Zusammenfassung
Seit uralten Zeiten betrachteten Philosophen wie Piaton oder Hobbes, Geschichtsschreiber wie Livius oder Ärzte wie Harvey den Staat, die Gesellschaft, ja die Welt und den Kosmos als Analoga des menschlichen Organismus.1 Medizin und Politik, Anatomie und Gesellschaft schienen in geheimnisvoller Verbindung zu stehen. Niemand hätte es — die Hypothese sei gestattet — in der Antike oder Renaissance freilich für möglich gehalten, daß die Vorstellung des „Volkskörpers“ eines Tages dazu mißbraucht würde, einen Massenmord zu legitimieren. Tatsächlich benützte z.B. die politische Propaganda der Nationalsozialisten, um Euthanasie und Sterilisierung, ja Krieg und Holocaust zu rechtfertigen, häufig Metaphern, in welchen die Krankheitslehren der Ärzte wie selbstverständlich auf den „Organismus“ der Gesellschaft übertragen wurden. Vor dem Hintergrund der Gaskammern und Krematorien von Ausschwitz entwickelte sich so 1944 folgendes Gespräch zwischen der jüdischen Ärztin Ella Lingens-Reiner, die überlebt hat, und einem die Aktion überwachenden Arzt: „Ich frage mich, Dr. Klein, wie Sie diese Sache machen können. Müssen Sie nie an Ihren hippokratischen Eid denken? Und er sagte: „Mein hippokratischer Eid sagt mir, einen brandigen Blinddarm aus dem menschlichen Körper herauszuschneiden. Die Juden sind der brandige Blinddarm der Menschheit. Also schneide ich sie heraus…“
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Literatur
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Bergdolt, K. (2005). Mikrokosmos und Makrokosmos. In: Depenheuer, O. (eds) Staat und Schönheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80792-2_8
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