewertungsaussage, die über eine solche Bewertung gemacht wird, und schließlich einem Werturteil, das aus den oben erwähnten Gründen für ihn illegitim ist. Beispiel: »Es gibt nichts Besseres als die Morgenzigarette auf nüchternen Magen.« Hier wird nach Geiger eine »Genußreaktion in eine dem Gegenstand selbst innewohnende, an ihm gegebene Eigenschaft übersetzt« (a.a.O., S. 58), die subjektive Stellungnahme zur Zigarette wird gewissermaßen in eine Eigenschaft der Zigarette umgefälscht. Ein anderes, nicht so triviales Beispiel: »Mord ist verwerflich« (a.a.O., S. 61).
Die Objektivierung von Bewertungen in einer Wertidee ist illusionär. Das Werturteil ist eine Ist-Aussage über nur ein vermeintliches Etwas. Ihre Illegitimität beruht auf der Unvereinbarkeit ihrer Struktur mit ihrem Inhalt. Dies ist der Sachverhalt der Ideologie« (ebd., S. 64).
Vgl. dazu etwa Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Auflage Bern 1954; oder George Edward Moore, Principia Ethica (1903), Cambridge 1960.
Vgl. dazu etwa: Viktor Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 2. Auflage Wien 1951; sowie eine Reihe von Beiträgen in: Albert und Ernst Topitsch, Hrsg., Werturteilsstreit, Darmstadt 1971.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 66.
Geiger macht zwei Bemerkungen zu solchen Aussagen. Er meint, daß vielleicht alle auf Bewertungen zurückführbar sind, möchte das aber offen lassen. Und er weist darauf hin, daß ganze Aussagengebäude im allgemeinen neben ideologischen auch sachlich-theoretische Bestandteile enthalten, so daß ihr Gehalt nur mehr oder weniger ideologisch gefärbt ist (ebd., S. 66 f.).
Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 68.
Sie lautet: »Der Unternehmergewinn ist der notwendige Antrieb wirtschaftlichen Fort- sdhritts (Ebd., S. 70 ff.). Seine Analyse dieses Satzes ist außerordentlich lehrreich.
Im übrigen müßte man den Kontext heranziehen, in dem die Aussage steht, um sie adäquat deuten zu können. Mehrdeutigkeiten können ja durch Berücksichtigung des Kontextes unter Umständen eliminiert werden, ebenso falsche Verallgemeinerungen, eventuell sogar der Wertakzent. Geiger selbst, der in seinen Deutungsvorschlägen sehr oft den Kontext nicht genügend beachtet, zeigt in diesem Falle die Möglichkeit der Reduktion solcher Aussagen auf Sachaussagen. Eine theoretische Aussage ergibt sich dabei, wie er zu zeigen sucht, als ein »Läu-terungsprodukt«, aber das, was er »Reduktion« der betreffenden Aussage nennt, könnte man auch ohne weiteres als eine adäquate »Interpretation« auffassen.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., Kap. VI: Ursprungsschichten der Ideologie, S. 92 ff.
Statt psychologische Kriterien in Erwägung zu ziehen, rekurriert er hier auf fiktive Schlußketten aus Voraussetzungen, die er als an sich vorhanden annimmt, obwohl sie von dem betreffenden Ideologen nicht gemacht wurden. Wenn man berücksichtigt, daß es zu jeder Aussage unendlich viele logisch mögliche Voraussetzungen gibt, müssen seine diesbezüglichen Ausführungen als äußerst problematisch angesehen werden.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., Kap. VII, S. 112 ff.
Es gibt keine Erkenntnisaussage, an deren Zustandekommen nicht irgendwo der Wille, ein Interessiertsein, ein Vitalantrieb beteiligt wäre, und sei es auch nur die Wißbegier des Forschers.« »Die Problemwahl ist zumindest teilweise durdi außertheoretische Erwägungen bedingt.« Darüber hinaus ist aber das Erkenntnisstreben überhaupt willensmäßig begründet: »Daß Wahrheit wert sei, gesucht zu werden, ist keine Wahrheit, sondern ein Werturteil« (vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 112 f.).
