Zusammenfassung
Die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder kann ihre Arbeit fortsetzen, das ist das zentrale Ergebnis der Bundestagswahl 2002. Aus der — geschrumpften — rot-grünen Bundestagsmehrheit leiteten führende Regierungspolitiker jedoch nicht nur den Anspruch auf eine weitere Amtszeit der rot-grünen Regierung ab, sondern reklamierten zusätzlich, vom Wähler ein Mandat erhalten zu haben, eine bestimmte inhaltliche Politik ins Werk zu setzen. So stellte Gerhard Schröder an die Spitze seiner Regierungserklärung vom 29. Oktober 2002 die Behauptung, die Wähler hätten der Regierung am 22. September 2002 den Auftrag erteilt, die soziale und ökologische Erneuerung der Bundesrepublik fortzusetzen, und zwar nach den Rezepten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen.1 Um diese Interpretation, die auf die mandate-Theorie2 zurückgreift, sinnvoll einsetzen zu können, hätten die Wähler der Regierungsparteien bei der Stimmabgabe ganz bestimmte Motive aufweisen müssen: Im Idealfall sollten sie wegen der inhaltlichen Vorstellungen der Parteien ihre Stimme abgegeben haben; zumindest dürfen aber die policy-Präferenzen der Wähler nicht im Konflikt mit den Vorschlägen und Konzepten der gewählten Parteien stehen. Daher erschiene die mandate-Interpretation beispielsweise problematisch, wenn die Wähler einer Partei zwar darin übereinstimmten, dass diese über attraktives Personal verfuge, aber deren Programmvorschlägen skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstünden.
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Literatur
Vgl. Mark Benney/A. P. Gray/R. H. Pear: How People Vote, London 1956, S. 15
Peter G. J. Pulzer: Political Representation and Elections in Britain, London 1967, S. 131–148.
Siehe hierzu klassisch David Buder/Donald Stokes: Political Change in Britain. Forces Shaping Electoral Choice, London 1969, S. 275–283
Cornelis van der Eijk/Broer Niemöller: Electoral change in the Netherlands, Amsterdam 1983, S. 41–82.
Vgl. Richard W Boyd: Electoral Change in the United States and Great Britain, in: British Journal of Political Science 15 (1985), S. 517–528, hier: S. 519.
Siehe auch Stanley Kelley Jr.: Interpreting Elections, Princeton 1983, S. 126–142.
Vgl. zur folgenden Analyse der Nichtwahl Harald Schoen/Jürgen W. Falter: Die Nichtwähler bei der Bundestagswahl 2002, in: Politische Studien 54 (2003), S. 34–43.
Siehe hierzu etwa Markus Freitag: Wahlbeteiligung in westlichen Demokratien, in: Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft 2 (1996), S. 101–134, hier: S. 108–113
Martin P. Wattenberg: Where Have All the Voters gone?, Cambridge 2002, S. 162–173 sowie, wenn auch methodisch problematisch, Eva Anduiza Perea: Individual characteristics, institutional incentives and electoral abstention, in: European Journal of Political Research 41 (2002), S. 643–673.
Die Wahlbeteiligung wird mit der im Anhang dokumentierten Frage erhoben; mit diesem Instrument wird die Partizipation überschätzt, wie in vielen anderen Umfragen auch. Siehe etwa Michael W. Traugott/John P. Katosh: Response Validity in Surveys of Voting Behavior, in: Public Opinion Quarterly 43 (1979), S. 359–377
John P. Katosh/Michael W Traugott: The Consequences of Validated and Self-reported Voting Measures, in: Public Opinion Quarterly 45 (1981), S. 519–535
siehe aber auch David Adamany/Mack C. Shelley: Encore! The Forgetful Voter, in: Public Opinion Quarterly 44 (1980), S. 234–240. Dazu tragen verschiedene Komponenten mit weitgehend unbekannter Gewichtung bei: Nichtwähler könnten für Interviews nur schlecht erreichbar und zu gewinnen sein, zweitens auf die Wahlabsichtsfrage „weiß nicht“ äußern und drittens eine Wahlteilnahme angeben. Aussagen über Zusammenhänge mit anderen Merkmalen können von dieser Verzerrungstendenz ebenfalls beeinträchtigt werden, und zwar dann, wenn die Überschätzung der Wahlbeteiligung mit dem Merkmal zusammenhängt, dessen Beziehung zur Stimmabgabe untersucht werden soll. Geht man etwa der Frage nach, wie stark das Gefühl, das demokratische Wahlrecht impliziere für die Bürger eine Wahlpflicht, die Wahlpartizipation fördere, könnten unter den NichtWählern jene mit einer verinnerlichten Wahlnorm systematisch häufiger wahrheitswidrig eine Wahlteilnahme angeben als Personen ohne Wahlpflicht-gefühl. Im Ergebnis führte dies dazu, dass das empirische Muster stärker als bei korrekter Messung der Wahlbeteiligung im Einklang mit der Hypothese steht, eine Wahlnorm steigere die Wahlbeteiligung; der Zusammenhang würde somit überschätzt.
Siehe etwa Paul F. Lazarsfeld/Bernard Berelson/Hazel Gaudet: The Peoples Choice. How the Voter Makes up his Mind in a Presidential Campaign, New York 1944.
