Zusammenfassung
Trotz einiger übler,Ausrutscher‘2 wird heutzutage allgemein akzeptiert, dass weder die Privatperson bzw. der Schriftsteller Wilhelm Raabe (1831–1910) Antisemit war noch sein Gesamtwerk antisemitisch gefärbt ist.3 Überraschend daher die kritische Reaktion auf den Hungerpastor (1864) in der inzwischen einige Jahre zurückliegenden Kontroverse zwischen Horst Denkler und Robert Holub.4 Denn Denklers Argument, dass es sich hierbei um einen politischen Schlüsselroman handele5 und dass, falls es dem Kritiker gelingen sollte, die historische Person nachzuweisen, nach der die Figur Moses Freudensteins gezeichnet wurde,6 der Autor nicht beschuldigt werden könne, antisemitische Vorurteile gehegt zu haben, wurde damals von dem jüdisch-amerikanischen Germanisten mit einiger Berechtigung zurückgewiesen bzw. widerlegt. „Central to his [Denklers, JT] thesis is that Raabe’s,objectivity‘, his,impartiality‘[Unbefangenheit, JT], his strict adherence to realism account for his negative portrayal of Freudenstein‘,7 fasste Holub Denklers These zusammen, um daran anschließend kritisch anzumerken, dass ein derartiger „appeal to realism“nicht als Entschuldigung für antisemitische Vorurteile geltend gemacht werden könne.8 Dabei stand insbesondere ein Aspekt im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, der auch schon früher wiederholt in der Kritik angeklungen war: „If Raabe wanted to depict a political renegade, why did he have to choose a Jew?“9 Barker Fairley hatte z. B. bereits vor fast einem halben Jahrhundert der Behauptung Ausdruck verliehen, dass „if the nomenclature had been reversed, the bad boy called Hans Unwirrsch and the good boy Moses Freudenstein, Der Hungerpastor would hardly be remembered today“,10 ein Argument, das von Michael Schmidt vor nicht allzu langer Zeit aufgegriffen wurde, als er insistierte, dass auch Texte wie Schüdderump und Zum wilden Mann — er hätte weitere anführen können — „an den Publikumserfolg des Hungerpastors [hätten] anknüpfen können, wären die Negativgestalten als Juden gekennzeichnet worden.“11
Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, Akt 4, Sz. 4.
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Literatur
Holub: Raabe’s Impartiality, S. 618.
Barker Fairley: Wilhelm Raabe. An Introduction to his Novels. Oxford 1961, S. 173.
Michael Schmidt: Marginalität als Modus der ästhetischen Reflexion. Juden und,unehrliche Leute‘im Werk Wilhelm Raabes. In: Rainer Erb/Michael Schmidt (Hrsg.): Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Berlin 1987, S. 381.
Raabe antwortete Franz Hahne auf die Frage, ob der Hungerpastor antisemitisch zu verstehen sei: „Durchaus nicht […] ich habe nur die Sehnsucht nach dem Licht und das Trachten nach äußerem Erfolg und ruchlosem Genuß darin gegenüberstellen wollen.“In: Mitteilungen für die Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes 31 (1941), S. 29.
Hans Otto Horch: Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur. Jüdische Figuren bei Gustav Freytag, Fritz Reuter, Berthold Auerbach und Wilhelm Raabe. In: Herbert A. Strauss/Christhard Hoffmann (Hrsg.): Juden und Judentum in der Literatur. München 1985, S. 165.
David B. Sandford: Der Hungerpastor and the Verus Israel. In: Germanic Notes and Reviews 27 (1996), S. 13.
Wilhelm Raabe: Höxter und Corvey. Eine Erzählung. Hrsg. v. Hans-Jürgen Schräder. Stuttgart 1981, S. 193.
Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe. The Fiction of the Alternative. Princeton, NJ 1987, S. 78.
Marketa Goetz-Stankiewicz: Die böse Maske Moses Freudensteins. Gedanken zum Hungerpastor. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1969), S. 7–32.
Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998, S. 157, Anm. 29.
Mark Howard Gelber: Aspects of Literary Anti-Semitism: Charles Dickens’ „Oliver Twist“and Gustav Freytag’s „Soll und Haben“, Ph.D. Diss. New Häven, Ct 1980, S. 19; vgl. dazu auch Sammons: Wilhelm Raabe, S. 81.
Josef Baß: Die jüdische Gestalt bei Raabe. In: Heinrich Goebel (Hrsg.): Raabe-Gedächtnisschrift. Hildesheim/Leipzig 1931, S. 65.
Raabe: Sämtliche Werke, Braunschweiger Ausgabe, Ergänzungsband 3; Seitenzahlen folgen Zitaten jeweils in Klammern.
Karl Schorn: Wilhelm Jensen. Der Mensch, seine Weltanschauung und seine Kunst. ( Diss.) Bonn 1923, S. 48.
Uwe-K. Ketelsen: Wilhelm Jensen - oder der Typus des Berufsschriftstellers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1997, S. 40.
Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur. Tübingen 1993, S. 137.
Wilhelm Raabe: Höxter und Corvey. Eine Erzählung. Hrsg. v. Hans-Jürgen Schräder. Stuttgart 1981, S. 190.
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Thunecke, J. (2002). „Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten“: Erwiderung auf Wilhelm Raabes Roman Der Hungerpastor in Wilhelm Jensens Die Juden von Cölln. In: Thielking, S. (eds) Raabe-Rapporte. Literaturwissenschaft/Kulturwissenschaft. Deutscher Universitätsverlag. https://doi.org/10.1007/978-3-322-81274-2_4
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