Zusammenfassung
Bisher wurde das Romanschaffen Henrys weder durch Übersetzungen noch eine Gesamtdarstellung im Deutschen zugänglich gemacht. Dies geschieht hier in Verbindung von immanenter Narrativität und lebensphänomenologischer Sprachanalyse, die sowohl eine Metagenealogie eines jeden Individuums nachzeichnet wie den originären Zusammenhang von Pathos und Imaginärem als vor-sprachliche Verwirklichung jeder existentiellen oder geschichtlichen Biographie. Die Fiktion des Romans als literarische Form bildet daher eine Weiterführung der vorherigen Analysen zur Imago mundi und der Ideologie, um auch der Literatur und Poesie einen Ort innerhalb der Lebensnarrativität in ihrer Notwendigkeit zuweisen zu können.
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Notes
- 1.
Allerdings ist der „Naturalismus“ ebenso betroffen, wie ein Vergleich mit Henrys Schrift Philosophie et phénoménologie du corps. Essai sur l’ontologie biranienne (Paris, PUF 1965, 304 ff.) zeigt. Diese Untersuchung erschien zwar erst zwei Jahre nach L’essence de la manifestation, wurde aber vor letzterem Werk redigiert und bietet so nach der Diplomarbeit über Spinoza von 1944–46 den frühesten philosophischen Text Henrys nach Le Jeune Officier. Vgl. auch schon unsere Einleitung für die Werkgenese insgesamt.
- 2.
Für weitere biographische und intellektuelle Hintergründe aus diesen Jahren wird man die Veröffentlichung des Journal abwarten müssen, das M. Henry bereits zu Kriegszeiten begonnen hatte und bis in diese genannte Übergangszeit reicht; vgl. einige Auszüge daraus in: J.-M. Brohm u. J. Leclercq (Hg.), Michel Henry (Les Dossiers H), Lausanne, L’Age d’homme 2003, 7–50: „Michel Henry (1922–2002). Entretien en manière de biographie“ (Anne Henry im Gespräch mit Jean Leclercq). Ebenfalls I. Thireau-Decourmont, „Michel Henry – innere Biographie, heimliche Biographie“, in: R. Kühn u. S. Nowotny (Hg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, Freiburg/München, Alber 2002, 11–19 (mit internationaler Bibliographie).
- 3.
Vgl. vor allem „Narrer le pathos“ (1991), in: M. Henry, Phénoménologie de la vie, t. III: De l’art et du politique, Paris, PUF 2004, 309–324; „Pathos und Sprache“ (2001), in: M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 64–90; Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg/München, Alber 2010. Vgl. auch unseren folgenden Teil 4 dieses Kapitels.
- 4.
Paris, Gallimard 1976 (Liebe bei geschlossenen Augen), der den in Frankreich angesehenen Literaturpreis Renaudot erhielt.
- 5.
Paris, Gallimard 1981 (Der Königssohn).
- 6.
Paris, Albin-Michel 1996 (Der indiskrete Leichnam).
- 7.
Vgl. M. Henry, Romans, La Versanne, Encre marine 2009.
- 8.
Vgl. hierzu bes. J. Scheidegger, „Michel Henrys Lebensphänomenologie und Hermeneutikkritik“, in: Studia Phaenomenologica 9 (2009) 59–82.
- 9.
Vgl. auch J.-P. Madou, „Narration romanesque et écriture phénoménologique chez Michel Henry“, in: A. Jdey u. R. Kühn (Hg.), Michel Henry et l’affect de l’art. Recherches sur l’esthétique de la phénoménologie matérielle, Leiden-Boston, Brill 2010, 221–235. Henrys Stilmittel seien vor allem die Tautologie und das Oxymoron, insofern das „Leben“ eben weder Sein noch Seiendes oder das Selbe und das Andere ist, sondern Grund (Fond) wie Abgrund (Abîme) in der steten ipseisierenden Ankünftigkeit seiner selbst (venue en soi), das heißt Eidos und Faktizität bzw. Apriori und Immer-schon-Da in Einem. Dadurch könne ein „Licht“ vom Inneren des Fleisches selbst her aufleuchten, welches sich über alle Dinge verbreite. Somit springen die Romane unmittelbar in das absolute Leben selbst ein, indem sie über die narrative Fiktion einen Raum des Imaginären für diese lebendige Unmittelbarkeit eröffneten, welcher auch erkläre, wie das Leben sich selbst dann noch wieder ergreifen könne, wenn es am Ende seiner selbst zu sein scheint, wie die zerstörte Stadt Aliahova oder die Kranken im Roman Le fils du roi (1981). Siehe auch zum Vergleich J. Hatem, „L’art comme phénoménologie de la subjectivité absolue: Michel Henry et Balzac“, in: Studia Phaenomenologica 9 (2009) 249–268.
