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Die Leitideen der phänomenologischen Philosophie

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Part of the book series: Phaenomenologica ((PHAE,volume 225))

Zusammenfassung

Das zweite Buch der Ideen hätte die konkrete Konstitutionsanalyse der Begriffe von Natur und Gemeingeist auf der Grundlage der im ersten Buch eingeführten phänomenologischen Einstellung durchführen sollen. Husserl sah zwei Herausforderungen für den Aufstieg einer systematischen, streng wissenschaftlichen Philosophie: die Möglichkeitsbedingungen der modernen „Entdeckung der Natur“ durch die Mathematisierung der Naturwissenschaften zu klären; und eine Ontologie für die Geisteswissenschaften aus den grundlegenden Einsichten zu entwickeln, die zur „Entdeckung des Gemeingeistes“ geführt hatten. Diese Dualität ist freilich nicht das Ergebnis, sondern der Ausgangspunkt von Husserls Ansatz.

Ihm zufolge bilden Natur und Gemeingeist die Leitfäden für zwei grundlegend verschiedene Einstellungen: die naturalistische und die personalistische Einstellung. Die erste erklärt alles durch zeiträumliche Indexierung in einem kausalen Zusammenhang, während die zweite die Welt als ein sinnvolles, intentionales Geflecht versteht. Beide Einstellungen bringen jedoch als Nebenfolge der Überinterpretation ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse zwei etablierte Formen des Skeptizismus mit sich: Naturalismus und Historizismus. Um beide zu widerlegen, beabsichtigt Husserl eine wechselseitige Klärung der Begriffe von Natur und Gemeingeist, indem er die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Probleme der Naturwissenschaften zugleich mit der Begründung der Geisteswissenschaften anpackt.

Abstract

The second book of Ideas was meant to perform concrete constitutional analysis of the concepts Nature and Common Mind on the basis of the phenomenological attitude introduced in the first book. Husserl envisaged two challenges for the rise of a systematic, rigorous scientific philosophy: to clarify the condition of possibility for the modern ‘discovery of Nature’ through the mathematisation of natural sciences; and to develop an ontology for the social sciences out of the deep intuitions that led to the ‘discovery of the Common Mind (Gemeingeist)’. This duality is not the result of Husserl’s approach, but rather its point of departure.

According to Husserl, Nature and Common Mind are the leading clues for two radically different attitudes: the naturalistic and the personalistic, respectively. The first attitude considers everything as causally connected and spatio-temporally indexed; whereas the second understands the world as a meaningful, intentional network. However, both attitudes generate, as a side-effect of the over-interpretation of their scientific results, two mainstream metaphysical forms of skepticism: naturalism and historicism. In order to reject these, Husserl aims for a mutual clarification of the concepts of Nature and Common Mind by simultaneously assessing both the epistemological problems of the natural sciences and the foundation of the humanities.

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Notes

  1. 1.

    In der allgemeinen Einführung in die Phänomenologie, die Husserl mit dem ersten Buch der Ideen 1913 vorlegte, wurde die Rolle der Intersubjektivität jedoch nicht weiter berührt, da Husserl davon ausging, die Fortführung seines Veröffentlichungsplans ohnehin bald umzusetzen, d. h., diese Thematik im folgenden zweiten Band ausreichend darstellen zu können.

  2. 2.

    Es ist weitgehend umstritten, inwiefern man Husserl als einen Systematiker bezeichnen kann. Oft werden seine Schulung als Mathematiker und Naturwissenschaftler und die manchmal irritierende Leichtsinnigkeit, mit der er sich der traditionellen philosophischen Terminologie bedient, als Hinweise dafür genommen, dass er ein philosophischer Autodidakt gewesen sei. Das mag stimmen, obwohl er meines Erachtens nicht die Philosophien, sondern das Philosophieren der Tradition besser kannte, als er zugeben wollte. Sicher ist, dass ihm ein ausgeprägter philosophischer habitus scientiae innewohnte, nicht im Sinne der akademischen Schulung und der Aneignung philosophischer Lehrbücher, sondern vielmehr in seiner durchaus systematischen Zielsetzung und strengen selbstkritischen Haltung: jenem „Habitus innerer Freiheit“ gegen seine eigene Ausführungen, der zugleich zur Größe seiner Philosophie, aber auch zu Verwirrungen seiner Schüler beitrug. Es ist jedoch zu bemerken, dass Husserls Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie hier keineswegs als autodidaktisch bezeichnet werden soll, da er vielmehr in einer besonderen Strömung der Philosophie der Philosophiegeschichte zu verorten ist, die Mulligan (1997) als eine ante litteram analytische Einstellung hinsichtlich der Ideengeschichte definiert, die von Bolzano und Brentano bis zu Bennett und Barnes reiche. Diese Strömung zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Vertreter an einen tatsächlichen Fortschritt in der Philosophie glauben, der die Ideengeschichte nicht nur in einer sachlichen, sondern auch in einer normativ-idealen Hinsicht für ein wissenschaftliches Verständnis der Philosophie relevant macht.

  3. 3.

