Zusammenfassung
Wenn vielfach in der neueren Soziologie der Entwicklungssinn der modernen Gesellschaft dahingehend gedeutet wurde, daß die Gemeinschafts- und Gruppenordnungen der Vergangenheit durch eine ausgesprochene Individualkultur abgelöst worden sind, so ist damit gewiß etwas Richtiges erfaßt. Die Wirtschaftsgesellschaft des Kapitalismus hat in der Tat in einem bisher noch nie gesehenen Ausmaße den sozialen Prozeß auf das sozial-kulturelle Einzelindividuum und seine Leistung gestellt. Das gilt nicht nur für die wirtschaftliche Seite des Lebens, sondern letztlich für jede soziale Daseinsweise überhaupt, also auch für die Familie. So besteht eine ziemlich weitgehende Übereinstimmung in der Familiensoziologie darüber, daß die letzte Entwicklungsphase der Familie im Sinne der Entstehung eines individualistischen Familien typs zu begreifen sei. Am besten bringt dies Durkheims Begriff der „Gattenfamilie“ zum Ausdruck, die auf der höchst individuellen Vereinigung der Gatten als individueller Einzelpersönlichkeiten aufgebaut ist (wobei zugleich ein starker Einschuß an kontraktuellem Geist nicht zu übersehen ist). Weiter wird allseitig betont, daß die Familie gerade durch diese Individualisierung und durch die Kontraktion auf einen engsten Personenkreis, der um das Gattenpaar zentriert, eine ganz außerordentliche Erschütterung erfahren habe. Diese wird von manchen Theoretikern so hoch eingeschätzt, daß man immer wieder die Befürchtung hören kann, die moderne Gattenfamilie sei kaum mehr imstande, ihre angestammten Funktionen zu erfüllen. Wir müssen hinzufügen, daß diese Befürchtung sicher zu Recht besteht, solange die Familie wirklich als rein individuelle Gemeinschaft angesehen wird. Die Frage, die sich hier aufwirft, ist aber die, ob diese Definition der modernen Familie wirklich die zentrale Strukturver fas sung der Familie zum Ausdruck bringt, oder ob sie nicht nur der Niederschlag einer gewissen Übergangsperiode ist, deren Grenzen man sichtbar machen könnte.
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Literatur
Siehe dazu René König, Sociological Introduction zu Bd. 5 der International Encyclopedia on Comparative Law, Chicago 1974, Abschn. 80.
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J. Magidson, Das sowjetrussische Eherecht unter besonderer Berücksichtigung des Eheauflösungsrechts, Leipzig 1931.
Wir müssen ausdrücklich betonen, daß die Frage nach der zahlenmäßigen Determination der Gruppe, die in diesem Zusammenhang oft aufgeworfen worden ist, nur sekundär für die ganze Problematik von Bedeutung ist. Gewiß ist an dieser Frage die Problematik aufgerollt worden, etwa Theodor Utt, Individuum und Gemeinschaft, 2. Aufl. Leipzig und Berlin 1926, S. 234ff Auch Th. Geiger, a.a.O., S. 82ff, schließt sich ihm an. Aber im übrigen liegt das elentliche Schwergewicht des Ganzen anderswo.
Edward Westennarck, The History of Human Marriage, 3 Bde., 6. Aufl. London 1921, I, S. 72.
Dazu Th. Geiger, Die Gruppe und die Kategorien Gerneinschaft und Gesellschaft, in: Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58 (1927).
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William MacDougall, An Introduction to Social Psychology, 24. Aufl. London 1942, S. 228ff.
Vgl. Friedrich Alverdes, Tiersoziologie, Leipzig 1925.
Vgl. an Einzeluntersuchungen z. B. W Wunder, Brutpflege und Nestbau bei den Fischen, in: Ergebnisse der Biologie, VII, 1931.
Vgl. dazu etwa David Katt Sozialpsychologie der Vogel, 1926; dann noch Gustav Heinrich BrUckner, Untersuchungen zur Tierpsychologie, insbesondere zur Auflosung der Familie, in: Zeitschrift fur Psychologie 128 (1933).
Vgl. Robert Briffault, The Origin of Love, in: II: F. Calverton, Hrsg., The Making of Man, New York 1931; ders., The Mothers, New York 1931.
Besonders wichtig ist in dieser Hinsicht das Zeugnis eines Soziologen, der sonst durchaus von der Eigenart menschlich-sozialen Lebens überzeugt ist, wie Th. Geiger, Das Tier als geselliges Subjekt, in: Richard Thurnwald, Hrsg., Arbeiten zur biologischen Grundlegung der Soziologie, I, Leipzig 1931, S. 290
Auf Grund dieser Einsicht wurde dann auch zuzeiten der Erkenntniswert der Tiersoziologie fur die Humansoziologie vollig geleugnet, was nach obigen Bemerkungen zweifellos iibertrieben ist. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl. Tübingen 1956, S. 7/8.
E. Durkheim, Introduction ala sociologie de la famille, in: Annales de la Faculte des Lettres de Bordeaux 1888; Auseinandersetzung mit J Kohler, Zur Urgeschichte der Ehe, in: Annee sociologique, I (1896/97); vgl. zusammenfassend G. Daly, La famille et la parente d’apres Durkheim, a.a.O
Wie etwa im alten Rom. Ähnliches gilt auch für China; vgl. z.B. Marcel Granet, Le langage de la douleur d’apres le rituel funéraire de la Chine ancienne, in: Journal de Psychologie 1922 über die verschiedene Teilnahme des Sohnes und der Tochter beim Ableben des Vaters (neu abgedruckt bei Marcel Granet, Etudes sociologiques pour la Chine, Paris 1953).
Vgl. allgemein über kiinstliche Verwandtschaft Richard Thurnwald, Werden, Wandel und Gestaltung von Familie, Verwandtschaft und Bünden, Berlin 1932, S. 181ff.
C. N. Starcke, Die primitive Familie in ihrer Entstehung und Entwicklung, Leipzig 1888, passim.
Siehe Durkheim, Auseinandersetzung mit Ernst Grosse, Die Formen der Familie und die Wirtschaft, in: Annee sociologique, III, S. 370 u.ö
Sehr richtig weist E. Westermarck, The Future of Marriage in Western Civilization, London 1936, S. 4, auf die hohe Bedeutsamkeit dieses Tatbestands hin. Vgl. im iibrigen zur Unterstiitzungspflicht in der sowjetrussischen Gesetzgebung Pierre Chaplet, La famille en Russie sovietique, Paris 1929, S. 203ff.; Gregoire de Dolivo, Le mariage, ses effets et sa dissolution en droit sovietique, Lausanne 1936, S. 86ff. Fur, die allerneueste Gesetzgehung his 1968 siehe in diesem Bande das Kapitel „Entwicklungstendenzen der Familie im neueren Rußland“.
M. Grödinger (Minsk), Zur Reform des Familienrechts in der UdSSR, in: Ostrecht 1927, S. 34.
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König, R., Nave-Herz, R. (2002). Versuch einer Definition der Familie (1946/1974). In: Nave-Herz, R. (eds) Familiensoziologie. René König · Schriften · Ausgabe letzter Hand, vol 14. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80878-3_3
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