- 10.
Paris, Grasset 1987 (dt. Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München, Alber 1994).
- 11.
- 12.
Le Fils du roi (1981), 134. Für die Eckhartbezüge im gesamten Werk Henrys vgl. R. Kühn u. S. Laoureux (Hg.), Meister Eckhart – Erkenntnis und Mystik des Lebens. Lebensphänomenologische Forschungsbeiträge, Freiburg/München, Alber 2005, bes. Teil I-II.
- 13.
- 14.
Bedeutender russischer Dichter und Literaturhistoriker (1891–1938), der in einem Straflager Stalins an Fleckfieber umkam; vertreten durch die Romanfigur Ossip in L’amour les yeux fermés, 128 ff., der eine entsprechende Literatur- und Kunstästhetik im Gespräch mit dem Großkanzler und der Hauptfigur Sahli vorträgt. Vgl. auch Die Barbarei (1994), 347.
- 15.
Vgl. J. Hatem, Le sauveur et les viscères de l’être. Sur le gnosticisme de Michel Henry, Paris, L’Harmattan 2004, 163–186: „Gnose et paradis. Kafka et Henry dans le Grand Théâtre d’Oklahoma“ (Kap. VII); J. Leclercq u. N. Monseu, „Ce sont les philosophes qui font les écrivains: Michel Henry le postkafkaïen“, in: Figurations de l’auteur. L’écrivain comme ‚objet’ culturel (Colloque Université Catholique de Louvain-la-Neuve, Mai 2010; im Erscheinen). Gelegentlich zitiert Henry auch den italienischen Schriftsteller Pavese; vgl. Affekt und Subjektivität (2005), 157; Inkarnation (2002), 301.
- 16.
L’amour les yeux férmés (1976), 131.
- 17.
S. 182; vgl. hierzu auch „Mitpathos als Gemeinschaft“, in: M. Henry, Affekt und Subjektivität (2005), 140–161: Kap. II,8. Sofern es sich hierbei immer auch um eine leiblich-sensuelle oder erotische Begegnung handelt, ist der Einfluss kierkegaardscher Analysen vorauszusetzen; vgl. auch unsere spätere Anm. 70.
- 18.
1859–1941, bekannt für sein Hauptwerk De l’angoisse à l’extase, 2 Bände, Paris, Alcan 1927–28; vgl. im Deutschen auch: Der Geisteszustand der Hysterischen (Die psychischen Stigmata), Leipzig/Wien, Deuticke 1924, wo sich bereits einzelne Kapitel über Anästhesien, Amnesien, Abulien, Bewegungsstörungen und Charakterveränderungen befinden, die im genannten Hauptwerk weiter differenziert werden. Mit Bezug auf Henrys Roman vgl. S. Brunfaut, „Le Fils du roi comme roman de l’imaginaire: Michel Henry, lecteur de Pierre Janet“, in: A. Jdey u. R. Kühn (Hg.), Michel Henry et l’affect de l’art (2012), 199–220.
- 19.
Vgl. dazu des Näheren M. Henry, Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris, PUF 1985, 295–342: „Les dieux naissent et meurent ensemble“. Neben P. Janet sind daher bes. auch die Ausführungen zu Nietzsche, Schopenhauer und Freud aus diesem Buch als phänomenologischer Hintergrund zum „Trieb“ als Kraft, Affekt und Energie im Sinne phänomenologischer „Potenzialität“ heranzuziehen. Dazu auch unsere vorheriges Kap. I,3–4.3.
- 20.
Die Barbarei (1994), 343.
- 21.
Le Jeune Officier (1954), 161.
- 22.
Ebd., 97; für Bezüge im Roman zu den genannten idealistischen Philosophien vgl. J. Hatem, Le sauveur et les viscères de l’être (2004), 93–162: „L’esprit dans l’immonde. Le Jeune Officier de Michel Henry“, hier 97 ff. Michel Henry hat diesen Kategorienumsturz nach seinem Hauptwerk L’essence de la manifestation (1963) in seinem Marx-Buch von 1976 in Auseinandersetzung mit derselben Tradition des Weiteren ausführlich analysiert; vgl. dazu auch R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, Kap. II, 6: „Kategorialität und praktische Wahrheitsgenese“ (S. 176–207).
