Zusammenfassung
Philosophische Kulturen – im Plural – scheint es bei Husserl ernsthaft nicht geben zu können. Es gibt nur eine philosophische Kultur, nämlich die Philosophie als strenge Wissenschaft. Und das ist die Phänomenologie als transzendentale Phänomenologie. Sie ist „gleichsam“ – wie Husserl meint – „die geheime Sehnsucht der ganzen neuzeitlichen Philosophie“ (Hua III/1, S. 133), und sie erweist sich „eo ipso [als] transzendentaler Idealismus“ (Hua I, S. 118).
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Notes
- 1.
Vgl. dazu Orth, 1999, S. 23 ff., 46 ff.
- 2.
Zu Fichte vgl. Husserls drei Vorlesungen von 1917 Fichtes Menschheitsideal (Hua XXV, S. 267–293). Leibnizens Monadetheorem ist vor allem in Husserls Cartesianischen Meditationen von 1929 präsent (Hua I, S. 134 f., 149 ff.).
- 3.
Dilthey ist früh auf Husserls Logische Untersuchungen aufmerksam geworden; Husserl brauchte länger (bis in die 20er Jahre), um die Bedeutung Diltheys zu erfassen. Den menschlichen Weltbegriff (1891) von Richard Avenarius hat Husserl früher zur Kenntnis genommen und als Transzendentalphilosoph hat er den Empiriokritizisten später – bei bleibender Anerkennung – kritisiert.
- 4.
Sein Rückgriff auf Platon zeigt verwandte Züge mit demjenigen des Neukantianismus.
- 5.
Vgl. z. B. die ‚Kaizo-Artikel‘ von 1922–1924 (Hua XXVII, S. 70 ff., 103 ff.); dazu unten Anm. 21.
- 6.
Husserl benutzt die Termini Historizismus und Historismus (auch noch in der Beilage III der Krisis, Hua VI) durchaus promiscue, obwohl der Sache nach eine Unterscheidung merkbar wird, die der von Popper – terminologisch im Elend des Historizismus ausdrücklich getroffenen – vergleichbar ist. Husserl hat hier keine feste Terminologie.
- 7.
Die ‚Konkretheit‘ dieser transzendentalen Intersubjektivität ist freilich nicht von der Art des durchschnittlichen Verständnisses (im Sinne normaler Anschaulichkeit). Konkretheit meint hier – ähnlich wie bei Hegel – die völlige Unbedürftigkeit von weiteren Fundierungen, weil sozusagen ex definitione ‚alles‘ beisammen ist. Deshalb spricht Husserl hier 1931 von „auslegende[r] Konstruktion [!] der transzendentalen Intersubjektivität“ (Hua XV, S. 384, Anm. 1). Vgl. dazu auch Orth, 1987.
- 8.
Das erinnert an Heideggers Vorliebe für ‚Vollzug‘ und ‚Verflüssigung‘, die ‚Eigentlichkeit‘ gewährleisten, weist aber auch zurück auf die Propagierung des ‚Selbstdenkens‘ und der Aktivität des Geistes im 17./18. Jahrhundert. Husserls Lehrer Franz Brentano hatte in vergleichbarem Sinne ‚eigentliche‘ (intuitive) und ‚uneigentliche‘ (bloß symbolische) Vorstellungen resp. Operationen (beispielsweise in der Mathematik) unterschieden.
- 9.
Vgl. dazu Orth, 2010. Geradezu eine Definition von ‚Kultur‘ gibt Husserl in seinen Kaizo-Artikeln: „Unter Kultur verstehen wir ja nichts anderes als den Inbegriff der Leistungen [Intentionen], die in den fortlaufenden Tätigkeiten vergemeinschafteter Menschen zustande kommen und die in der Einheit des Gemeinschaftsbewußtseins und seiner forterhaltenden Tradition ihr bleibendes geistiges Dasein haben. Auf Grund ihrer physischen Verleiblichung, ihres sie dem ursprünglichen Schöpfer entäußernden Ausdrucks sind sie in ihrem geistigen Sinn für jeden zum Nachverstehen Befähigten erfahrbar. Sie können in der Folgezeit immer wieder zu Ausstrahlungspunkten geistiger Wirkungen werden, auf immer neue Generationen im Rahmen historischer Kontinuität. Und eben darin hat alles, was der Titel Kultur befaßt, seine wesenseigentümliche Art objektiver Existenz und fungiert andererseits als eine beständige Quelle der Vergemeinschaftung“ (Hua XXVII, S. 21 f.). Zum Kulturbegriff generell vgl. Orth, 2000.
- 10.
