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Über begriffliche Vorstellungen

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Kasimir Twardowski

Part of the book series: Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis ((WIENER KREIS,volume 25))

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Zusammenfassung

I. Die Unterscheidung anschaulicher und unanschaulicher oder begrifflicher Vorstellungen ist seit jeher üblich und anerkannt. Bereits Aristoteles hat den Gegensatz zwischen dem, was sich anschaulich, und dem, was sich bloß unanschaulich vorstellen lässt, in den Ausdrücken τα αισθετα und τα νoετα festgelegt (z. B. [Aristoteles 1884: II. 8. 432 a 12–14], oder [Aristoteles 1886: I. 8. 990 a 31–32]). Denselben Gegensatz charakterisiert Descartes in den Meditationen folgendermaßen: „Wenn ich mir ein Dreieck bildlich vorstelle (imaginor), sehe ich nicht nur ein, dass dasselbe eine von drei Linien eingeschlossene Figur ist, sondern ich sehe zugleich jene drei Linien mit meinem geistigen Blicke gleichsam vor mir, und das ist es eben, was ich anschaulich vorstellen (imaginari) nenne. Wenn ich dagegen an ein Tausendeck denken will, so sehe ich zwar eben so gut ein, dass dasselbe eine von tausend Seiten gebildete Figur ist, wie ich einsehe, dass ein Dreieck aus drei Seiten besteht, aber ich stelle mir nicht in der gleichen Weise jene tausend Seiten anschaulich vor (imaginor), oder mit anderen Worten, ich sehe sie nicht gleichsam vor mir; und obgleich ich in diesem Falle infolge der Gewohnheit, immer etwas anschaulich vorzustellen (imaginandi), so oft ich an ein körperliches Ding denke, mir wohl irgendeine Figur in verschwommener Weise vergegenwärtige, so ist doch dieselbe offenbar nicht ein Tausendeck, da sie sich in keiner Weise von jener Figur unterscheidet, die ich mir ebenfalls vergegenwärtigen würde, wenn ich an ein Zehntausendeck oder an eine beliebige andere Figur von recht vielen Seiten dächte; auch trägt sie nichts bei zur Erkenntnis jener Eigenschaften, welche ein Tausendeck von anderen Vielecken unterscheiden. Wenn dagegen vom Fünfeck die Rede ist, so kann ich zwar seine Gestalt ebenso wie jene des Tausendecks begreifen (intelligere), ohne das anschauliche Vorstellen (imaginari) zu Hilfe zu nehmen; aber ich kann mir dieselbe auch anschaulich vorstellen (imaginari), indem ich nämlich mein geistiges Auge auf die fünf Seiten sowie auf die von denselben umschlossene Fläche wende. Und ganz klar bemerke ich hierbei, dass es einer ganz eigenartigen Anstrengung meines Geistes bedarf, um etwas anschaulich vorzustellen (ad imaginandum), welche ich beim Begreifen (ad intelligendum) nicht anwende; eben diese hinzukommende Anstrengung charakterisiert klar den Unterschied zwischen anschaulichem Vorstellen (imaginationem) und rein begrifflichem Denken (intellectionem puram)” [Descartes 1641: VI]. Es wäre überflüssig, entsprechende Stellen aus Philosophen späterer Jahrhunderte anzuführen; fiele doch hierbei, eben wegen der fast unübersehbaren Zahl derartiger Stellen, die Wahl äußerst schwer. Sogar außerhalb der Philosophie ist der Unterschied anschaulichen und unanschaulichen Vorstellens wenigstens indirekt bezeugt, indem man gar häufig davon hört, dass man sich dieses oder jenes (Gott, ein Atom, den Lichtäther, eine Billion u.dgl.) „nicht vorstellen könne”, dass diese oder jene Vorstellung, z. B. jene eines runden Vierecks, „unvollziehbar” sei – Wendungen, welche nichts anderes bedeuten können, als dass man sich Gott, ein Atom u.s.w. nicht anschaulich vorstellen könne (vgl. [Höfler und Meinong 1890: § 15. IV]).

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Notes

  1. 1.

    Ich weiß sehr wohl, dass die Scheidung des zum Aufbau einer Phantasievorstellung verwendeten reproduzierten Vorstellungsmaterials in zwei Teile im Sinne obiger Ausführungen etwas z. T. Willkürliches an sich hat; auch dürfte es manchmal nicht leicht zu entscheiden sein, was als Substratvorstellung dem übrigen Material gegenüberzustellen sei. So z. B. wenn ich, um mir einen Klang von der Höhe des dreigestrichenen C und der Klangfarbe einer Posaune vorzustellen (ob dies anschaulich möglich sei, bleibe dahingestellt), die Vorstellungen eines von einer Pikkoloflöte angeblasenen dreigestrichenen C und eines Posaunentones von der Höhe eines eingestrichenen C reproduziere. Hier kann mit gleichem Rechte bald die eine, bald die andere, oder sowohl die eine wie die andere Vorstellung auf die Bezeichnung als Substratvorstellung Anspruch erheben. Aber derartige Grenzfälle beweisen nichts gegen die sonstige Brauchbarkeit des Begriffs einer Substratvorstellung; zugunsten desselben möge an die Tatsache erinnert werden, dass wir bei bewussten Neubildungen von Vorstellungen in der Regel von den in der betreffenden Beschreibung mit einem Hauptworte bezeichneten (reproduzierten) Vorstellungen ausgehen, die eben deshalb als der Ausgangspunkt des ganzen psychischen Prozesses füglich als Substratvorstellung bezeichnet werden können.

  2. 2.

    Die vorgestellten Urteile spielen nicht nur in der hier vertretenen Auffassung vom Wesen der begrifflichen Vorstellung eine grundlegende Rolle, sondern scheinen auch sonst im psychischen Leben eine ganze Reihe höchst wichtiger Funktionen zu erfüllen, z. B. bei den sogenannten wahrscheinlichen Urteilen. Die nähere Ausführung dieser Ansicht von der Bedeutung der vorgestellten Urteile sowie die eingehende Besprechung des Verhältnisses, in welchem dieselben zu Meinongs „Annahmen“ stehen, bleiben einer besonderen Veröffentlichung vorbehalten [1902].

  3. 3.

    Vgl. [Höfler und Meinong 1890: § 43 gegen Schluss].

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Brożek, A., Jadacki, J., Stadler, F. (2017). Über begriffliche Vorstellungen. In: Brożek, A., Jadacki, J., Stadler, F. (eds) Kasimir Twardowski. Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis, vol 25. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-44474-1_5

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-319-44474-1_5

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