- 23.
Diese Kritik des AT findet sich auch als „Gesetzeskritik“ im Spätwerk Henrys wieder; vgl. „Ich bin die Wahrheit“ (1997), 248 ff.; Christi Worte (2010), 142 ff. Über den Zusammenhang von Aszese und Christentum äußert sich Henry bereits nuanciert in Philosophie et phénoménologie du corps (1965), 286 ff.
- 24.
In seiner philosophischen Magisterarbeit Le bonheur de Spinoza (1944–46), die diesem Roman vorherging, fällt in der Tat der Ausdruck vom „idealistischen Realismus Spinozas“: „[Spinoza] setzt sowohl die Existenz eines absoluten Wesens wie die Möglichkeit seiner Erkenntnis, ohne es durch eine subjektive Auffassung zu entstellen.“ Vgl. M. Henry, Le bonheur de Spinoza, suivi de „Étude sur le spinozisme de Michel Henry“ par J.-M. Longneaux, Paris, PUF 2003, 37, sowie unsere Einleitung.
- 25.
Vgl. Der Begriff Angst. Vorworte (Gesammelte Werke, 11. u. 12. Abteilung), Gütersloh, Mohn 1983, 71; dazu auch M. Henry, Inkarnation (2009), Kap. 39.
- 26.
Auch im Spätroman Le cadavre indiscret (1996), 159 f., heißt es kritisch-ironisch gegenüber einer Gesprächspartnerin, die in die aufzudeckende Mordaffäre verwickelt ist, vonseiten des Detektiven Johannes Michel: „Sie werden doch wohl nicht behaupten, dass Platon, der Begründer des abendländischen Denkens, welches sowohl das Ihre wie das meine ist, den Kopf verloren hatte (avait perdu la raison)!“ Der Kontext bezieht sich dabei gerade auch auf die platonische Ideenlehre als „Wiedererinnerung“, was für den Leser dieses „Kriminalromans“ natürlich doppelsinnig sein muss.
- 27.
- 28.
Vgl. auch M. Henry, Affekt und Subjektivität (2005), 93 ff., zum Zusammenhang von Phänomenologie und Psychoanalyse, sowie auch unser vorheriges Kap. I,3.3.
- 29.
Zur „Selbststeigerung“ in diesem Sinne vgl. besonders M. Henry, Die Barbarei (1994), 281 ff. u.ö. Dass der Tod hierbei nicht ausgeklammert wird, zeigt deutlich die Meditation über eine tote Ratte (bíos) – „mehr als das Nichts“ – als auch unsere letzte eigene Erprobungsrealität in Le Jeune Officier (1954), S. 181 f.
- 30.
Vgl. „Narrer le pathos“ (2004), 317 f.
- 31.
Vgl. das Interview J. de Thors mit M. Henry von 1977 über diesen Roman: „Une politique du vivant“, in: M. Henry, Auto-donation. Entretiens et conférences, Paris, Beauchesne 2004, 223–235. Dazu auch die Interpretation dieses Romans von F.P. DeSanctis, „L’étranger, la Cité. Pour des résistances sensées dans une communauté pathétique“, in: Le Portique. Revue de philosophie et sciences humaines 25 (2010) 26–42, wobei bes. der Aspekt des sozialen Zusammenhangs von Stadt und Gemeinschaftlichkeit unterstrichen wird.
- 32.
Es handelt sich um eine bereits erwähnte literarische Verarbeitung der Kultur- und Kunstauffassung Ossip Mandelstams; vgl. zu seinem Leben auch den Bericht seiner Frau Nadejda Mandelstam, Contre tout espoir, 3 Bände, Paris, Gallimard 1972–75; Das Jahrhundert der Wölfe, Frankfurt/M., Suhrkamp 1971. Als Jonathan taucht Ossip auch im späteren Roman Le Fils du roi (1981) auf, wo er das Schicksal seiner Mitgefangenen zu transfigurieren vermag.
- 33.
Vgl. auch das entsprechende Schlusskapitel in Die Barbarei (1994), welches mit „Untergrund“ betitelt ist, S. 365–373.
- 34.
Vgl. etwa eine parallele Schilderung des barocken Brunnens „Vier Quellen“ in Rom ebd., 287 ff. mit ähnlichen Beispielen in L’amour les yeux fermés (1976), 44 ff.