Subtiler ist freilich Diltheys Begriff von ‚innerer Geschichte‘, wenn er beispielsweise in seinen Studien über Die Jugendgeschichte Hegels und die Entfaltung des deutschen Idealismus von „einer Vertiefung in die Innerlichkeit der geschichtlichen Welt“ spricht, die Hegel angebahnt hat (GS, IV, S. 157). Dabei spielt die religiöse Sphäre eine bedeutsame Rolle.
- 11.
Man kann von einer ‚Idealität des Sinnlichen‘ oder des bloßen Ausdrucks als solchen sprechen.
- 12.
Husserl statuiert in einem Text von 1924: „weil ein Kulturwerk zum Gemeinbesitz werden soll und dazu der Äußerlichkeit bedarf, muß die Veräußerlichung in die Intention mit aufgenommen werden und in das Werk selbst“ (Hua VIII, S. 208; vgl. 205 ff.).
- 13.
Die Variationsmethode spielt bei Husserl seit den 20er Jahren eine Rolle. Das Verhältnis von Variante und Invariante ist hier interessant mit Bezug auf die Frage, ob es eine ein für alle Mal fixierbare Invariante gibt oder ob jede Variante in Bezug auf andere als Invariante gelten kann.
- 14.
Einfache Beispiele für gebietsüberschreitende Variationen bietet das Verhältnis Gestalt-Farbe. Solches Überschreiten steht üblicherweise dem Gebot kategorialer ‚Reinheit‘ entgegen, das in dem der zu vermeidenden metabasis eis allo genos kulminiert. Aber gerade diese Metabasis erweist sich z. B. nach Ernst Cassirers Konzeption von symbolischer Formung als schöpferisches Prinzip von Sinnsetzung und Sinnentfaltung.
- 15.
Was hier „natürlich gewachsene historische Kultur“ heißt, also ‚naturwüchsige‘ Kultur, könnte auch ‚kulturwüchsig‘ genannt werden, insofern Kultur immer Kultur vorauszusetzen scheint.
- 16.
Sie zeigen in ihrer Offenheit die Offenheit der Kultur und deren originären Aufgabencharakter. Und dieser Aufgabencharakter erhält eine religiöse Konnotation; er impliziert religiöse Intentionalität.
- 17.
Man kann im Deutschen (gegen den üblichen Sprachgebrauch) ‚Besinnung‘ zunächst als ein Versehen mit Sinn, als Sinnverleihung (auffassen als) verstehen – und dann als Reflexion oder (nachträgliche) ‚Be-Sinnung‘ (ausdrücklich mit Bindestrich).
- 18.
Ganz anders ist es bei Dilthey, der uns Welt beschreibt, indem er Personen beschreibt, die Welt erfahren, und dabei auch gelingendenfalls die Strukturen beider – der Welt und der Personalität – herausarbeitet. Bei Husserl ist viel von Galilei die Rede. Aber was erfahren wir über ihn und seine Welt bei Husserl?
- 19.
Vgl. Orth, 1999, S. 145 ff.; 165 ff.
- 20.
Hua Briefwechsel VII, S. 133. Dichtung und phänomenologische Reduktion werden hier auf originelle Weise miteinander verknüpft. In den Ideen I von 1913 verweist Husserl auf die Rolle „der Kunst und insbesondere der Dichtung“ als methodischer Quellen der Phänomenologie und ihres Umgangs mit „Phantasie“ und „Fiktion“ (Hua III/1, S. 148).
- 21.
1923/24 hat Husserl in der japanischen Zeitschrift ‚The Kaizo‘ fünf Aufsätze über das Thema ‚Erneuerung‘ (jap.: Kaizo) als vor allem ethisch-kulturelles Problem Europas veröffentlicht. Sie wurden 1989 mit anderen vergleichbaren Texten Husserls (die bis 1937 reichen, also bis in die Zeit der Krisis) von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp in der Husserliana als Bd. XXVII kritisch ediert. Vgl. dazu Orth, 1993.
- 22.
Es wäre interessant, Formen solcher Selbstadjustierung kulturwissenschaftlich zu untersuchen. So ist auch Erneuerung nach Husserl nicht einmaliges Ereignis, sondern dauerndes Erfordernis.
- 23.
So heißt es in Hua XV, S. 519: „Hinsichtlich meiner und der Welt geht die Wirklichkeit jeder Möglichkeit vorher“.
- 24.
Diese ist im Zusammenhang mit dem Theorem von der „auslegenden Konstruktion“ der transzendentalen Intersubjektivität (Hua XV, S. 384) und dem speziellen Vorrang der Wirklichkeit vor der Möglichkeit (Hua XV, S. 519) zu sehen.
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Orth, E. (2014). Husserl und das Problem der philosophischen Kulturen. In: Fabbianelli, F., Luft, S. (eds) Husserl und die klassische deutsche Philosophie. Phaenomenologica, vol 212. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-01710-5_16
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