Zusammenfassung
Fragt man mit Pareto nach der Rationalität des menschlichen Handelns, dann gründet es in den meisten Fällen — soweit die Akteure mit ihrem jeweiligen Tun einen subjektiven Zweck verfolgen1 — auf logische Irrtümer und Täuschungen. Entweder irren die Akteure sich über die Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit der zum Einsatz gebrachten Mittel, wie im Falle magischer Praktiken. Oder aber sie schätzen die zu erwartenden Konsequenzen ihrer jeweiligen Entscheidungen — die ja in der Zukunft erst zum Tragen kommen — nur unzureichend ein. Derartige Fehlein-Schätzungen objektiver Zweck-Mittel-Relationen in Entscheidungssituationen sind nach Pareto dem praktischen Handeln inhärent. Sie gründen gemeinhin auf begrenztem Wissen der Akteure über die empirischen Gesetz- mäßigkeiten der jeweiligen Wirkungsbereiche und/oder auf der faktischen Komplexität und Unübersichtlichkeit gegebener sozialer Konstellationen. Absichts- volles und subjektiv scheinbar gut begründetes Handeln zeitigt deshalb vielfach unvorgesehene und ungewollte Konsequenzen. Lediglich in eng umzirkelten Handlungszusammenhängen wie der modernen Wissenschaft und Technik, in der Ökonomie und in Bereichen strategischer Planung, kann von rationaler Praxis im Sinne methodisch kontrollierter Zweck-Mittel-Rationalität gesprochen werden.
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Literatur
Dabei darf nicht übersehen werden, dass Pareto den soziologischen Gehalt der Marxschen Theorie destillieren wollte. Positive Würdigungen erfuhren dabei allerdings allein die Klassenkampftheorie -„ein Teil Soziologie, das den anderen Teilen überlegen ist“ (Les systèmes II, S. 328) — und eben die Lehre von den Ideologien. Über letztere schreibt er in einem bemerkenswerten Passus des Trattato: „The economic interpretation of history was a notable forward step for social science, bringing out as it did the contingent character of certain phenomena, such as morals and religion, which many people regarded and still regard as proclaiming absolute verities“ (Trattato, § 829). Insgesamt kümmerte Pareto sich aber weniger um die Feinheiten der kategorialen Konstruktion des marxistischen Theoriesystems, als vielmehr um seine populären Inter- pretationen und politische Wirkungen im Rahmen der sozialistischen Bewegungen des späten 19. Jahrhunderts. Seine Auseinandersetzung mit der Marxschen Kapital- und Werttheorie glich hingegen einem Scherbengericht. Sie ist mit den Überzeugungen und Paradigmen des Lausanner Wirtschaftstheoretikers a priori inkompatibel: „Diese (Marxens, M.B.) Werttheorie ist einfach, offensichtlich, aber leider auch völlig nutzlos“ (vgl. Les systèmes II, S. 370). Siehe ausführlicher zu Paretos Marx-Kritik: Les systèmes, II, Kapitel XIII und XIV; vgl. Bobbio 1971; ders. 1971; Lukic 1964; Maniscalco 1983, Kap. IV; Busino 1989. Kapitel 6, insb. S. 177–197, S. 201–205.
Sieht man von den dem Inhalt nach gleichgerichteten, aber im Vergleich Paretos mit Nietzsche gewonnenen Einsichten Gehlens ab (Gehlen 1941, S. 22, 28, 38).
Auf die grundlegende Differenz von Schütz’ Begriff der Handlungsrationalität zu Paretos (und Parsons’) Konzeption hat Richard Grathoff hingewiesen: Grathoff 1995, S. 165f
Genau das habe J. Bentham — bemerkt Pareto — in seinem Traktat über Sophismen (Bentham 1952) verkannt: „Bentham’s assumption is that the person who uses a fallacy recognizes it as such (insincerity) or that, if he fails so to recognize it, he is wanting in intelligence. As a matter of fact many fallacies that are current in a given society are repeated in all sincerity by people who are exceedingly intelligent and are merely voicing in that way sentiments which they consider beneficial to society.“ Und Pareto fügt hinzu: „Stattdessen werden viele Sophismen, die in einer Gesellschaft kursieren, mit vollkommener Ehrlichkeit von äußerst intelligenten Menschen wiederholt, die auf diese Weise Gefühle zum Ausdruck bringen, die sie für gesellschaftlich nützlich halten“ (§ 1397, dieser Passus wurde in der englischen Übersetzung unvollständig übernommen. Übersetzung ins Deutsche vom Verfasser, M.B.).
Hier ist vor allem an die Untersuchungen zur sog. „Sinnkonstitution“ in der Tradition der phänomenologischen Handlungstheorie von Alfred Schütz und Thomas Luckmann zu verweisen (siehe dazu zusammenfassend: Luckmann 1992).
