Zusammenfassung
Jugendliche Peer-Groups zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine spezifische und für Außenstehende häufig kryptische Kommunikationskultur entwickeln, innerhalb derer sich Praktiken und Genres etablieren, die konstitutiv für die Herstellung der Gruppenidentität und der jeweiligen Einzelidentitäten sind. Zu den zentralen Praktiken der hier untersuchten männlichen Peer-Group gehören u.a. das Austragen unernster Konflikte und scherzhaft gerahmter Imageverletzungen. Da solche gruppentypischen Kommunikationsformen zu ihrer Entfaltung ganz besondere Bedingungen erfordern (z.B. Informalität, keine institutionelle Überformung, Aufgabenentlastetheit), wurden mit Blick auf das methodische Vorgehen Tonbandmitschnitte reiner Peer-Group-Interaktionen (sog. natürliche Gesprächsaufnahmen) angefertigt und unter Zuhilfenahme ethnographischen Wissens gesprächsanalytisch ausgewertet. Auf der Basis solcher natürlicher Gesprächsaufnahmen wird an zwei ausgewählten prototypischen Fällen gezeigt, wie jugendliche Peer-Group-Mitglieder Identität permanent zum Ausdruck bringen, beanspruchen, sich wechselseitig zuschreiben und aushandeln, um damit gleichzeitig bestimmte Positionen und Machtansprüche zu reklamieren. Die im präsentierten Material prominent vertretenen Genres Rissen’ und ‚Kontrollgeschichten’ werden zunächst unter Prozess- und Formparametern betrachtet, um sie dann funktional auszudeuten. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Fragen nach der Teilnehmerstruktur, dem Konfliktverlauf, der Identitätsaushandlung sowie dem Verhältnis von Spaß und Ernst. Deutlich wird, dass die Identitätsaushandlungen der Jugendlichen stets im kompetitiv-unernsten Modus vollzogen werden, der generell die Peer-Group-Interaktion kennzeichnet. Die mikroanalytische empirische Untersuchung alltagsweltlicher Praktiken der verbalen Interaktion in Peer-Groups eröffnet instruktive Einblicke in die interaktive ‚Feinmechanik von Prozessen der Identitätskonstitution und Selbstsozialisation von Jugendlichen.
Abstract
The paper reports on interaction practices of juvenile peer-groups consisting of 15 to 17 year old males. Based on the methodology of conversation analysis supplemented by ethnographic observation, (verbal) interactions among adolescents were recorded in various informal settings. The paper focuses on competitive and jocular practices which play a most important role for the accomplishment of local identities of the group and its individual members. Specifically, disputes and face-threatening acts which are framed as being merely jocular and not to be taken seriously are used in order to negotiate claims to identities, rights and statuses during the group’s interactions. The paper inquires into the participation framework, the sequential organisation and the relationship between fun and seriousness that is established by these practices, and asks for their specific function in terms of negotiation of situated identities.
Diese Arbeit entstand im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt ‚Kommunikationskulturen Jugendlicher’ (Kenn-Nr. NE 527/2–1). Das Projekt wurde von Prof. Dr. Klaus Neumann-Braun geleitet und unter Mitarbeit von Dr. Arnulf Deppermann und Axel Schmidt sowie Jana Binder in den Jahren 1998–2000 an der Goethe-Universität Frankfurt/M. durchgeführt. Die Projekt-Programmatik ist über den Beitrag von Neumann-Braun/Deppermann (1998) zugänglich, die Erträge des Projekts werden in einem resümierender Forschungsbericht (Neumann-Braun/Deppermann/Schmidt 2001) sowie dem hiesigen exemplarisch konzipierten Artikel vorgestellt.
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© 2002 Leske + Budrich, Opladen
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Neumann-Braun, K., Deppermann, A., Schmidt, A. (2002). Identitätswettbewerbe und unernste Konflikte: Interaktionspraktiken in Peer-Groups. In: Merkens, H., Zinnecker, J. (eds) Jahrbuch Jugendforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80893-6_12
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