Zusammenfassung
Ungeachtet der Tatsache, daß eine systematische und empirisch fundierte Rechtssoziologie bislang noch kaum entwickelt ist, hat es seit Bestehen der Soziologie immer wieder Versuche gegeben, die Bedeutung des Rechts und der Juristen in der Gesellschaft zu bestimmen. Dabei sind zwei der prominentesten Ansätze einander völlig entgegengesetzt - nicht nur, was ihr Alter betrifft, sondern zugleich hinsichtlich des Ergebnisses ihrer Analyse: die Ansätze von Claude Henri de Saint-Simon 2 und Ralf Dahrendorf 3. Während Saint-Simon die Herrschaft des Redits und der Juristen als eine Übergangserscheinung, als »un pouvoir temporel et un pouvoir spirituel d’une nature intermédiaire, bâtarde et transitoire« 4 zwischen Klerikal- und Feudalherrschaft einerseits und der Autorität von Wissenschaft und Industrie andererseits betrachtet, ist Dahrendorf der Ansicht, »daß die moderne Gesellschaft durch eine immer zunehmende Tendenz der Verfestigung sozialer Normen zu Rechtsnormen gekennzeichnet ist« 5 und daß damit auch die Bedeutung der Juristen zunimmt.
Dieser Beitrag beruht auf einem Ansatz, der anläßlich des 6. Weltkongresses für Soziologie, Evian 1966, entwickelt und dort vorgetragen wurde.
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Anmerkungen
In seinen Schriften: »Du systeme industriel« und »Sur la quer eile des Abeilles et des Frelons«, im folgenden zitiert nach der systematischen Darstellung von Emile Dürkheim, Le Socialisme, Paris 1928, Seite 174 ff.
Ralf Dahrendorf, Über Gestalt und Bedeutung des Rechts in der modernen Gesellschaft, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, hrsg. H. D. Ortlieb, Tübingen 1962, S. 129 et passim.
A. a. O., S. 176.
A. a. o.
Vgl. die Definition von Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Neuauflage Tübingen 1956, Seite 24 f.; sowie René König, Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder, Hrsg., Sonderheft 11 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, 1967, S. 44 ff.
Soziale Kontrolle« soll hier nicht in der üblichen, einengenden Definition verstanden werden, sondern als Steuerung von gesellschaftlichen Abläufen.
Vgl. z. B. Talcott Parsons, Pattern Variables Revisited, in: American Sociological Review 25 (1960), Seite 467–483; oder Neil]. Smelser, Theory of Collective Behaviour, London 1962.
Mit dem Begriff »Latenz« wird bei Parsons das Problem der »latent pattern maintenance and tension management« bezeichnet, wobei gleichzeitig angedeutet wird, daß es sich meist um eine Manipulation unterschwelliger psychischer Abläufe handelt; vgl. Talcott Parsons, Robert F. Bales und Edward A. Shils, Working Papers in the Theory of Action, New York 1953, Seite 185 ff.
Parsons verwendet als Kennzeichnung für diese Dominanz den mißverständlichen Begriff »goal attainment« oder - besser - »goal gratification or enjoyment of goal - state«; der Begriff Emphase gibt u. E. am besten wieder, was Parsons mit den Worten ausdrückt: »the inhibition on gratification is suspended and affectivity suffuses the goal consummative activity« (ebenda, Seite 184).
Vgl. Talcott Parsons, Societies: Evolutionary and Comparative Perspectives, Englewood Cliffs, N. J., 1966, Seite 24 ff.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., Seite 180.
Vgl. Robert K. Merton, Social Structure and Anomie, in: ders., Social Theory and Social Structure, Glencoe, 111., 1957, Seite 141 ff.
Ein historisches Bild dieser Zeit gibt Roscoe Pound, The Lawyer from Antiquity to Modern Times, Minnesota 1953, Kapitel VIII, The Era of Decadence, Seite 221 ff.
Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 4. Auflage, Tübingen 1947, insbesondere das Kapitel »Die Berufsethik des asketischen Protestantismus«, Seite 84–205.
Vgl. Svend Ranulf, Moral Indignation and Middle Class Psychology, New York 1964, zuerst erschienen 1938. In seiner Einführung zu diesem Buch verbindet Harold D. Lasswell die Beobachtungen Ranulfs mit neueren empirischen Ergebnissen, etwa mit »correlations with relatively severe child rearing practices«, und weist darauf hin, daß man zusätzlich zwischen der »indignation of the rising middle classes and the defensive indignation of declining formations« unterscheiden müsse (S. X III ).
S. zum Beispiel: Johanna B. Schwab, Occupational Attitudes of Lawyers in: Sociology and Social Research 24 (1939), S. 53–62; oder Walter O. Weyrauch, The Personality of Lawyers, New Haven und London 1964, deutsch: Zum Gesellschaftsbild des Juristen, Neuwied-Berlin 1970; oder die Untersuchung von S. C. Verseele, Recherches de sociologie judiciaire, hektograph. Manuskript für den 6. Weltkongreß für Soziologie, Evian 1966.
Talcott Parsons, A Sociologist Looks at the Legal Profession, in: ders., Essays in Sociological Theory, Glencoe, 111., 1964, S. 377.