    „Ich schätze, dass, entfernte man die Ohren, die Zungen und die Nasen, wohl die Gestalten blieben, die Zahlen und die Bewegungen, aber doch weder die Gerüche noch die Geschmäcke und die Geräusche, die außerhalb des lebendigen Tieres – glaube ich – nichts anderes sind als Namen, genauso wie auch nichts anderes als Name ist das Kitzeln und die Erregung, entfernt [man] die Achseln und die Haut um die Nase.“ Galilei (1623) in Galilei (1968, S. 348 f.); vgl. Bellone (2004, S. 30); Übersetzung: E.C.

  4. 4.

    „Die Philosophie steht in diesem sehr großen Buch geschrieben, das uns ständig offen vor Augen liegt (ich meine das Universum). […] Es ist in mathematischer Sprache geschrieben.“ Galilei (1623) in Galilei (1968, S. 232); vgl. Bellone (2004, S. 30); Übersetzung: E.C. Zu erwähnen ist ferner, dass Galilei einen Relativitätssatz im Bereich derselben primären Qualitäten formulierte, indem er die Bewegung als eine Variable im Koordinatensystem setzte. Vgl. Bellone (2004, S. 40 f.); Übersetzung: E.C.

  5. 5.

    In diese Bestrebung sind sowohl seine Veröffentlichungen Formale und transzendentale Logik (1929) und die Krisis der europäischen Wissenschaften (1936) als auch die posthum erschienenen Schriften Erfahrung und Urteil und das größere Krisis-Werk einzugliedern (vgl. Hua XVII und Hua VI).

  6. 6.

    Für Husserl ist Galilei aufgrund seiner methodologischen Unklarheit über den relativen Sinn der Mathematisierung zugleich „entdeckender und verdeckender Genius“ (Hua VI, 53), Entdecker der Natur und zugleich „Verdecker“ der mathematisierenden Leistungen. Zu dieser Ambivalenz vgl. Blumenberg (1980, S. 44 f.).

  7. 7.

    Für eine kritische Überprüfung der direkten Anwendung phänomenologischer Methoden auf die Idee konkreter Nationen im Ausgang von Edith Steins Begriff des Erlebnisstroms der Gemeinschaft vgl. Caminada 2015.

  8. 8.

    Da Husserl sich beider Ausdrücke bedient, um dieselbe Intuition zu bezeichnen, ist es m. E. angebracht, den ersten Ausdruck als Umgrenzung des Forschungsgebietes und den zweiten als Hinweis auf die methodische Herangehensweise zu betrachten.

  9. 9.

    Hegel und seiner Philosophie dagegen gewährt Husserl keinen Kredit. Bei Hegels System habe das bei Kant und Fichte noch zumindest als Prätention geltende Ideal der strengen Wissenschaftlichkeit der Philosophie eine maßgebliche Schwächung erfahren. Durch die Bewilligung jeder Philosophie als Form und Figur ihrer Zeit habe Hegel den Historizismus zum metaphysischen Absoluten gemacht. Husserls äußerst kritische Meinung hinsichtlich des Deutschen Idealismus spiegelt Brentano s Grundansicht wider, welcher zuvor schon die Philosophie wieder der strengen Wissenschaftlichkeit annähern wollte (vgl. Boehm 1968, S. 21).

  10. 10.

    Diese Aufgabe stellt Husserl bewusst im Sinne von Diltheys Bestrebungen, andererseits wirft er diesem ausdrücklich vor, dass eine methodologische Begründung der Geisteswissenschaften nicht zugunsten einer Abkehr vom Ideal einer wissenschaftlichen Philosophie stattfinden solle. Diltheys dezidierte Ablehnung jeder Form von Metaphysik mag ihm gleichwohl ermöglichen, aus den Geschichtsphilosophien des Deutschen Idealismus Begriffe zu schöpfen wie „subjektiver“ und „objektiver Geist “, „Gemeingeist“, „Veräußerlichung“ und „Verinnerlichung“, „Entwicklung“ usw., welche, ihrer philosophischen Schwere entkleidet, die ihnen zugrunde liegenden Intuitionen als deskriptive Begriffe hervortreten lassen können, vgl. Hartmann (1933, S. 1–44). Husserls Kritik an Dilthey in Philosophie als strenge Wissenschaft, die Dilthey wieder dazu brachte, mit ihm per Brief Kontakt aufzunehmen, um von ihm eine Erklärung seiner Vorwürfe zu verlangen, betrifft zwei besondere philosophische Mängel: den Verzicht auf eine systematische Metaphysik und das Fehlen einer systematischen Ontologie des Geistes.

  11. 11.

    Man kann den Weg seiner Philosophie als eine Überwindung dieses Dualismus im Projekt der konkreten Ontologie der Lebenswelt verstehen (s. Abschn. 10.3).

  12. 12.

    So scheint z. B. Merleau-Ponty den deutschen Begriff „Gemeingeist“ vor allem als Kommunikation und Sprache zu verstehen (vgl. Merleau-Ponty 1960, S. 133 f.).

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Caminada, E. (2019). Die Leitideen der phänomenologischen Philosophie. In: Vom Gemeingeist zum Habitus: Husserls Ideen II. Phaenomenologica, vol 225. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-97985-4_3

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