- 35.
„Une politique du vivant“ (2004), 229; vgl. auch Die Barbarei (1994), Kap. 7: „Die Zerstörung der Universität“ (S. 314–364). Letztlich zieht sich dieses Thema durch all seine Romane als die entscheidende phänomenologische Narrativität.
- 36.
Vgl. „Une politique du vivant“ (2004), 225; dazu auch J. Lambert, „’Un monde par essence esthétique’. L’art comme mémoire et identité dans L’amour les yeux fermés de Michel Henry“, in: G. Jean, J. Leclercq u. N. Monseu (Hg.), Michel Henry. La vie et les vivants. (Re-)lire Michel Henry, Louvain, Presses Universitaires 2010, 367–377; M. Garcia-Baró, „The black river that feeds all. A piece of literature (L’amour les yeux fermés) expanding Michel Henry’s philosophy“, in: J. Hanson u. M.R. Kelly (Hg.), Michel Henry and the Affect of Thought, London-New York, Continuum 2013, 45–63, sowie unsere letzte Anm. 78.
- 37.
Vgl. bes. zur Architektur auch R. Kühn, Ästhetische Existenz heute. Zum Verhältnis von Leben und Kunst, Freiburg/München, Alber 2007, Teil III „Orte“ (S. 75–140); F.P. DeSanctis, „L’élan du monument vers le ciel. Le statut d’une esthétique architecturale chez Michel Henry“, in: A. Jdey u. R. Kühn (Hg.), Michel Henry et l’affect de l’art (2012), 267–284. Außerdem N. Schunadel, „Éléments pour un renouveau des structures de l’imaginaire: Gilbert Durand et Michel Henry“, in: Iris 31 (2010) 21–38.
- 38.
„Une politique du vivant“ (2004), 228; vgl. auch „Narrer le pathos“ (2004), 312 ff.
- 39.
Vgl. auch R. Gagnon, „La philosophie de la chair de Michel Henry: vers une onto-phénoménologie de l’individualité“, in: Symposium 14 (2010) 45–63; M. Dubois, „L’acte esthétique de la création: enjeux et formes d’une ‚péthique’ moderne“, in: G. Jean, J. Leclercq u. N. Monseu (Hg.), Michel Henry. La vie et les vivants. (Re-)lire Michel Henry (2010), 391–400.
- 40.
„Une politique du vivant“ (2004), 232.
- 41.
Vgl. ebd., 233 f.
- 42.
Ebd., 224. Vgl. dazu auch J. Hatem, „La vie réfléchie ou pourquoi des romans?“, in: J.-F. Lavigne (Hg.), Michel Henry. Pensée de la vie et culture contemporaine, Paris, Beauchesne 2006, 301–313, hier 301 ff. (Nachdruck in: J. Hatem, L’art comme subjectivité autobiographique de la subjectivité absolue, Paris, Orizons, chez L’Harmattan 2008, 167–177: „Affectivité et théorie du roman“).
- 43.
Vgl. ebenfalls M. Henry, Affekt und Subjektivität (2005), 73 ff. („Pathos und Sprache“); F. Seyler, Eine Ethik der Affektivität: Die Lebensphänomenologie Michel Henrys, Freiburg/München, Alber 2010, III,2: „Die Ethik der Affektivität als Übersetzungspraxis“ (S. 190–210).
- 44.
- 45.
Für die nachweisbaren Parallelstellen im NT vgl. J. Hatem, „La christologie immanente dans Le Fils du roi de Michel Henry“, in: Revue des Lettres et de Traduction 1 (Kaslik/Libanon 1995), 109–149, hier 117 f. (Nachdruck in: J. Hatem, Théologie de l’œuvre d’art mystique et messianique. Thérèse d’Avila, Andreï Roublev, Michel Henry, Brüssel, Lessius 2006, Kap. III,1–2: „Michel Henry et le roman messianique“ sowie „Le salut par la Vie: Le Fils du roi“, S. 275–314 u. 315–401).
- 46.
Vgl. Inkarnation (2002), 228 ff., zum nicht erinnerbaren Leben, welches allein in der „Fleischlichkeit“ unseres rein phänomenologischen oder affektiven Leibes ohne Vorstellung gegeben ist.
- 47.