Paul Reiwald, Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, Zürich 1948, Seite 290.
Die entsprechenden Nachweise finden sich in meinem Buch »Die Hüter von Recht und Ordnung«, Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen, Neuwied und Berlin 1970 (Soziologische Texte, Band 65), S. 98, 102 und 103. Weiteres Zahlenmaterial gibt Wolfgang Zapf, Hrsg., Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, 2. erw. Auflage München 1965.
Wolf gang Kaupen und Raymund Werle, Hrsg., Soziologische Probleme juristischer Berufe, Köln 1972.
Vgl. Arthur E. Briggs, Social Distance between Lawyers and Doctors, in: Sociology and Social Research 13 (1928/29), S. 161: »Lawyers delight in conventional morality«.
Vgl. dazu: Heidrun und Wolfgang Kaupen, Der Einfluß gesellschaftlicher Wertvorstellungen auf die Struktur der deutschen Studentenschaft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), Seite 131.
Marc Bonnamour, Nachwuchsprobleme der Avoues, in: Anwaltsblatt, Nachrichten für die Mitglieder des Deutschen Anwaltsvereins e. V., Bd. 15, Nr. 3, 1965, S. 77: »De 6400 en 1850, 4500 en 1925, les magistrats sont passes k 3700 en 1960.«
Vgl. Max Dahinden, Die zahlenmäßige Entwicklung des Hochsdiulstudiums von Schweizern in den letzten zwanzig Jahren, Berner Beiträge zur Soziologie, Bd. 2, Bern/Stuttgart 1960, S. 22.
S. David Riesman, Reuel Denney und Nathan Glazer, Die einsame Masse, Hamburg 1958.
Harold L. Wilensky, Intellectuals in Labor Unions, Glencoe, I11., 1956, S. 55–56.
Vgl. Heinz Hartmann, Authority and Organization in German Management, Princeton, N. J., 1959, S. 165. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß der Prozentsatz der Juristen im Management insgesamt nur bei 5 Prozent lag.
Nach Alexander Steiniger, Studien- und Berufswünsche Frankfurter Abiturienten, ihr Alter und die Berufe ihrer Väter (1957-1962), Frankfurt, S. 15, war die Anzahl derjenigen, die tatsächlich ein Studium der Wirtschaftswissenschaften aufnahmen, jeweils doppelt so hoch wie die Zahl derer, die diese Absicht kurz vor dem Abitur geäußert hatten.
Vgl. Ernst Forsthoff, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1960, S. 1274, wo er die Entwicklung folgendermaßen beschreibt: »… als im Jahre 1949 die Staatlichkeit mit der Bundesrepublik wieder hergestellt wurde, war der Wiederaufbau der Wirtschaft bereits so weit fortgeschritten, daß die Bahnen der weiteren Entwicklung festlagen.
Um diesen Wandel empirisch verfolgen zu können, haben wir die Auswertung der biogra-phischen Handbücher »Leitende Männer der Wirtschaft« (vgl. Heinz Hartmann, Der zahlenmäßige Beitrag der Hochschulen zur Gruppe der industriellen Führungskräfte, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 112, 1956, S. 144–163) für die Jahre 1953 und 1963 wiederholt.
Ernst Forsthoff, Der Jurist…, a. a. O., S. 1275.
Vgl. die Kritik an dieser Entwicklung bei Klaus Roth-Stielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, Villingen 1963.
Zur Klassifikation der typischen Medien und Mittel sozialer Kontrolle vgl. auch meinen Aufsatz »Naturrecht und Rechtspositivismus. Ein soziologischer Versuch«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 18 (1966), Seite 113–130.
Die jüdischen Juristen wandten sich, da sie zum Staatsdienst kaum zugelassen wurden, vor allem den unabhängigen Berufen in der Wirtschaft (Rechtsanwalt, Syndikus) oder der wissenschaftlichen Laufbahn zu. Diese typischen beruflichen Karrieremuster sind auch bei der gesamten jüdischen Minorität zu beobachten: 1933 waren 60 Prozent der deutschen Juden im Handel beschäftigt, weitere 23 Prozent in Handwerk und Industrie, die Hälfte war selbständig! Vgl. hierzu: Monumenta Judaica, 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein, Köln 1963, Seite 608 und 613.
Vgl. Emile Dürkheim, De la division du travail social, 7. Auflage Paris 1960, S. 199 ff.
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 498:»… die Rechtsfindung nimmt formal und sachlich den Charakter von › Verwaltung ‹ an, vollzieht sich wie diese über feste Formen und Fristen, nach Zweckmäßigkeits- und Billigkeitsgesichtspunkten durch einfache Bescheide und Befehle des Herrn an die Unterworfenen«.
Emile Dürkheim, a. a. O., S. 200.
Ebenda, Seite 200 f.
Vgl. Ernst Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1965.
Vgl. Heinz Hartmann, Funktionale Autorität, Stuttgart 1964.
W. Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, a. a. O. sowie ders. und Theo Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, Neuwied und Berlin 1971.
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Kaupen, W. (1973). Über die Bedeutung des Rechts und der Juristen in der modernen Gesellschaft. In: Albrecht, G., Daheim, H., Sack, F. (eds) Soziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83511-6_22
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