Und zwar: da sie bestimmen, was erforscht wird, und daher auch letzten Endes, wie sich der jeweilige Wissensbestand zusammensetzt, also unter anderem auch die »Unvollständigkeit«, »Schiefheit« und »Schlagseite« des bestehenden Weltbildes. Das ist aber wieder nicht »ideologisch« im oben angegebenen Geigerschen Sinn.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 128.
Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 134 ff., Kap. VIII: Wahrnehmung und Logik.
Es handelt sich um die These, daß Denkgesetze und Kategorien oder sogar die Wahrnehmungen gesellschaftlich bestimmt sind.
Geiger scheint hier allerdings den Einfluß des Begriffsapparates auf die Wahrnehmung zu unterschätzen, was ja seiner empiristischen Einstellung entspricht.
Vgl. dazu mein Buch: Traktat über kritische Vernunft, 2. Auflage Tübingen 1969.
Vgl. Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 156 ff., Kap. IX: »Ideologie« - ein Makel der Erkenntnis.
Ebd., S. 163.
Vgl. ebd., S. 165.
Vgl. Theodor Geiger, a.a.O., S. 165 f.
Ebd., S. 166; Sperrungen von mir, d. V.
Der Verdacht kann allerdings seiner Auffassung nach zum Vorwurf verstärkt werden durch Rekurs auf das gesamte Aussagengebäude und Lokalisierung der Ideologiequelle in diesem Gebäude, aus der die betreffende Aussage hergeleitet ist. Meine Frage wäre: Wie nun, wenn die Aussage wahr (oder bewährt) und trotzdem so hergeleitet wäre? Geiger kultiviert hier offenbar die Idee einer guten »Abstammung« von Aussagen.
Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, a.a.O., S. 168 f.
Man könnte ja die Auffassung vertreten, daß gewisse Leute bestimmte Arten von Sachverhalten von ihrer sozialen Position her - vielleicht auch von ihrer »Existenz-Struktur« her - oft besser sehen und beurteilen als andere. Diese Auffassung braucht natürlich nicht mit der Idee einer epistemologisch relevanten Privilegierung verbunden zu sein. Man denke etwa an die Problematik des Verhältnisses von Existenz-Struktur und Aussageinhalten bei Wissenschaftlern, wenn es um jeweils fachspezifische Aussagen geht.
Auch hier besteht wieder eine inferentielle Parallele zur Marxsdien Konzeption. Die In- ferenz zweier in dieser Weise unvereinbarer Motive, die die Struktur seiner »kritischen Theorie« bestimmen, führt zu einer Auffassung von der Ideologieproblematik, derzufolge letzten Endes die eigene Lehre unter das Verdikt der Ideologie fällt. Vgl. dazu auch das im übrigen äußerst instruktive Buch von Klaus Hartmann, Die Marxsche Theorie. Eine philosophische Untersuchung zu den Hauptschriften, Berlin 1970, S. 554 ff. Wir haben also auch hier eine durch Selbstreflexivität ihre eigene Legitimität zerstörende Auffassung vor uns, wenn das in dem Falle auch nicht so leicht zu erkennen sein mag.
Charakteristisch ist sein Satz: »Richtiges Denken führt zu hundertprozentiger Wahrheit« (Theodor Geiger, Arbeiten zur Soziologie, a.a.O., S. 447), der einen unhaltbaren Methodenoptimismus zum Ausdruck bringt. Manchmal findet man allerdings bei ihm auch anders lautende Thesen; vgl. etwa ebd., S. 434, wo die Approximationsidee auftaucht.
Hier liegt übrigens eine der Gefahren politischer Steuerung von Problemstellungen in der Wissenschaft, auch außerhalb des Essentialismus.
Vgl. dazu mein Buch »Traktat über kritische Vernunft«, a.a.O., S. 84 f.
Vgl. Max Weber, R. Stammlers »Uberwindung« der materialistischen Geschichtsauffassung, in: M. Weher, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, herausgegeben von Johannes Winckelmann, 2. Auflage Tübingen 1951, S. 324 ff., wo gerade auch auf das »Zusammenwirken nach Regeln« als Vorbedingung eines bestimmten Erfolges eingegangen wird.