Vgl. Le Fils du roi (1981), 61 u. 205 mit Bezug auf die kranken Frauen Marietta und Lucile; bes. zu Luciles Vermählungsangebot an José ebd., 158 u. 183, wobei Henry wohl auf eine Romanfigur bei Chateaubriand zurückgreift: J. Hatem, „L’Énigme de Lucile. Michel Henry et Chateaubriand“, in: J. Hatem (Hg.), Michel Henry. La Parole de la vie, Paris, L’Harmattan 2003, 73–84.
- 48.
Vgl. beispielsweise G. Deleuze u. F. Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Band 1, Frankfurt/M., Suhrkamp 1974 (franz. Original 1972, erweitert 1980). Zum Vergleich heranzuziehen wären auch entsprechende Romane des österreichischen Erzählers und Dramatikers Thomas Bernhard; vgl. T. Greite, Bernhard und die Antipsychiatrie. Eine Untersuchung zur Erzählung „Gehen“ im diskursgeschichtlichen Kontext der psychiatrischen Anstalt „Am Steinhof“, Würzburg, Königshausen & Neumann 2010.
- 49.
In einer Nebenepisode des Romans Le cadavre indiscret (1996), 38–41, wird ähnlich durch das Lachen der jungen („depressiven“) Frau Natacha als Partnerin des Detektiven Johannes Michel „die große therapeutische Debatte des 20. Jahrhunderts“ beendet. Dies hindert Henry nicht daran, durch den Mund desselben Detektiven sein „brüderliches Hingezogensein“ zu allen „Depressiven“ auszudrücken. Denn „gibt es bei ihnen nicht etwas Wesentlicheres als diese Welt, eine Wahrheit, auf die hin sie sich mit all ihren Kräften ausrichten und ohne die sie nicht leben können“ (S. 123 f.)? Die Aufhebung der „Therapie“ besteht mithin – wie bei José – darin, im Sich-Überfluten-Lassen durch die Kraft des Lebens dessen Glück zu erfahren.
- 50.
Vgl. Christi Worte (2010), 115 ff. u. 142 ff., über die radikal phänomenologische Wirklichkeit, das nicht welthafte „Wort Gottes“ als „Christus“ oder johanneischen „Logos“ in unserem Inneren (Herzen) zu vernehmen. Für die weiteren theologischen Konsequenzen hieraus: A. Vidalin, La Parole de la Vie. La phénoménologie de Michel Henry et l’intelligence chrétienne des Écritures, Paris, Parole et Silence 2006; R. Kühn, Selbstoffenbarung Gottes als Leben. Religionsphilosophie und Lebensphänomenologie, Würzburg, Echter 2009.
- 51.
Vgl. Affekt und Subjektivität (2005), 156 f. (Kap. II, 4: „Mitpathos als Gemeinschaft“), sowie schon unser Kap. I,3.2–3.
- 52.
Vgl. M. Henry, „Narrer le pathos“ (2004), 313 ff., sowie auch B. Forthomme, „La folie est-elle affectivité?“, in: A. David u. J. Greisch (Hg.), Michel Henry, L’Épreuve de la vie, Paris, Cerf 2001, 79–94, sowie K.H. Witte, Zwischen Psychoanalyse und Mystik – psychologisch-phänomenologische Analysen, Freiburg/München, Alber 2010, worin die weitgehend strukturelle Ausblendung eines „mystischen Äquivalents“ auch in der Psychoanalyse unter Berücksichtigung lebensphänomenologischer Elemente nachgezeichnet wird.
- 53.
Vgl. den schon angeführten Text „Mitpathos als Gemeinschaft“ (Anm. 51), wo es zusammenfassend heißt: „Wir können mit allem leiden, was leidet; es gibt ein Mit-pathos, welches die weiteste Form jeder denkbaren Gemeinschaft ist“ (Affekt und Subjektivität, 2005, 161). Ähnlich auch das Kapitel über den „mystischen Leib Christi“ in „Ich bin die Wahrheit“, 355 ff. Für eine philosophische Analyse dieses Gemeinschaftsaspekts im Zusammenhang mit einer Ur-Ipseität vgl. auch B. Kanabus, Généálogie du concept henryen d’Archi-Fils. La hantise de l’Origine, Hildesheim-Zürich-New York, Olms 2010. Zur Bedeutung der Eucharistie vgl. auch M. Henry, „Das Sakrament der Eucharistie und die Phänomenologie in der gegenwärtigen philosophischen Reflexion“, in: Religio und passio. Texte zur neuren französischen Religionsphilosophie (Hg. R. Kühn), Würzburg, Echter 2014, Text II,11; R. Kühn, Gabe als Leib in Christentum und Phänomenologie, Würzburg, Echter 2004, 81 ff.