Die Annahme von der „begrenzten Rationalität“ ist in den neueren Entscheidungstheorien der Organisation ein grundlegendes Paradigma. Siehe dazu v.a. Simon 1976; ders. 1993.
Umwege, Unterbrechungen, nachträgliche Zielmodifikationen und Mittelanpassungen bei der Verwirklichung von Entwürfen im Handlungsvollzug und deren Rückwirkungen auf die Sinnstruktur von Handlungen thematisiert auch die phänomenologische Theorie des sozialen Handelns, freilich ohne dabei Handlungen einseitig unter dem Gesichtspunkt des Scheiterns zu betrachten, wie das bei Pareto durchgängig der Fall ist. Siehe dazu vor allem Luckmann 1992, Kap. 6, S. 75–92. Darin gründet wohl auch Paretos pessimistische Weltsicht. A. Hirschman hat diesen dominierenden Grundzug von Paretos Denken in der auf eine Vergeblichkeitsrhetorik hinlaufenden Theorie von der historischen Zirkulation der Eliten’ präzise auf den Punkt gebracht (vgl. Hirschman 1991).
Ähnlich thematisiert die neuere kognitive Psychologie das Problem der Konsistenz bzw. „Konsonanz“ von (Selbst-)Wahrnehmung und Verhalten bei Individuen und Gruppen mit Bezug auf logische Stimmigkeit, kulturelle Normen, Meinungs- und Überzeugungsstandards sowie Erfahrungsdaten. Es sei daran erinnert, dass Leon Festingers klassische Theorie der Verarbeitung „kognitiver Dissonanzen“ mindestens vier „possible ways in which existing dissonance can be reduced“ identifiziert hat: Verhaltensanpassung, Umweltveränderung, Meinungsänderung und kommunikative Umde-finition der Situation (social support), schließlich: „adding a new cognitive element“. Die letztgenannte Strategie zielt darauf ab, ein neues Überzeugungs- oder Glaubenssystem zu übernehmen, „which effectively reduce the dissonance by reconciliation‘“ (Festinger 1957, S.23). Paretos Fragestellung kommt derjenigen Festingers somit ziemlich nahe. Die Theorie der Derivationen nimmt ihren Ausgang aber einzig von der letztgenannten Strategie, während die anderen Mechanismen im Grunde kein Thema für Pareto sind.
Wir lehnen uns hier an eine formale Definition Luckmanns an (1992, S. 44).
Pareto führt Kants Ethik, in der er freilich nicht anderes als eine „poesia metafísica“ sehen kann, als ein besonders wirkungsvolles Beispiel für metaphysisch begründete Derivationen der Moral an (Trattato, §§ 1514–1521).
Zu den Ursprüngen der ethischen Kasuistik siehe auch Les Systèmes I, S. 27ff.
Zur Rechtsrationalisierung der Naturrechtsphilosophie siehe Trattato, §, § 401ff., zum Solidaris-mus ebd., § 449ff.
Wir übernehmen damit Bobbios frühen Standpunkt, dass es sich bei der Residuenlehre um eine Vorwegnahme der „Nouvelle Rhetorique“ von Perelman und Olbrechts-Tyteca (1988) handelt -wenngleich freilich — fügen wir hinzu — unter entgegengesetzten, nämlich anti-rationalistischen Prämissen (vgl. Bobbio 1961/1971; siehe ferner Aqueci 1995).
Eine detaillierte Studie zu den soziolinguistischen Aspekten von Paretos „Theorie sozialer Diskurse“in der Schultradition der Semiologie von Jean-Blaise Grize und in Anlehnung an Jean Piaget hat Francesco Aqueci vorgelegt (Aqueci 1991, bes. Kapitel IV u. V; zu Grize siehe Busino (Hrsg.) 1987).
Das Interesse an diesem Thema der modernen Soziologie teilte Pareto — wie Boudon eindringlich aufgezeigt (und fortentwickelt) hat (Boudon 1990, 1995) — mit den anderen prominenten Repräsentanten der soziologischen Gründergeneration. Pareto greift also mit seiner Problemstellung eine zentrale Thematik auf, die in unterschiedlichen Ausführungen schon Emile Durkheim und Max Weber beschäftigte. In der Terminologie des Heidelberger Soziologen geht es um die Analyse der sozialen Relevanz von subjektiven Wertorientierungen (Wertrationalität) im Kontrast zu der funktio-nalistischen Zweckrationalität wie zu den soziologischen Grenzfällen irrationalen Verhaltens.
Siehe dazu die Anmerkung zu der von Sieveke herausgegebenen Rhetorik von Aristoteles (1993, S. 229)
Zwei extreme Pole dieser alten und müßigen Diskussion, welcher Richtung Pareto zuzuordnen sei, markieren die Arbeiten La Ferlas (1954) und Hirschmans (1991).
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Bach, M. (2004). Die Macht der Rhetorik. In: Jenseits des rationalen Handelns. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80559-1_8
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