Zusammenfassung
In diesem Kapitel will ich Versuchungen der Reifizierung einen methodologischen Riegel vorschieben. Dazu sollen die beiden Forderungen der Entschlüsselung des fraglos Gegebenen wie auch der Reifizierungsprävention zusammenfließen, wofür ich im ersten Schritt „Glaubwürdigkeitsgrenzen“im Forschungsablauf diskutiere (3.1). Dabei differenziere ich zwischen den beiden Perspektiven des Alltags und der Wissenschaft sowie den Phasen der Erhebung und der Auswertung im Forschungsablauf. Daran knüpfe ich zwei Strategien der Einlösung der methodologisch formulierten Forderungen. Es handelt sich erstens um das Verfahren der Entwidersprüchlichung. Dieses operiert auf der Mikroebene einzelner empirischer Einheiten wie Interviews, Gruppendiskussionen oder Beobachtungen und soll das Gesprochene und das tatsächlich Getane miteinander konfrontieren, um Widersprüche in den Darstellungen der Akteurinnen aufdecken zu können (3.2). Mit dem zweiten Verfahren der Kontextualisierung ergänze ich die in der Geschlechterforschung bislang praktizierte Technik der Maskierung von Geschlecht um die Theorietechnik der funktionalen Analyse. Dazu werde ich zwischen Explizitheit und Implizitheit der Thematisierung von Geschlecht einerseits und zwischen Anpassung und Abweichung als Medien des Explizitwerdens von Geschlecht andererseits unterscheiden. Dies zielt darauf, das Gesprochene von dem/der Sprecherin zu lösen, um Aussagen unvoreingenommen auf ihre Konstruktion von Geschlecht hin zu befragen.
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Literature
Bourdieu konkretisiert diese Einsehätzung: „Ich finde es höchst betrüblich, wenn ich beim Lesen von soziologischen Arbeiten feststelle, daß diejenigen, die die Objekti vierung der sozialen Welt zu ihrem Beruf gemacht haben, so selten in der Lage sind, sich selber zu objektivieren, und so oft gar nicht merken, daß ihr scheinbar wissen schaftlicher Diskurs weniger von ihrem Objekt als von ihrer Beziehung zum Objekt spricht.“(Bourdieu/Wacquant 1996: 99).
Carol Hagemann-White bezieht diese Beobachtung auf die Untersuchung von Männern und Frauen, der grundlegenden Gedanke bleibt jedoch der gleiche: Je genauer der Blick, desto mehr Gemeinsamkeiten zwischen Gruppen und Unterschiede innerhalb von Gruppen werden sichtbar. Schluss: Die Kategorie der Zweigeschlechtlich-keit erweist sich als zu undifferenziert und zu wenig trennscharf, und der soziologische Anspruch auf eine gruppenübergreifende Verallgemeinerbarkeit empirischer Aussagen erfahrt eine deutliche Relativierung. Denn zu vielfaltig sind die Positionierungen, die die Befragten entlang von Alter, Subkultur, Beruf, sozialem Milieu, Ethnizität etc. vornehmen. Daraus kann man durchaus den Schluss ziehen, dass eine Phänomenologie schönheitsrelevanten Handelns wichtiger sein könnte als die Beobachtung von Geschlechterdifferenzen, weil gleiche Praktiken für verschiedene Gruppen im Rahmen spezifischer Abgrenzungshorizonte verschiedene Bedeutungen haben. Dies tue ich hier nicht, bin mir aber darüber im Klaren, dass die Plausibilität der hier vorgetragenen Befunde ihre Stärke — ganz phänomenologisch — dem „individuellen Niveau“der Analyse verdankt: Instanz für die intersubjektive Überprüfung sind nicht statistische Daten, sondern der „Ja, so ist es auch“-Eindruck sachkundiger Leserinnen (vgl. Seiffert 1983: 47–51).
Vgl. dazu Karl Mannheims Ausführungen zur Perspektivität der Wahrnehmung und Erkenntnis (1952: 229–263).
Die bei Bourdieu zentralen Begriffe Habitus und Feld bezeichnen auch Bündelungen von Relationen: „Ein Feld besteht aus einem Ensemble objektiver historischer Relationen zwischen Positionen, die auf bestimmten Formen von Macht (oder Kapital) beruhen, während der Habitus ein Ensemble historischer Relationen darstellt, die sich in Gestalt der geistigen und körperlichen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata in den individuellen Körpern niedergeschlagen haben.“(Bourdieu/Wacquant 1996: 37).
Das ist zu diesem Zeitpunkt eine Hypothese. Es wäre interessant, sie anhand eines methodologischen Vergleichs von Gruppendiskussionen mit den Fragestellungen „Was bedeutet es für euch, sich schön zu machen?“und „Was bedeutet für euch Pornografie?“zu belegen (vgl. Degele/Schirmer 2004).
In vergleichbarer Weise spricht Pierre Bourdieu (1998: 76) bei der Konstruktion von Logik, Konsistenz und Konstanz in (autobiografischen) Erzählungen von der „Neigung, sich zum Ideologen des eigenen Lebens zu machen“.
In der funktionalen Analyse wird dafür die Beziehung zwischen Problemen und Problemlösungen spezifiziert, und spezifizieren heißt: engere Bedingungen der Möglichkeit angeben. Für empirische Wissenschaften bedeutet das zwar auch Rekurs auf Kausalität. „Allerdings besteht die funktionale Methode nicht einfach im Aufdecken von Kausalgesetzlichkeiten mit dem Ziel, sie bei Vorliegen bestimmter Wirkungen als notwendig (bzw. ausreichend wahrscheinlich) erklären zu können. Der Erkenntnisgewinn liegt gleichsam quer zu den Kausalitäten, er besteht in ihrem Vergleich. Man kann ihn erzielen, wenn Kausalitäten zunächst nur hypothetisch als noch nicht ausreichend erforscht unterstellt werden. Man muß dann nur die pure Hypothe-tizität der Kausalannahmen nicht vergessen, sondern in den Vergleich einbringen. Man kommt dann zu Aussagen wie: Wenn (es wirklich zutrifft, daß) Inflationen Verteilungsprobleme relativ konfliktfrei lösen (mit welchen Nebenfolgen auch immer), sind sie ein funktionales Äquivalent fur politisch riskantere, weil konfliktreichere politische Planung. Und erst auf Grund eines solchen Aussagengerüstes erscheint es dann als lohnend, die zu Grunde liegenden Kausalitäten empirisch zu erforschen“(Luhmann 1984: 85).
Dies ist auch mit Güte-/Erfolgskriterien kompatibel, wie sie die funktionale Analyse verficht: Einsichten besitzen einen um so größeren Erkenntniswert, „je verschiedener die Sachverhalte sind, an denen sie bestätigt werden können. Das Funktionieren trotz Heterogenität ist deshalb selbst eine Art Beweis“(Luhmann 1984: 90).
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© 2004 VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
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Degele, N. (2004). Methodologische Einlösung: Entwidersprüchlichen und Kontextualisieren. In: Sich schön machen. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80567-6_3
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-80567-6_3
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-14246-3
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