Siehe zu diesem Erklärungsmuster etwa Jürgen W Falter/Siegfried Schumann: Nichtwahl und Protestwahl: Zwei Seiten einer Medaille, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/93, S. 36–49; Thomas Kleinhenz: Die Nichtwähler, Opladen 1995, S. 167–174.
Vgl. Angus Campbell/Philip E. Converse/Warren E. Miller/Donald E. Stokes: The American Voter, New York 1960, S. 120–167
vgl. zur Parteiidentifikation in der Bundesrepublik Jürgen W. Falter/ Harald Schoen/Claudio Caballero: Dreißig Jahre danach: Zur Validierung des Konzepts „Parteiidentifikation“ in der Bundesrepublik, in: Markus Klein/Wolfgang Jagodzinski/Ekkehard Mochmann/Dieter Ohr (Hrsg.): 50 Jahre Empirische Wahlforschung in Deutschland. Entwicklung, Befunde, Perspektiven, Daten, Wiesbaden 2000, S. 235–271
vgl. zur Wahlnorm in Deutschland Hans Rattmger/Jürgen Krämer: Wahlnorm und Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik Deutschland: Eine Kausalanalyse, in: Politische Vierteljahresschrift 36 (1995), S. 267–285.
Siehe ähnlich etwa Jürgen W Falter/Siegfried Schumann: Der NichtWähler — das unbekannte Wesen, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1990, Opladen 1994, S. 161–213
Thomas Kleinhenz: Die NichtWähler, Opladen 1995, S. 190–200
Rattinger/ Krämer (Anm. 14), Max Kaase/Petra Bauer-Kaase: Zur Beteiligung an der Bundestagswahl 1994, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1994, Opladen 1998, S. 85–112.
Vgl. Jürgen W. Falter/Hans Rattinger: Die deutschen Parteien im Urteil der öffentlichen Meinung 1977 bis 1999, in: Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.): Parteiendemokratie in Deutschland, Wiesbaden 2002, S. 484–503, hier: S. 489. Zudem ist durchaus umstritten, ob in den neuen Bundesländern tatsächlich Parteibindungen im Sinne des Parteiidentifikationskonzepts vorliegen.
Erwin K. Scheuch: Die Sichtbarkeit politischer Einstellungen im alltäglichen Verhalten, in: Rudolf Wildenmann/Erwin K. Scheuch (Hrsg.): Zur Soziologie der Wahl, Opladen 1965, S. 113–125, hier: S. 117.
Siehe etwa Cees van der Eijk/Broer Niemöller: Recall Accuracy and its Determinants, in: Acta Politica 14 (1979), S. 289–342
Ragnar Waldahl/Bernt Olav Aardal: The Accuracy of Recalled Previous Voting: Evidence from Norwegian Election Study Panels, in: Scandinavian Political Studies 23 (2000), S. 373–389.
Vgl. Harald Schoen: Den Wechselwählern auf der Spur: Recall- und Paneldaten im Vergleich, in: Jan van Deth/Hans Rattinger/Edeltraud Roller (Hrsg.): Die Republik auf dem Weg zur Normalität?, Opladen 2000, S. 199–226. Im Vergleich zu Aussagen über die Höhe der Wechselrate verzerrt die Recallme-thode Zusammenhänge der Wechselwahl mit anderen Größen nur relativ wenig.
Siehe hierzu auch Jürgen W. Falter/Harald Schoen: Wechselwähler in Deutschland: Wählerelite oder politischer Flugsand?, in: Oskar Niedermayer/Bettina Westle (Hrsg.): Demokratie und Partizipation, Wiesbaden 2000, S. 13–33.
Vgl. Erwin Faul: Soziologie der westdeutschen Wählerschaft, in: Dolf Sternberger/Friedrich Erbe/Peter Molt/Erwin Faul: Wahlen und Wähler in Westdeutschland, Villingen 1960, S. 135–315, hier: S. 225.
Vgl. Harald Schoen/Jürgen W. Falter: It’s time for a change! — Wechselwähler bei der Bundestagswahl 1998, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1998, Wiesbaden 2001, S. 56–89
Oscar W Gabriel: „It’s Time for a Change“ -Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens bei der Bundestagswahl 1998, in: Fritz Plasser/Peter A. Ulram/Franz Sommer (Hrsg.): Das österreichische Wahlverhalten, Wien 2000, S. 333–392, hier: S. 357–387.
Siehe auch Robert S. Milne/Hugh C. Mackenzie: Straight Fight. A study of voting behaviour in the constituency of Bristol North-East at the General Election of 1951, London 1954, S. 104–112
Robert S. Milne/Hugh C. Mackenzie: Marginal Seat. A Study of Voting Behaviour in the Constituency of Bristol North East at the General Election of 1955, London 1958, S. 116 f.
Valdimer O. Key: The Responsible Electorate. Rationality in Presidential Voting 1936–1960, New York 1966.
Vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V. (Hrsg.): Politbarometer 11/2002, Mannheim 2000; Infratest dimap (Hrsg.): DeutschlandTREND, November 2002.
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Schoen, H., Falter, J.W. (2002). Wahlsieg, aber auch Wählerauftrag?. In: Jesse, E. (eds) Bilanz der Bundestagswahl 2002. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80535-5_5
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