- 54.
Christi Worte (2010), 151, mit Bezug auf Joh 6,53 ff.
- 55.
Vgl. M. Henry, Inkarnation (2002), Kap. 5: „Das Kriterium der Sprache. Entscheidender Vorsprung und Grenzen der phänomenologischen Sprachdeutung“ (S. 73–77); Christi Worte (2010), Kap. VII: „Sprache der Welt, Sprache des Lebens“(S. 85–97), bzw. auch unsere vorherige Anm. 3.
- 56.
Als Leitfaden einer solchen Literaturästhetik dient Henry dabei die Musik, welche frei ist von signitiven Referenzen in der Welt; vgl. „Narrer le pathos“ (2004), 317 f., sowie: „Dessiner la musique – théorie pour l’art de Briesen“, in: M. Henry, Phénoménologie de la vie, t. III (2004), 241–282; Voir l’invisible (1988), 191–203: „Musique et peinture“. – Dazu J.-M. Longneaux, „Une phénoménologie du dessin: Michel Henry et l’art abstrait“, in: A. Jdey u. R. Kühn (Hg.), Michel Henry et l’affect de l’art (2012), 133–156. Allerdings wird in diesem Beitrag die Kritik erhoben, dass sich im Sinne Schopenhauers und Henrys das Ur-Leiden des Lebens nicht nur in der Musik immanent erprobt, sondern dieselbe auch von außen sinnlich erlebt wird, um Impressionen oder Tonalitäten zu erfahren, welche das Leben in seiner Parusie nicht selbst unmittelbar von sich aus hervorbringe. So wird das transzendentale Leben zwar durchaus als konrete Möglichkeit der Erfahrung ante rem in absoluter Geltung belassen, aber doch nur im Sinne einer „ersten ontologischen Allgemeinheit“, die für ihre affektive Individuierung eine „Abhängigkeit“ bzw. „Passivität“ als „Transzendenz in der Immanenz“ benötige. Vergessen wird bei diesem Einwand (der sich bei der Diskussion von Leibvermögen und Widerständigkeit in Bezug auf die Zeichnungen Briesens gemäß dem Rhythmus der Musik wiederholt), dass die „Relation“ zum Äußeren, Entfernten oder Resistenten – sei es Musik, Zeichenblatt oder Farben – bereits ebenfalls im selbstaffektiven Wesen der Immanenz mitgegeben ist. Jede Bezüglichkeit ruht in der Selbstbezüglichkeit des Lebens, die als Ausschluss von Gegenständlichkeit in sich selbst als „Nichts“ oder „Leere“, wie wir sagten (vgl. Kap. I,4.3 u. II,6.3) die „Öffnung“ schlechthin für jegliches Gegebene ist, wobei die Interferenz von Begehren, Leib und Bewegung als innere Narrativität von Leid/Freude die jeweils konkrete Ausrichtung auf etwas hin bestimmt – und aufgrund dieser vor-intentionalen, inner-historialen Bestimmung die Konkretion als einzelne gegenständliche Abhebung „in der Welt“ erst ermöglicht. Vgl. auch M. Arcens, „Le jazz, une musique de la vie“, in: G. Jean, J. Leclercq u. N. Monseu (Hg.), Michel Henry. La vie et les vivants. (Re-)lire Michel Henry (2010), 401–410.
- 57.
Bes. für den Bereich der Poesie vgl. auch J. Hatem, „Grundlegung einer Ersten Poetologie“, in: E. Blattmann u. a. (Hg.), Sprache und Pathos. Zur Affektwirklichkeit als Grund des Wortes, Freiburg/München, Alber 2000, 173–193.
- 58.
Vgl. M. Henry, „Narrer le pathos“ (2004), 319 ff.; Affekt und Subjektivität (2005), 82 ff. („Pathos und Sprache“), sowie auch schon unser vorheriges Kap. I,4.
- 59.
Über die einzelnen Formen der Halluzinationen bei José und Charles (einem weiteren Kranken) vgl. nochmals S. Brunfaut, „Le Fils du roi comme roman de l’imaginaire“ (2012), der bes. den Zusammenhang der imaginären Strukturen in der Halluzination und der intro-pathischen Zuwendung Josés untersucht. Außerdem R. Gély, Imaginaire, perception, incarnation. Exercice phénoménologique à partir de Merleau-Ponty, Henry et Sartre, Brüssel, Peter Lang 2012, Kap. II,1: „La vulnérabilité intrinsèque du pâtir“ (S. 149–178).
