Zusammenfassung
Den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bildete der Befund, daß in zahlreichen westlichen Demokratien langfristig stabile Parteibindungen abschmelzen. An diese Beobachtung werden in der Literatur einige Vermutungen über daraus resultierende Veränderungen des Wählerverhaltens und der politischen Auseinandersetzung auf der Eliteebene geknüpft; es wird also auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene argumentiert. Obgleich in der Diskussion herausgearbeitet wurde, daß der analytische Kern der Frage nach der Zwangsläufigkeit von Wirkungen eines Dealignments auf das Wählerverhalten auf der Mikroebene liegt, wird daher die empirische Analyse in einem ersten Schritt für die drei ausgewählten Nationen untersuchen, wie sich die Parteiloyalitäten im Aggregat entwickelt haben und welchen Verlauf die Wechselaktivität bei nationalen Hauptwahlen genommen hat.
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Literatur
Befragte, die auf die Eingangsfrage mit „weiß nicht” antworteten oder keinerlei Angaben machten, wurden von der Analyse ausgeschlossen, weil aus diesem Antwortverhalten keine eindeutigen Schlußfolgerungen über die angezielten politischen Einstellungen gezogen werden können. Im Schrifttum werden diese Personen häufig den Parteilosen zugeschlagen und bilden in den USA den Kern der sogenannten ‚apoliticals‘ (siehe für eine Diskussion und einen Vorschlag zur weiteren Aufschlüsselung Wattenberg 1998: 36–49), weshalb die hier dargestellten Ergebnisse zur Häufigkeit und Stärke der Parteiidentifikation teilweise von den in der Literatur berichteten Befunden abweichen (siehe für Großbritannien etwa Webb 2000: 52; Clarke/Stewart 1984: 692–693).
Es entfällt damit die Möglichkeit, ‚pure independents‘ und ‚independent leaners‘ getrennt zu untersuchen. Dies erscheint insofern bedauerlich, als sich beide Gruppen in den USA und in Großbritannien empirisch in ihren politischen Einstellungen und Verhaltensweisen merklich unterscheiden (siehe Shively 1980; Clarke/Stewart 1984: 692–693; Keith et al. 1986, 1992; Biais et al. 2001: 12–17), weshalb die ‚independent leaners‘ zuweilen als „closet partisans“(Keith et al. 1992), also als verkappte Parteianhänger charakterisiert werden. Allerdings entspricht die Zusammenfassung beider Gruppen stärker der ursprünglichen Intention des Konzepts ‚Parteiidentifikation‘, da sie sich allein auf die Eingangsfrage stützt, die den langfristigen Charakter und die persönliche Bedeutung einer Parteibindung besser zum Ausdruck bringt als die Nachfrage unter den Respondenten, die sich anfangs als Parteilose zu erkennen geben (siehe Miller 1991).
Als Datengrundlage dienen in den USA die National Election Studies aus Präsidentschaftswahljahren, in Großbritannien die Querschnitterhebungen aus dem Projekt „Political Change in Britain“sowie aus den British Election Studies und in Westdeutschland ab 1980 die Politbarometer-Umfragen aus dem Monat der jeweiligen Bundestagswahl sowie für die Jahre 1972 und 1976 die Daten aus der zweiten Erhebungswelle der zu den Bundestagswahlen durchgeführten Kurzfristpanels (siehe für Details Anhang B). Indem die zweite Welle verwendet wird, soll mit den anderen Datenpunkten insofern Konsistenz hergestellt werden, als jeweils Befragungen kurz vor einer Wahl zugrunde gelegt werden, in denen die Verbreitung von Parteibindungen infolge wahlkampfbedingter Mobilisierungseffekte etwas höher hegt als in wahlfernen Zeiten. Mit der Entscheidung für eine Erhebung unmittelbar vor einer Wahl geht 1972 und 1976 aber ein Votum für eine zweite Panelwelle einher, in der die Parteibindungsraten zusätzlich infolge der Panelmortalität, der bevorzugt Menschen ohne oder mit nur schwacher Parteiloyalität zum Opfer fallen dürften, überschätzt wird; in hier nicht berichteten empirischen Analysen erwiesen sich die Effekte des Panelausfalls in diesen beiden Wiederholungsbefragungen jedoch als vergleichsweise gering, so daß die daraus resultierende Verzerrungen das Gesamtbild nicht gravierend verfälschen.
Die Frage, ob das Abschmelzen der Parteibindungen Indiz für eine wachsende Entfremdung der Bürger von den Parteien oder für Apathie gegenüber den Parteien sei, wurde in der Literatur zwar ausgiebig diskutiert, konnte aber nicht abschließend geklärt werden (siehe Nie et al. 1979; Wattenberg 1981; Craig 1985; Konda/Sigelman 1987).
Die vorliegende Arbeit bezieht sich ausschließlich auf Großbritannien, also England, Schottland und Wales; dagegen bleibt Nordirland — wie in empirischen Untersuchungen zum Wahlverhalten üblich (siehe etwa Rose 1974: 499) — wegen großer Unterschiede in der politischen Konfliktstruktur und in der Parteienlandschaft unberücksichtigt.
