Der Beitrag der kanadischen Verfassungsgerichtsbarkeit zur Integration nationaler Minderheiten

Zusammenfassung

Verfassungen können eine integrierende Funktion ausüben, wenn sie die Leitideen der jeweiligen Gesellschaft repräsentieren.¹ Diese symbolische Funktion von Verfassungen trifft dort auf besondere Schwierigkeiten, wo die politische Kultur aufgrund von ethnokultureller Vielfalt stark divergierende Leitideen beinhaltet. Eine Gesellschaft, auf die das in besonderem Maße zutrifft, ist die kanadische. Der kanadische Bundesstaat ist seit längerem von einer anhaltenden Tendenz zur Desintegration gekennzeichnet. Deren wichtigster Grund ist das Streben der Provinz Quebec nach verfassungsmäßiger Anerkennung ihres besonderen Charakters als Heimat von 90 Prozent der kanadischen Frankophonen und nach einem höheren Maß an Autonomie innerhalb der kanadischen Föderation. Seit den 1960er Jahren hat sich in Kanada eine lebhafte Verfassungsdebatte entwickelt, die auch 1982 mit dem Constitution Act kein Ende fand, da Quebec seine Zustimmung zur Verfassungsreform verweigerte. Diese steht bis heute aus, weil wesentliche Forderungen -die Anerkennung als société distincte und ein damit verbundener Sonderstatus in der Föderation, der sich unter anderem in einem Vetorecht bei Verfassungsänderungen ausdrücken könnte - bisher nicht erfüllt wurden. Versuche, Quebec in die kanadische Verfassungsfamilie zurückzuholen, sind bislang gescheitert: Der Meech Lake Accord (1987) überstand das Ratifizierungsverfahren in zwei Provinzen nicht, der Charlottetown Accord (1992) wurde per Referendum durch die kanadische Bevölkerung gekippt.