Zusammenfassung
Innerhalb der letzten dreißig Jahre sind nichtinvasive und invasive Untersuchungsverfahren (z.B. Ultraschall und Blutuntersuchungen einerseits und Chorionzottenbiopsien und Amniozentesen andererseits), mit denen der Gesundheitszustand bzw. die genetische Ausstattung des ungeborenen Kindes geprüft wird, zu einem selbstverständlichen Teil der gynäkologischen Schwangerschaftsvorsorge geworden (vgl. Baumann-Hölzle/Kind 1998; Nippert 1999; Hennen/Petermann/Sauter 2000; Baldus 2001). Die Sicherheitsversprechen der Medizin sind allerdings trügerisch: Weil bis heute nur ein Bruchteil der bestimmbaren Normabweichungen therapiert werden kann, eröffnet ein auffälliger Untersuchungsbefund lediglich die Möglichkeit, eine eigentlich erwünschte Schwangerschaft in einem fortgeschrittenen Stadium abzubrechen, wobei die Entscheidung über den Tod oder das Leben des Foeten fast immer unter der unsicheren Bedingung getroffen werden muss, dass der faktische Krankheitswert der Diagnose nicht prognostiziert werden kann. Unter den Bedingungen der Moderne, in der Elternschaft grundsätzlich als ein individuell zu verantwortendes biographisches Risiko erfahren wird (vgl. Beck-Gernsheim 1993; Schülein 1994; Pieper 1995; Vaskovics 1997; BeckGernsheim 1998), hat die Selektionslogik der PND dennoch rasch gegriffen: Im Durchschnitt kommt es länderübergreifend in 92% der Fälle, in denen beispielsweise ein Down-Syndrom gefunden wird, zu einer Eliminierung des Ungeborenen mittels einer vorzeitigen Geburtseinleitung (vgl. Baldus 2001, S. 4). Nachdem die Geburt eines behinderten Kindes seit Mitte der 1980er Jahre auch juristisch als ein vermeidbarer Schaden gilt1 und Ärztinnen aus Haftungsgründen dazu verpflichtet sind, auf genetische Testmöglichkeiten hinzuweisen2, muss das wissentliche Austragen eines Foeten, dem eine genetische Auffälligkeit bescheinigt worden ist, aber auch schon der Verzicht auf die PND besonders legitimiert werden, was vor allem die Frauen betrifft, die aufgrund ihres Alters oder ihrer Familienanamnese einer der medizinisch definierten Risikogruppen3 zugerechnet werden. Die Inanspruchnahme der Untersuchungen gilt hingegen als eine Routinehandlung, deren Problempotenzial nicht nur von den Anbietern, sondern auch von den Nutzerinnen der neuen Technologien so lange wie möglich ausgeblendet bzw. heruntergespielt wird (vgl. Friedrich/Henze/Stemann-Acheampong 1998).
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