- 60.
Vgl. M. Henry, Die Barbarei (1994), Kap. 2: „Die Kunst als Wissenschaftskriterium“ (S. 116–150); G. Dufour-Kowalska, L’art et la sensibilité. De Kant à Michel Henry, Paris, Vrin 1996, 7 ff.; R. Kühn, Wort und Schweigen. Phänomenologische Untersuchungen zum originären Sprachverständnis, Hildesheim-Zürich-New York, Olms 2005, 125 ff., in Bezug auf Sprachpathos, Ästhetik und Mythos.
- 61.
Zur Frage des Heils vgl. bes. auch M. Henry, Inkarnation (2002), Kap. 46: „Der Heilsweg nach Irenäus und Augustinus“ (S. 363–373), sowie auch schon unsere Einleitung.
- 62.
Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität (2005), Kap. I, 2: „Die Kritik des Subjekts“ (S. 33–50).
- 63.
Vgl. M. Henry, „Ich bin die Wahrheit“ (1997), 186 ff.
- 64.
Vgl. Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), Frankfurt/M., Klostermann 1989, 395 ff.
- 65.
Vgl. auch S. Brunfaut, Réalité. Imaginaire et affecztivité: perspectives pour une phénoménologie de la vie, Diss. Philosophie Université Catholique de Louvain-la-Neuve 2012 (im Erscheinen).
- 66.
„Narrer le pathos“ (2004), 316 u. 318 f.; vgl. dazu J. Leclercq u. M. Watthee-Delmotte, „Michel Henry. Pour un langage de la subjectivité: la pensée du roman Le Fils du roi“, in: S. Hüsch (Hg.), Philosophy and Literature and the crisis of metaphysics, Würzburg, Königshausen & Neumann 2011, 85–98.
- 67.
- 68.
Michel Henry soll in frühen Jahren bis in die Zeit seines Journal (vgl. Anm. 3) oft als zweiten Vornamen „Johannes“ gewählt haben, was hier im Zusammenhang mit der Wahrheitsproblematik bes. auch an den Evangelisten Johannes denken lässt, mit dem Henry sich somit von Anfang an identifiziert hat. Dass die „johanneische Ur-Intelligibilität“ für ihn in den letzten Schriften zum Wahrheitszugang schlechthin wird, das heißt für alle Individuen diesseits von jeglicher theoretischen Disziplin, zeigt das Schlusskapitel von Inkarnation (2002) mit dem Titel: „Über Phänomenologie und Theologie hinaus – die johanneische Ur-Intelligibilität“ (S. 399–414). Damit bewegt sich auch dieser „Kriminalroman“ im spezifischen Rahmen des lebensphänomenologischen Wahrheitsverständnisses als „innere Offenbarung“, was auch daran sichtbar wird, dass er 1996 zeitgleich mit C’est Moi la Vérité (dt. 1997 „Ich bin die Wahrheit“) veröffentlicht wurde.
- 69.
- 70.
