Zusammenfassung
Die Untersuchung der deutschen Verfassungstradition kann sich mit Ausnahme von 1848 und 1918 weder an den Revolutionseinschnitten orientieren, noch kann die Abfolge der Verfassungen wie in Frankreich als quasinatürliches Einteilungsraster politischer Selbstbeschreibung übernommen werden. Während in den frühkonstitutionellen Diskursen durchaus klare Ansätze zu einer „Integration durch Verfassung“ bestehen, die sich in entsprechenden Konstitutions-Entwürfen und in emphatischen Verfassungsbegriffen der politisch-konstitutionellen Diskurse niedergeschlagen haben, so sind die Verfassungen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bereits als deutliche Kompromissformen zu erkennen, die aus der vorherrschenden Konstellation zwischen Monarchie und Volkssouveränität entstanden sind. Sie sind Ausdruck des gewachsenen bürgerlichen Selbstbewusstseins gegenüber der monarchischen Obrigkeit. Die Verfassungen stellen hier jedoch von ihrer symbolischen Grammatik nicht den Gegenentwurf zum monarchischen Obrigkeitsstaat dar, sondern beziehen diesen in ihr symbolisches Dispositiv mit ein. Die Verfassungen des Vormärz sind keine Selbstbeschreibungsformen oder Gründungsdokumente revolutionärer, sich selber konstituierender Subjekte. Vielmehr sind es Deutungsangebote der sich reformierenden Obrigkeit, die teilweise im Dialog mit der bürgerlichen Gesellschaft, teilweise gegen diese in der Verfassung ihr Bemühen um eine adaptierte, nicht eine neue Ordnung darstellen will. Mit der Revolution von 1848 verändert sich diese Konstellation für kurze Zeit: Hier scheint sich der Gedanke von der autonomen bürgerlichen Gesellschaft als ein politisch sich selbst bestimmendes Subjekt durchgesetzt zu haben. Die Verfassung der Revolution und ihr schließliches Scheitern zeigen jedoch, dass ein tiefgehender Bruch, eine Umstellung des Legitimationssystems von der monarchischen Obrigkeit auf demokratische Volkssouveränität, auch hier nicht stattgefunden hat. Dem Verfassungsentwurf der Paulskirche fehlt deutlich die neugründende Emphase, was vor dem Hintergrund einer nicht institutionalisierten und unverankerten freiheitlich-demokratischen Tradition um so stärker ins Gewicht fallen musste. Ein politischer Willen, der 1848 das Gründungsdokument einer demokratischen Tradition hätte verfassen können, war nicht ausreichend vorhanden. Vielmehr konnten die hier gewährten Grundrechte ohne weitere Dissonanzen in den Kontext der preußischen Monarchie übernommen und dort für die rechtsstaatliche Liberalisierung von Oben instrumentalisiert werden. Die bereits 1848 zentrale Frage der Einheit der Nation war auch für das Kaiserreich erstrangig gegenüber Fragen der Verfassung. Der gegenseitige Bezug von Verfassung, Demokratie und Menschenrechten hatte sich spätestens hier bis auf weiteres aufgelöst. Auch die Weimarer Republik vermochte nicht, diese Verbindung dauerhaft herzustellen. 1
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© 2004 VS Verlag für sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
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Schulz, D. (2004). Die Verfassung in Deutschland vom Frühkonstitutionalismus bis zum Kaiserreich. In: Verfassung und Nation. Schriftenreihe „Verfassung und Politik“. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80639-0_4
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