In der Nationalökonomie, einer der ersten Sozialwissenschaften, die auf theoretische Analyse im Sinne des naturwissenschaftlichen Denkstils zielte, ist man sich seit langem bewußt, daß der sogenannte Preismechanismus gewisse Muster des Funktionierens aufweist, die selber erklärungsbedürftig sind, das heißt: für deren Erklärung man nach tieferliegenden Gesetzmäßigkeiten zu suchen hat, Gesetzmäßigkeiten, aus denen sich je nach der Beschaffenheit des jeweiligen sozialen Milieus verschiedenartige Konsequenzen ergeben können. Daß die betreffenden Erklärungsansätze zuweilen in verschiedenen Richtungen »degenerierten« - zum Beispiel in Richtung auf einen Formalismus, der die Präzision der Darstellung ihrem Gehalt überordnete, oder in Richtung auf einen Historismus, der die Allgemeinheit der Unmittelbarkeit des konkreten historischen Bezugs opferte -, steht auf einem anderen Blatt. 52 Vgl. dazu mein Buch »Traktat über kritische Vernunft«, a.a.O., S.
Konrad Lorenz hat darauf aufmerksam gemacht, daß auch »das kausale Denken des Menschen selbst, dieses regulativste und zielstrebigste unter allem organischen Geschehen auf diesem Planeten« unter kausalem Gesichtspunkt zu untersuchen ist. »Die Freiheit und Struktur- losigkeit dieser Leistungen«, so sagt er, »wird nur durch die geradezu unabsehbar verwickelte und feine Struktur und Zusammenarbeit der beteiligten Elemente vorgetäuscht, und sie werden dementsprechend durch gewisse Schädigungen ganz ebenso gestört wie nur irgendeine Maschinenfunktion. Die Finalität des Systemganzen ist von der Kausalität seiner Organe um kein Haar weniger abhängig als diejenige des Vortragsreisenden... von der Funktion seines Auto- motors...«, so Lorenz in: Induktive und teleologische Psychologie (1942), abgedruckt in seinem Bändchen: Vom Weltbild des Verhaltensforschers, München 1968; vgl. dazu auch Karl Bühler, Die Krise der Psychologie, 3. Auflage Stuttgart 1965, S. 65 ff., wo der Gegenstandsbereich der Psychologie mit Hilfe des Begriffs der Steuerung umschrieben wird, einer Steuerung, die natürlich auch Denkverläufe betrifft.
Auch für den sozialen Bereich der Wissenschaft gilt der dem ökonomischen Denken vertraute Tatbestand der Knappheit, der die Konsequenz hat, daß nicht alle guten Dinge miteinander real kompatibel sind. So kann etwa eine Umorganisation im Sinne der Bedürfnisse bestimmter Gruppen die Motivationslage und die Möglichkeiten anderer Gruppen in diesem Bereich so tangieren, daß die Bedingungen für den Fortschritt der Erkenntnis sich rapide verschlechtern. Solche Überlegungen müssen zumindest angestellt werden, wenn eine rationale Politik angestrebt wird.
Vgl. dazu etwa Klaus Holzkamp, Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen kritisch- emanzipatorischer Psychologie, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 1 (1970), Heft 1 und 2, S. 5–21, 109–141, sowie meine Kritik in: Konstruktivismus oder Realismus? Klaus Holzkamps dialektische Überwindung der »bürgerlichen« Psychologie, in derselben Zeitschrift, Band 2,1971, S. 5–23 ; vgl. auch meinen o. a. Aufsatz : Wissenschaft, Technologie und Politik, a.a.O.
Es bedarf kaum besonderer Betonung, daß eine Art der Kritik, wie sie von René König mit Recht als wesentliche Funktion der sozialwissenschaftlichen Intelligenz bezeichnet wurde (vgl. seine Einleitung im Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 1, 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 14), mit der skizzierten Auffassung durchaus vereinbar ist. Theodor Geiger, dessen Anschauungen hier hinsichtlich bestimmter Punkte als problematisch hingestellt wurden, gehört zu den Soziologen, die gerade diese Funktion in fruchtbarer Weise erfüllt haben.
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Albert, H. (1973). Ideologie und Wahrheit. In: Albrecht, G., Daheim, H., Sack, F. (eds) Soziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83511-6_6
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