Auf die sehr umfangreiche Diskussion um das class dealignment und seine Wirkungen kann an dieser Stelle nur hingewiesen, aber nicht näher eingegangen werden (siehe etwa Franklin 1982; Crewe 1986; Heath et al. 1985, 1987, 1991; Dunleavy 1987).
Die Daten werden — wie in der Literatur üblich — repräsentativ gewichtet, auf eine politische Gewichtung wird dagegen verzichtet. Da die Randverteilungen der Stimmenanteile die tatsächlichen Wahlergebnisse nicht exakt abbilden, wurde mit einfachen politischen Gewichten experimentiert. Es zeigte sich allerdings, daß die Gewichtungsprozedur die empirischen Ergebnisse nur marginal, in keinem einzigen Fall auch nur annähernd in einem statistisch signifikanten Umfang verändert, weshalb sie für die vorgestellten Analysen entbehrlich erscheint. Aus den gleichen Gründen wird an dieser Stelle nicht auf kompliziertere Gewichtungsverfahren eingegangen, wie sie etwa zur Erstellung von Wählerwanderungsbilanzen benutzt werden (siehe hierzu etwa Liepelt/Riemenschnitter 1974; Hoschka/Schunck 1975, 1982; Küchler 1983; Laemmerhold 1983; Gehring 1994).
Die vorgestellten Werte beruhen auf eigenen Berechnungen anhand der in Anhang B aufgeführten Datensätze. Sie unterscheiden sich zum Teil erheblich von den in der Literatur ausgewiesenen und uneinheitlichen Ergebnissen (siehe etwa Granberg/Holmberg 1988: 171; Katz 2001: 75; Zelle 1995a: 112–115). Die Diskrepanzen beruhen, soweit sie mit den entsprechenden Autoren überhaupt geklärt werden konnten, auf Codier- oder Rechenfehlern in den früheren Analysen (vgl. e-mails von Russell J. Dalton vom 19.7.2000 sowie von Martin P. Wattenberg vom 9.10.2000).
Wegen der geringen Validität der Recallfrage wurde in der Erhebung zur Präsidentschaftswahl 1984 auf sie verzichtet (vgl. Zelle 1995a: 113).
Die hier ausgewiesenen Werte unterscheiden sich teilweise ganz erheblich von den Niveaus, die in der vorliegenden Literatur berichtet werden (siehe Heath et al. 1991: 20; Denver 1994: 75; Field 1994: 157; Katz 2001: 74–76).
Ein Vergleich der hier berichteten Ergebnisse mit Befunden aus dem Schrifttum wird dadurch erschwert, daß manche Autoren die Definition und Operationalisierung der Wechselwahl ungeklärt lassen (siehe etwa Raschke 1965: 76; Kaltefleiter 1976: 3; 1981: 3; Dalton 1993: 105–106; Conradt 1993: 124; Bürklin 1995: 108).
Für die lagerinternen und die lagerübergreifenden Wechsel ergeben sich folgende gerundeten Prozentsätze: 1972: 4/8, 1976: 3/9, 1980: 4/7, 1987: 7/6, 1990: 6/6, 1994: 8/11, 1998: 8/12.
Alternativ wird in der Literatur als Erklärung für das vorgefundene Muster darauf hingewiesen, daß Koalitionen es erschwerten den Wählern, zwischen den einzelnen Partnern zu unterscheiden, weshalb nur selten innerhalb der Grenzen eines politischen Lagers gewechselt werde (siehe Henn 1998: 35; siehe aber auch Lewis-Beck 1988: 108–109). Dieses Argument überzeugt jedoch nicht, da — wie in Abschnitt 3.3 gezeigt — eine große Ähnlichkeit zwischen zwei Objekten für eine überdurchschnittliche Wechselwahrscheinlichkeit zwischen ihnen spricht.
Von Paneleffekten wird an dieser Stelle abgesehen. Direkte Wirkungen der Teilnahme an einer Erhebungswelle auf die Interviewantworten in einer späteren Welle erscheinen angesichts der in der Regel mehrjährigen Panelintervalle ausgeschlossen. Theoretisch nicht von vornherein unplausibel sind Wirkungen des ersten Interviews auf politische Einstellungen und Verhaltensweisen der Respondenten, die in späteren Erhebungswellen ihren Niederschlag in den Interviewangaben finden; weil dafür bislang jedoch keine überzeugende empirische Evidenz vorliegt (siehe S. 100–101) und auch theoretische Überlegungen für allenfalls marginale Effekte sprechen, bleiben diese Wirkungen an dieser Stelle ebenfalls unberücksichtigt.
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Schoen, H. (2003). Dealignment und Wechselwahl — Empirische Befunde auf der Aggregatebene. In: Wählerwandel und Wechselwahl. Studien zur Politikwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80478-5_5
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-14066-7
Online ISBN: 978-3-322-80478-5
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