Zusammenfassung
Was bedeutet es für einen Akteur, in einer Entscheidungsgesellschaft zu existieren? Dies ist die Frage, um die es in vorliegender Studie letztlich geht. Individuelle wie korporative Akteure stehen in der Moderne vor der Aufgabe, in immer mehr Situationen — vor allem in den als wichtig genommenen — entscheidungsförmig anstatt traditional, routineförmig oder emotional zu handeln. Dies konfrontiert die Akteure damit, trotz der Komplexität ihrer Entscheidungssituationen Rationalitätsansprüchen gerecht zu werden, die an sie gerichtet werden und die sie auch selbst an sich richten. Welche Praktiken begrenzter Rationalität geeignet sind, um den Ansprüchen zu genügen, hängt davon ab, wie hoch — auf hohem Niveau — die Entscheidungskomplexität ist. Auf einem sehr hohen Komplexitätsniveau muss der Akteur sich damit begnügen, wenigstens im Spiel zu bleiben, um zukünftige Chancen rationaleren Entscheidens zu wahren. Ein mittleres Komplexitätsniveau ermöglicht demgegenüber Inkrementalismus; und ist die Komplexität — nochmals: auf hohem Niveau — etwas geringer, wird auch Planung als anspruchsvollstes Bündel von Praktiken begrenzter Rationalität möglich.
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Literatur
Arnold Gehlens (1956; 1957) Zeitdiagnosen wählten einen ähnlichen Ansatzpunkt, wobei er — nicht ohne Ressentiments — eine Theorie der Überlastung des Menschen durch die Institutionenschwäche der Moderne entwickelte.
Generell sollte man mit anthropologischen Prämissen soziologischer Analysen äußerst zurückhaltend sein, wie immer wieder Niklas Luhmann (1985) mahnt. Allzu leicht werden dem individuellen Akteur qua seines Menschseins genau jene Merkmale angedichtet, die man gerade benötigt, um eine schlüssige soziologische Erklärung des jeweils betrachteten Phänomens fabrizieren zu können. Mit einer derartigen Selbstbedienungs-Anthropologie fallen Erklärungen nicht schwer — ob man nun soziale Ordnung auf den angeblichen Herdentrieb des Menschen oder Vergewaltigungen auf vermeintlich biologisch eindeutig determinierte Triebe zurückfuhrt.
Ein enges Institutionenverständnis, das darunter nur normative Regeln versteht (Mayntz/ Scharpf 1995: 40–43, 45), wird hier erweitert.
Im Kapitel 3 wurde Erwartungssicherheit nur in der Sozialdimension angesprochen. Diese steht auch hier im Zentrum, strahlt jedoch in die Sach- und die Zeitdimension aus.
Auch emotionales Handeln wäre ein Störpotential — allerdings eines, das mit einiger Erfahrung zumindest grob berechenbar wäre.
Natürlich kann das Neue auch transintentional in die Sozialwelt gelangen, etwa als koinzidentielle unerwartete Verknüpfung von Handlungen und ihren Wirkungen.
Etwa Kinder, Behinderte aller Art, „Neulinge“oder Ausländer. Siehe ausführlich Edgerton (1985: 49–126) über „rules about exceptions to rules“.
Eigene Ziele sind, soziologisch betrachtet, natürlich keineswegs völlige Eigenerfindungen des betreffenden Akteurs. Sie sind vielmehr weitgehend sozial geprägt, aber eben keine bloße Widerspiegelung der jeweils positional bedeutsamen Erwartungen der relevanten anderen.
Siehe nochmals Greshoff et al. (2003).
Zu „Drift“siehe am Beispiel von Biographien Sennett (199)
Zu beiden analogen Phänomenen siehe die Studien von Michel Crozier (1963; 1970).
So kann ja etwa auch „local action“oder das chinesische Strategiedenken dazu führen, dass Akteure auf der Stelle treten: „Local action elicits local action. In the process the context that elicits local action gets reproduced.“(Leifer 1991: 69) Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lauern die Akteure immer noch darauf, dass sie einen koinzidentiellen Vorteil erringen.
Auch in dieser Hinsicht wirken Rationalitätsfiktionen als Quasi-Normen. Normen zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass an ihnen auch dann festgehalten wird, wenn sie enttäuscht werden — anders herum gesagt: Wer eine Norm hochhält, will in dieser Hinsicht ganz bewusst nicht lernen (Luhmann 1972: 40–53).
Der im vorigen Kapitel angesprochene „dice man“, der seine Entscheidungen auswürfelt, agiert demgegenüber keineswegs ziellos. Er setzt sich immer wieder Ziele und lässt dann nur den Zufall bestimmen, welches Ziel er verfolgt.
Das Leben der englischen Schriftstellerin Charlotte Bronte ist ein wohl eher seltenes Beispiel dafür, dass zumindest über lange Jahre ein Modus Vivendi zwischen weitgehendem Sich-fügen in vorgegebene Lebensumstände auf der einen Seite und einer regen Phantasie, in der das „eigentliche“selbstbe-stimmte Leben stattfand, auf der anderen Seite aufrechterhalten wurde (Schimank 2002b: 175–220).
Siehe dagegen den Titel von Helmuth Plessners (1928) philosophischer Anthropologie: „Die Stufen des Organischen und der Mensch“.
Dieses Muster ist im Übrigen auch in Emile Durkheims (1893: 314–343) Erklärung gesellschaftlicher „Arbeitsteilung“als ein allgemein geltendes prominent.
Luhmann (2000c) bestimmt später den Besitz oder Nichtbesitz von Macht als binären Code der Politik und „progressiv/konservativ“lediglich als Zweitcodierung dieses primären Codes.
Man fühlt sich an Helmut Schelskys (1957) Frage erinnert, ob die „Dauerre-flexion“institutionalisierbar sei.
Man sollte allerdings nicht dem Fehler verfallen, Rhetoriken trennscharf Parteien oder einzelnen Politikern zuzuordnen. Höchstens näherungsweise ordnen sich korporative oder individuelle Akteure einer der Rhetoriken zu.
Zum Konzept des funktionalen Antagonismus und anderen Beispielen siehe Schimank (1994), Bette/Schimank (1999).
Die Gesellschaften des real existiert habenden Sozialismus illustrieren demgegenüber, dass beide fatalen Dysfunktionalitäten sogar koexistieren können, wenn eine Einparteienherrschaft zwar das Progressive im Munde führt, die Parteieliten aber vorrangig am Erhalt des Bestehenden, das ihnen ihre Privilegien sichert, interessiert sind.
Weil politische Parteien zu sämtlichen Themen politischen Entscheidens einen Standpunkt beziehen müssen, der jeweils intern mehrheitsfähig sein muss, bleiben im Parteienspektrum nur hochgradig generalisierte Konfliktlinien wie eben progressiv/konservativ übrig, auf die dann alle issue-spezifischen Konfliktlinien, gerade auch innerhalb einer Partei, abgebildet werden müssen. Diese Logik einer auf „diffuse support“(Easton 1965) in Wahlen ausgerichteten Parteipolitik sorgt dafür, dass im politischen Entscheiden der für Entscheiden generell konstitutive funktionale Antagonismus von Neuem und Status quo ziemlich in Reinkultur zum Ausdruck kommt.
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Schimank, U. (2005). Das Oszillieren der Entscheidungsgesellschaft: Der Akteur zwischen Erwartungssicherheit und dem Neuen. In: Schimank, U. (eds) Die Entscheidungsgesellschaft. Hagener Studientexte zur Soziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80606-2_10
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Online ISBN: 978-3-322-80606-2
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