Zusammenfassung
Die Frage nach dem Verhältnis von Tabu und Recht provoziert, repräsentieren doch beide Begriffe diametral gegenläufige, einander widersprechende Lebenswelten: das Tabu steht für archaische Denkstrukturen, irrationale und tribale Verhaltensweisen, Recht hingegen für rationale Gestaltung der Welt aus dem Geiste aufgeklärter Vernunft. Das Tabu steht gleichsam quer zum neuzeitlichen Prozeß der Aufklärung und Rationalisierung aller Lebensbereiche. Anders als der Mensch des Mittelalters hat der Mensch der Neuzeit gegenüber der ihn umgebenden Lebenswelt „das Gefühl eigener Souveränität“.1 Er erforscht und entdeckt mit unbändiger und unbegrenzter Neugier die Welt, macht sie sich Untertan und schwingt sich im Zuge des technologischen Fortschritts gar zum Herren über Leben und Tod auf. Der moderne Mensch duldet weder Tabus noch Geheimnisse, die ihm nur Herausforderung sowie Ansporn zu noch mehr Aufklärung, andernfalls ein Ärgernis sind.
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Literatur
Jakob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien [1859], 1976, S. 123 ff., 128 ff.
Zu Begriff und Ideengeschichte Winfried Trusen, Gutes altes Recht und consuetudo — Aus den Anfängen der Rechtsquellenlehre im Mittelalter, in: Festschrift für Günther Küchenhoff, 1972, S. 190 ff.; weitere Nachweise bei Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, 1970, S. 120.
Vgl. nur Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Das Gesetz als Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998; ders., Grenzen und Alternativen von Steuerung durch Recht, in:
Dieter Grimm (Hg.), Wachsende Staatsaufgaben — sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 217 ff.
Otto Depenheuer, Zufall als Rechtsprinzip? — Der Losentscheid im Rechtsstaat, JZ 1993, S. 171 ff.;
Andreas v. Amauld (Hg.), Recht und Spielregeln, 2003.
Vgl. Otto Depenheuer, „Der Staat ist um des Menschen willen da“. Kölner Humor als Quelle staatsphilosophischer Erkenntnis, Kölner Antrittsvorlesung vom 31. Januar 2001, herausgegeben vom Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft, 2001, zugleich Weihnachtsgabe 2001 des Verlages Duncker & Humblot, Berlin.
So etwa Matthias Kaufmann, Gefahr und Chance durch Grenzüberschreitung. Tabus und Tabuverletzungen im Recht, in: Winfried Brugger/Görg Haverkate (Hg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP-Beiheft 84, 2002, S. 23, 33.
Vgl. Zygmunt Baumann, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, 1992, insbes. S. 35 ff.
Vgl. gleichsinnig Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen [1793], 4. Brief (S. 348): „Einheit fordert die Vernunft, die Natur aber Mannigfaltigkeit, und von beiden Legislationen wird der Mensch in Anspruch genommen. Das Gesetz der ersten ist ihm durch ein unbestechliches Bewußtsein, das Gesetz der andern durch ein unvertilgbares Gefühl eingeprägt.“
Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Sechster Satz, in: Werkausgabe (hg. v. Wilhelm Weischedel), 1968, Bd. XI, S. 41.
Friedrich Schiller (N 8), 15. Brief, S. 385. — Zum Spiel als Kulturerscheinung: Johan Huizinga, Homo ludens — Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1930], 1987.
Nachweise: Otto Depenheuer, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: WDStRL 55 (1995), S. 90 ff., 100 f.
Zur Vertragstheorie: Alfred Voigt (Hg.), Der Herrschaftsvertrag, 1965;
Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 152 ff.;
Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 1991, S. 280 ff.
Depenheuer, (N 11), S. 103 f., 109.
Gerd Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, JZ 1992, S. 929 ff., 929 f.
Nachweise: Depenheuer (N 13) S. 291 ff., S. 301 ff.
Das Unbewußte [1915], in: Sigmund Freud, Das Ich und das Es (hg. von Alex Holder) 1992, S. 117 ff., 141 ff.; Das Ich und das Es [1923], in: ebda, S. 254 ff.