Mehrere Episoden dieses Romans spielen am Meer, so dass die Meereswellen nicht nur überhaupt zur Metapher für die „Lebensmacht“ werden (S. 35 ff., 145 ff.), sondern Henry die Natur insgesamt narrativ-poetisch evoziert, um jene „Kraft“ zu charakterisieren, welche auch die menschlichen Leiber durchströmt (S. 46, 144, 204). Vgl. dazu auch M. Henry, Voir l’invisible (1998), 228–246: „L’art et le cosmos“; R. Kühn, Natur als Leben. Entwurf einer aisthetischen Proto-Kosmologie, Freiburg/München, Alber 2011. – Auf diesem Hintergrund einer ursprünglichen Lebensaffektion, die alles einend umfasst, sind auch die vielfältigen, meist nur kurz geschilderten erotischen Begegnungen in Le cadavre indiscret (1996) zu beurteilen, die entweder wie „außerhalb der Zeit“ oder als eine „Erschütterung des ganzen Wesens“ stattfinden (S. 34 ff., 55, 98 f., 142, 144 f., 165 f., 179, 195, 223, 234). Dies hält Henry allerdings nicht davon ab, mittlerweile gesellschaftlich tolerierte sexuelle Praktiken wie die „Entjungferung“ von Minderjähringen kritisch zu sehen (S. 74 ff.). Eine Gesamtuntersuchung über die Erotik in Henrys Romanen fehlt bisher noch und müsste vor allem mit den entsprechenden Kapiteln 39–43 aus Inkarnation (2002) mit Rückgriff auf Kierkegaard durchgeführt werden, denn schon hier in Le cadavre indiscret (1996) heißt es S. 187: „Die Sexualität kennt nur austauschbare Individuen“, da „das Begehren der Körper […] unsere wirkliche Person nicht berührt.“ Vgl. als Vorarbeiten hierzu etwa N. Depraz, „Eros et intersubjectivité“, in: J. Hatem (Hg.), Michel Henry, la Parole de la Vie (2003), 167–189; E. Rhode, „La promesse de la nuit“, in: J.-M. Brohm u. J. Leclercq (Hg.), Michel Henry (2003), 235–245; O. Gras, „Sexualité et philosophie de la vie“, in: Kitey 1 (2010) 18–31. Denn so wie die narrative Fiktion das Lebenspathos imaginär „präsent“ setzen kann, so dürfte auch in der narrativen Erotik die Brücke zwischen einer komplexen „Phänomenologie des Fleisches“ und dem (inter-)subjektiv erprobten Liebesvollzug geschlagen werden, wie es philosophisch in den letzten Jahrzehnten auch von Merleau-Ponty, Levinas und Marion versucht wurde. Vgl. auch schon unsere Einleitung Anm. 34.
- 71.
Für eine positive Sichtweise des Sozialismus im originär marxschen Sinne als „Befreiung der menschlichen Potenzialitäten“ vgl. bereits M. Henry, Marx, Band 2: Une philosophie de l’économie, Paris, Gallimard 1976, 447–484; zur Kritik hingegen des doktrinären Marxismus als Totalitarismus und Faschismus vgl. bereits unsere Anm. 22, 27 u. 69.
- 72.
Vgl. zu dieser Kritik schon Die Barbarei (1994), 311 f.; parallel dazu gibt es im letzten Roman auch eine Kritik am Schulsystem mit der gesamtgesellschaftlich wie kulturell induzierten Gewaltbereitschaft auf Seiten der Schüler (S. 149 ff.). Auch diese Kritik am Erziehungswesen findet sich bereits in Die Barbarei (1994), 330 ff. u. 337 f.; dazu C. Meyor, L’affectivité en éducation: pour une pensée de la sensibilité, Montréal, De Boeck, 2002; J.-M. Longneaux, „La vie tributaire de l’éducation“, in: J.-F. Lavigne (Hg.), Michel Henry. Pensée de la vie et culture contemporaine (2006), 131–148.
- 73.
Über diese Heuchelei als ethisches Grundproblem im Neuen Testament wie in der Gesellschaft vgl. auch M. Henry, „Ich bin die Wahrheit“ (1997), 249 ff.; Christi Worte (2010), 20 ff.
- 74.
Christi Worte (2010), 150.
- 75.
Vgl. Le Livre des morts, das M. Henry zur Erinnerung den getöteten Kameraden aus der Zeit des Widerstandes während der deutschen Besatzung Frankreichs gewidmet hat, aber noch unveröffentlicht ist (Fonds Michel Henry an der Universität Louvain-la-Neuve). Eine Analyse der „Gemeinschaft mit den Toten“ gehört in den zentralen Untersuchungsbereich von „Mitpathos als Gemeinschaft“ (in: M. Henry, Affekt und Subjektivität (2005), 140–162), wodurch die Phänomenologie ihrerseits ihre größte Ausweitung und Umgestaltung erfährt, insofern sie alles betrifft, was in einem lebendig „ko-pathischen Bezug“ existiert. – Zur Frage des unhintergehbaren Schweigens des Lebens vgl. auch schon das Ende unseres Kap. I,4.3.
- 76.
Wir erinnern an die Verweise auf Spinoza, Meister Eckhart und Fichte aus unserer Einleitung.
- 77.
Dies entspricht den beiden Kap. 5–6 in Die Barbarei (1994), 227–269 u. 270–313.
- 78.
Le cadavre indiscret (1996), 182: „L’imagnination, quelle puissance de vérité!“ Vgl. schon unsere Anm. 36.
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Kühn, R. (2016). Henrys Romanwerk als Narration meta-individuellen Geschicks. In: Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie. Phaenomenologica, vol 218. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-21065-0_8
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