Vgl. Grete Henry-Hermann, Die Überwindung des Zufalls, 1985; Depenheuer, (N 4), S. 175.
Depenheuer, Solidarität (N 13), 338 ff.
Niklas Luhmann, Komplexität und Demokratie, in: ders., Politische Planung, 1971, S. 35 ff., 44.
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Auf. [1787], Cassirer-Ausgabe, Bd. III, 1913, S. 25.
Bspe.: BVerfGE 84, 9 ff. (Namensrecht), dazu Depenheuer (N 4), S. 177 f.; BVerfGE 93, 1 ff. (Kruzifix in staatlicher Schule); BVerfGE 93, 266 ff. („Soldaten sind Mörder“); BVerfG NJW 2002, S. 2543 ff. (eingetragene Lebenspartnerschaft).
Grundsatzkritik: Charles Tayler, Negative Freiheit? [1985], dt. 1988.
Vgl. dazu auch: Otto Depenheuer, Grundrechte und Konservativismus, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Band 1, 2004, § 11 insbes. Rn. 26 ff.
Exemplarisch: Thomas Hobbes, Leviathan [1651], 17. Kap.
Vgl. nur Stephan W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit [1988], dt. 1988, S. 26 ff., 211 f.
Brian Rotman, Die Null und das Nichts [1987], dt. 2000.
Die kritisch gemeinte Bemerkung von Leo Strauss (Naturrecht und Geschichte, 1956, S. 4), daß die Wissenschaft „Vernunft im kleinen und Wahnwitz im großen“praktiziere und deswegen eines Orientierung gebenden Naturrechts bedürfe, erscheint in diesem Kontext als zutreffende Beschreibung eines unvermeidlichen und nicht hintergehbaren Dilemmas.
Vorzügliche Analyse: Niklas Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, S. 326 ff.
Zum existenzphilosophischen Hintergrund vgl. Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland, 1994, S. 205 ff. Exemplarisch-zeitgenössisches Beispiel einer Atheistin, die zum Islam konvertierte: „Mit dem Kopftuch kam der Seelenfrieden“, FAZ v. 2. 6. 2003, S. 40.
Hier öffnet sich das Dilemma einer jeden Glaubenslehre zwischen dem Verzicht auf Vernunft und dem Wagnis theoretischer Durchdringung, die zu Beginn der Neuzeit exemplarisch in den Antipoden Abelaerd einerseits und des hl. Bernhard von Clairvaux andererseits ausgetragen wurde, vgl. Will Durant, Kulturgeschichte der Menschheit [1950/53], Bd. 7, 1978, S. 104 ff., 117 ff.
Mit diesen Worten läßt Henrik Ibsen in seinem Schauspiel „Die Wildente“[1885], 5. Akt, Dr. Relling die wohltätige Funktion des Tabus umschreiben.
Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung, 1984, S. 34 f.
Überblick: Roger Shattuck, Tabu. Eine Kulturgeschichte des verbotenen Wissens, 1996.
Vgl. nur Niklas Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, S. 113, 125 ff.
Vgl. nur Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 59 f.: „Das Wesen des Wesens ist unbekannt“.
Zum Problem: Peter Lerche, Grundrechtsschranken, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd.V (1992), § 122 Rn. 29.
Zum Problem: Wolfram Höfling, in: Michael Sachs, Grundgesetz, 2. Aufl., 1999, Art. 1 Rn. 6 ff.
Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 273 am Ende, in: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Band 7, 1970, S. 439.
Vgl. Kondylis (N 32), S. 54 ff., 62 f., 119 ff.
Depenheuer, Solidarität (N 13), S. 296 ff.; Josef Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, JZ 1999, S. 275 ff.; ders., Die vielen Staaten in der einen Welt — eine Apologie, in: ZSE 1 (2003), S. 7 ff.
Zu den machtpolitischen Implikationen jeder tabuierten Grundentscheidung vgl. Kondylis (N 32), S. 34 f.
Vgl. auch den Sammelband Otto Depenheuer (Hg.), Recht und Vertraulichkeit. Theorie und Praxis der politischen Kommunikation, 2001.
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Depenheuer, O. (2003). Recht und Tabu — ein Problemaufriß. In: Depenheuer, O. (eds) Recht und Tabu. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80477-8_1
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